Interpretieren oder Verändern? (Vorlesung, Füllsack, 2006/07)

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Die Vorlesung geht vom 11. Feuerbach-Axiom von Karl Marx aus (MEW Bd.3):

"Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert. Es kömmt drauf an, sie zu verändern."


Philosophen haben ein menschliches Anliegen, die Welt zu verändern, sowie eine Vorstellung, wie diese aussehen sollte. Verbessern heißt dabei, ihren Ist-Zustand zu verändern und setzt voraus, dass es einen Unterschied zwischen dem Sein der Welt und dem Sollen gibt. Ein Problem ist aber, dass jemand der den ist-Zustand feststellt, diesen bereits durch seine Anwesenheit verändern kann. Bei einer beobachteten Menschengruppe, die man verändern will, kann man nicht wissen, inwiefern sie sich anders verhält als sonst, nur da man als Beobachtender oder Beobachtende anwesend ist. Dadurch kann man keine völlige Sicherheit über den ist-Zustand haben, in diesem Falle. Man bezeichnet das in der Ethnologie als den Einfluss der Ethnologie auf ihr Feld. Sozialphilosophie im Unterschied zur Klassischen Philosophie behandelt diese Spannung zwischen Sein und Sollen. Die Bearbeitung dieser Spannung, der Versuch der Veränderung des Ist-Zustandes, unterliegt immer Dynamiken und Pfadvorgaben. Als Beispiel dafür wurde in der Vorlesung das QWERTY-Phänomen genannt.


Sozialphilosophie

Unter den Sozialwissenschaften (= Gesellschaftswissenschaften), die auch gerne unter dem Sammelbegriff Kulturwissenschaften zusammengefasst werden, nimmt die Sozialphilosophie eine sehr wichtige und fundamentale Rolle ein. Dabei knüpft sie an die klassische Philosophie an und erweitert diese um den sozialen Aspekt, der eine neue Auffassung des Begriffes Individuum hervorgebracht hat. Außerdem thematisiert sie die dynamischen Prozesse und Vorgänge und versucht diese zu erklären, um so eine Basis für die Thematik aller Sozialwissenschaften zu schaffen. Charakteristisch für die Sozialphilosophie ist:


  • 1.) Erweiterung der Philosophie um Sozialen Aspekt
Die Sozialphilosophie knüpft an die Ideen der Klassischen Philosophie an, fügt aber eine weitere Dimension hinzu, die soziale Dimension, wobei die soziale Dimension als Betrachtung der Gesellschaft zum Individuum gesehen werden kann.
  • 2.) Polykontexturalität
Die Vorstellung einer besseren Welt wird so eine sozial bedingte Vorstellung, da sie immer von allen bisherigen Ideen und Veränderungen ausgeht. Der ständige Wissensfluss der Gesellschaft verursacht einen dynamischen Prozess, der das Individuum zur neuen Wissensförderung (=Veränderung) anregt.
  • 3.) Neue Auffassung von Individualität
Die Vorstellung der besseren Welt entsteht nicht individuell in Abschottung, sondern ist das Ergebnis eines Prägungsprozesses, verschiedener Werte und sind von frühester Kindheit an sozial vermittelt. Durch Sozialisation, Kulturation etc. seitens der Familie, den Freunden, den Mitschülern, Mitstudenten etc. wird das "Individuum" geprägt. So sind denn auch die Individuen nicht völlig individuell vorstellbar als vielmehr das Produkt der Reflexion des Subjekts auf sein Umfeld. All diese Merkmale prägen das Bild des Individuums in der Sozialphilosophie.
  • 4.) Kontextsteuerung
Der durch die Informationstechnologie sich im Vormarsch befindende Informationsfluss, steigert auf der einen Seite die Wissensenstehung, führt aber auf der anderen Seite zu einem Problem der effektiven Kontextsteuerung im Wandel des dabei beschleunigten dynamischen Prozesses.


Der Sozialphilosophie geht es anders als den anderen Sozialwissenschaften nicht um eine reine Beobachtung (=Soziologie), auch nicht um die reine Nutzung von Dynamiken (=Betriebswirtschaft) oder um die historische Erfassung (=Sozialgeschichte), oder um das reine Wirken auf das Individuum (=Sozialpsychologie) als vielmehr um das Erklären der Sache an sich und der damit verbundenen Kritik, womit sie der klassischen Philosophie treu bleibt. Dabei liegt ihr unter anderem folgende Überlegung zu Grunde:

Philosophische Überlegungen von Hegel

zur nicht Übereinkunft von Ist- und Soll-Zustand: In dem Moment, in dem ich arbeite, negiere ich den aktuellen Zustand. Je nachdem wie die Arbeit geschieht, verschiebt sich die Weltsicht zumindest in geringem Ausmaß durch die Arbeit veränderte Wahrnehmung. Darüber hinaus sind unentwegt politische, technische, ökonomische, etc. Dynamiken am Werk, die gemeinsam mit dem zuvor Gesagten bewirken, dass jeder positive Zustand zugleich wieder der negierte Ausgangspunkt für eine weitere Polarisierung ist. Durch jeden erreichten Soll-Zustand entstehen neue Soll-Zustände. Eine völlige Übereinstimmung des Ist-Zustandes mit dem Soll-Zustand ist deshalb faktisch nicht möglich. Diese Überlegung spiegelt sich in der wahrscheinlich von Hegel bekanntesten dialektischen Formulierung These - Antithese - Synthese (die wieder zur These wird) wieder.

Polykontexturalität

Die Polykontexturalität meint die in neuerer Zeit durch die Vielfalt der Wissensstände und allgemeine Dynamisierung des Wissenschaftsprozesses entstehende Pluralität von Kontexten. Waren etwa noch im Europäischen Mittelalter Wissen und Wissenschaft statische Begriffe, die in ihrer Relevanz von der Institution Kirche definiert wurden, so werden die Grenzen, die Wissen immer zieht, indem es auch das Nichtwissen definiert ("Omnis determinatio est negatio" Spinoza), heute permanent verschoben. Unter anderem verschiedene Auffassungen und Herangehensweisen (gerade in der Philosophie) schaffen jene Wissensvielfalt, die für den Begriff Polykontextualität wesentlich ist und natürlich auch dem Vorhaben der Veränderung Schwierigkeiten bereitet.

Content & Kontext

Sowohl der Content als auch der Kontext befinden sich in steter Veränderung. Im Laufe eines Versuchs können sich die Bedingungen desselben ändern (etwa das Ich, die individuelle Wahrnehmung oder auch wissenschaftliche Erkenntnisse...) und es findet damit eine Rekonfiguration des Content und des Kontext statt. Neuer Content wird im nächsten Moment vom nächsten Menschen als Kontext für wieder neuen Content benutzt, usw. Ein spezifischer Kontext oder Content ist immer nur perspektivisch und temporär im Zentrum. Dies muss für das Vorhaben der Veränderung beachtet werden.

Epistemologische Problematik

Die Polykontexturalität birgt vor allem eine epistemologische (erkenntnistheoretische) Problematik. In einer sich immer mehr spezialisierenden (Wissenschafts-)Welt basieren Fragestellungen in einem wachsenden Ausmaß auf einem hoch differenzierten Problembewusstsein, welches nur von Spezialisten in dem jeweiligen Gebiet entwickelt werden kann. Alle anderen haben nicht mehr die Voraussetzungen, die jeweiligen Problemlagen zu verstehen oder zu erkennen, was im weitern zu einem Unverständnis bzw. fehlender Akzeptanz mit der Beschäftigung dieser Probleme führt.

Ein simples Beispiel hierfür ist die Müllproblematik. Wenn jemanden nicht klar ist, dass das Hinauswerfen von Platikflaschen aus dem Zugfenster negative Folgen für die Umwelt haben wird, weil in der Gesellschaft noch kein Umweltschutzbewusstsein besteht, so wird er den Hinweis, dass dies nicht die beste Idee war, nicht verstehen.

Ohne die Problemlösungsschritte die einer Problemlösung vorangehen, kann man die betreffende Problemlösung nicht erkennen.

Galilei wurde dieses Problem zum Verhängnis. Er hatte zwar die Problemlösungsschritte befolgt, aber die Inquisitoren nicht. Diese konnten nicht wahrnehmen, was Galilei wahrnahm, weil diese eben nicht die Problemlösungsschritte durchgegangen waren, die zur Problemlösung führten. So konnten sie gar nicht erkennen, auch wenn sie wirklich wollten, dass sich die Planeten eigentlich um die Sonne drehen.

Wahrnehmungen werden auch durch das Gesellschaftliche Umfeld geprägt. Nur für ein als relevant wahrgenommenes Wissen kann sich auch ein Problembewusstsein entwickeln. Die Einteilung der Welt in gewusste und nicht gewusste Welt stellt somit eine Grenze des Problembewusstseins dar.


Individuum

Siehe auch Bild des Individuums.

Als Gegensatz zur Antike entwickelte sich seit dem 19. Jahrhundert vor allem durch das forschen der Sozialwissenschaften eine neue Vorstellung des Begriffes Individuum heraus. So unterliegt das Individuum heute durch den beschleunigten dynamischen Prozess einem stärkeren Einfluss durch sein Umfeld als in früheren Zeiten. Dieser verstärkte Einfluss lässt sich vorallem auf den verbesserten Wissensfluss zurückführen, der nicht nur eine Polykontexturalität mit sich bringt, sondern auch eine völlig neue Vorstellung des Wirkens des Individuums auf die Gesellschaft erfordert. Zwar bauen sowohl das Interpretieren als auch das darauf basierende Verändern auf individueller Perspektive auf, allerdings ist der Vorgang der Veränderung der Gesellschaft und das Verändern durch die Gesellschaft zu einem nahezu übergangslosen Vorgang geworden.

Das Individuum ("unteilbar") deutet, zweifelt, interpretiert, ist Subjekt und Identität. Ihm gegenüber steht das Objekt Gesellschaft, das zentrale Objekt gerade der Sozialphilosophie. Das Individuum ist mehr als die Summe seiner Teile. Gleichzeitig konnotiert der Begriff Individuum auch die analytische Teilbarkeit mit - wir können uns nichts Unteilbares vorstellen, ohne die Differenz nicht mitzudenken. Nach Descartes ("cogito ergo sum." - "Ich denke, als bin ich.") ist das Individuum/Subjekt das einzige über alle Zweifel Erhabene.

Freilich, die Sprache und somit alle Begrifflichkeiten sind sozial bedingt, das Denken aber ist immer individuell.

Einwände zu Descartes

  • Das Zweifeln Descartes' ist nicht konsequent genug. Die faktische Existenz eines wahrnehmenden und denkenden Individuums ist damit noch lange nicht bewiesen, bloß das Sein von irgendetwas. Wer sagt, dass das, das denkt, tatsächlich ich bin? Besser wäre: "Cogito ergo est" - "Ich denke, also ist etwas". Eine weitere Abwandlung Descartes', die im Zuge der Vorlesung vorgeschlagen wurde, zeigt deutlich die zuvor angesprochenen Probleme des Begriffes Individuum im Kontext der Gesellschaft: "Sumus ergo cogito" - "Wir sind, also denke ich".
  • Um zweifeln zu können, sind laut Charles Sanders Peirce bereits Sprachsysteme und Begrifflichkeiten notwendig. Die Sprache wird zur Grundvoraussetzung des Denkens. Dieser Gedanke findet auch Eingang in die Linguistische Wende.


Interpretieren oder Verändern?

Es stellt sich nun die Frage inwieweit das Individuum in diesem übergangslosen Vorgang des Wirkens und Wirken interpretieren oder verändern kann. Denn das Bedürfnis der Veränderung resultiert eben aus dem wirken der Gesellschaft auf das Individuum. Möchte nun das Individuum etwas verändern oder möchte die Gesellschaft dass, das Individuum verändert. Wer ist verursacher der Veränderung & Interpretation! Zudem stellt jede Veränderung des Individuums der Gesellschaft eine Veränderung des Individuums selbst dar! Folgendes Beispiel soll dies verdeutlichen:

Beispiel: A nimmt sich vor in 3 Jahren genau 1 Millionen Euro zu sparen um sich ein Haus zu kaufen. Drei Jahre später verfügt A über 1 Million Euro, allerdings kann er sich sein Haus nun nicht mehr kaufen, da ein Haus nun 1,3 Millionen Euro kostet.

Erklärung: A hat in diesem Beispiel seine Vorstellung von 1 Millionen Euro über die drei Jahre behalten. Er kann deshalb die Veränderung (Haus bauen) nicht durchführen. A hätte also seine Vorstellung innerhalb dieser drei Jahre von 1 Million Euro schrittweise auf 1,3 Millionen Euro ändern müssen. Er hätte also seine Veränderung durch wieder durch die Gesellschaft ändern lassen müssen!

Kontextsteuerung

funktioniert ohne Mahnung oder Zwang. Es gilt vielmehr Dynamiken und ihre Richtungen zu erkennen (vgl. auch Polykontexturalität). Diese sind einzuberechnen und unter Umständen auch zu nutzen, etwa um Multiplikationsprozesse auszulösen oder anderes. Man hat also nicht (mehr) konkrete statische Objekte vor sich, sondern starken Veränderungen unterliegende Objekte, auf deren Veränderungsprozessen das Augenmerk liegen muss.

Andererseits können/wollen Weltveränderungsabsichten oft nicht auf Entwicklungen, Revisionen oder Prozesse warten (etwa die Entstehung eines Problembewusstseins).

Begrifflichkeiten geben Möglichkeiten zu Veränderungen. Die Welt muss erst in Begriffe und Kategorien umgewandelt werden. Gleichzeitig sind Kategorien aber auch wieder Beschränkungen.

Die Schwierigkeit einer effektiven Kontextsteuerung wird in vielen Bereichen unterschiedlicher Wissenschaften sichtbar und ist auf eine andauernde Verschiebung von "Content" und "Kontext" zurückzuführen. Diese ständige Veränderung stellt unter anderem für Wirtschaftswissenschaften ein Problem dar, da sie sich gerade eben mit einem dynamischen Prozess, dem Markt, periodenbezogen auseinandersetzten. Folgendes Beispiel soll dies verdeutlichen.


Beispiel

Bei der hohen Nachfrage nach Informatikern in den 80ern, reagierte die Regierung darauf, indem sie die Gelder für diese Bereiche erhöhte. Dies endete in einem Überschuss an Informatikern. Man verringerte die Gelder also wieder. Daraufhin stieg die Nachfrage aber wieder, was wieder in eine Erhöhung der Gelder resultierte usw.


Erklärung:

Der Markt für Informatiker wurde über eine vergangene Periode beobachtet und es wurde festgestellt, das (X)Informatiker erforderlich sind um den Markt für Informatiker vollständig zu füllen. Die Regierung versuchte durch eine finanzielle Unterstützung diese Zahl möglichst genau zu erreichen. Nach einer Betrachtung der Periode von dem unterstützen der Regierung bis hin zur Zielsetzung wurde aber festgestellt das sich die Zahl der (X) Informatiker verkleinerte, woraus sich ein Überschuss der Investition der Regierung ergab. Das Problem ist, dass der Informatikermarkt so großen Schwankungen unterliegt, das aufgrund der langen Ausbildungszeit von Informatikern der Break Even Point (die optimale Zahl (X)) nicht erreicht werden kann. Die Ausbildungsperiode ist größer als die Veränderungsperiode!


Endeckt wurde dieses Phänomen am Schweinemarkt, weshalb dieses Problem auch als Schweinezyklus bezeichnet wird, ein Begriff, der aus der Wirtschaftswissenschaft kommt und ein Martktversagen ("market failure") aufzeigt. In diesem theoretischen Gedankenexperiment wird durch einseitige periodische Schwankungen im Angebot des Marktes für Schweinefleisch Kontextveränderung und -steuerung problematisiert. Es zeigt sich das die idealtypische lineare Vorstellung (= Angebot und Nachfrage pendelt sich immer auf optimalsten Punkt ein) nach dem derzeitigen Wissensstand und Berechnungen aufgrund des sich ständig verändernden Umfelds eine in vielen Bereichen sehr gute Annäherung an den Optimalwert darstellt, aber in manchen Bereichen (Märkte, die starken Schwankungen unterliegen) fehleranfällig wird.


Nur durch Austauschbarkeit in Gesellschaft, Kollektiv, ... ist Leben möglich, der Mensch ist immer grundlegend sozial konstituiert, ist auf die Gesellschaft angewiesen, ist immer Teil derselben (zoon politikon). Im Zuge unserer Spezialisierungen dürfen wir uns nicht nur auf die Spezialprodukte konzentrieren, sondern müssen auch die Tauschmöglichkeiten sehen. Man muss daran arbeiten, seine Problemlösung als relevant darzustellen, "die relative Unwahrscheinlichkeit der Korrelation von Angebot und Nachfrage in hinreichende Wahrscheinlichkeit zu verwandeln" (Füllsack S2006). Durch diese Arbeit wird eine weitere Spezialisierung erzeugt. Zusätzliche Dynamiken spielen da auch noch mit, die man am ersten Blick nicht sieht.

Diese Dynamiken gilt es dynamisch zu erfassen!