GA 40: Die Aushöhlung des Seyns (Code)
GA 40, 219-230: Erste Fassung der Handschriftseiten 31-36
Wir entnehmen schon aus diesem Fragen mit Bezug auf den dreifachen Wortstamm des Wortes Seyn, daß die Redensart von der Leere des Wortes und seiner verdunstenden Bedeutung selbst reichlich leer und oberflächlich ist. Hinzu muß allerdings eigens vermerkt werden: Wir wollen nicht das Opfer einer falschen und spielerischen Überschätzung der Etymologie werden; wir sind nicht der Meinung, man könnte schnurstracks durch Rückgang auf die Grundbedeutung des Stammverbs nun das Wesen des Seyns im Ganzen hervorzaubern. Das ist auch dann unmöglich, wenn man die Feststellung der Urbedeutungen ganz nüchtern nimmt und bedenkt, daß ein ursprüngliches, anfängliches Sagen gleichsam in der Wortwerdung noch nicht notwendig das volle Wesen des Zum-Wort-Gebrachten erschöpfen muß und erschöpfen kann. Aber andererseits vermeiden wir auch jene ebenso übereilte Ablehnung der Etymologie, die mit dem Hinweis darauf arbeitet, daß ja doch die Grundbedeutungen abgestorben seien. Damit ist das Überlebende noch nicht verständlich gemacht, denn durch bloßes Absterben entsteht nichts; und die Einheitlichkeit der verbalen Abwandlungen in der Konjugation des Zeitwortes »seyn« ist doch nicht nichts. Die Grundbedeutungen der Stammworte können aber wesentliche Anweisungen geben, gesetzt, daß wir zuvor eine zureichende Fragestellung haben und nicht vergessen, daß die Frage nach dem Ursprung der Sprache hier wesentlich hineinspielt, daß aber diese Frage ihrerseits eine metaphysische ist. Gerade die Sprachwissenschaft kann die Frage nach dem Ursprung der Sprache gar nicht stellen, geschweige denn beantworten; sie kann immer nur unter der Leitung einer schon mehr oder minder ausdrücklich gefaßten Ursprungsvorstellung die sogenannten sprachlichen Tatsachen aufsuchen, sammeln und auslegen.
Was ist nun das Ergebnis der etymologischen Betrachtung bezüglich des Wortes »Seyn«? Im Grunde doch dasselbe wie bei der Betrachtung der Wortform. Der substantivierte Infinitiv ist gleichsam die endgültige Fassung der allgemeinsten, abstrakten Bedeutung des Wortes, und die Etymologie zeigt, daß sich die anfänglich bestimmten Bedeutungen vermischt und in eben jene allgemeine Bedeutung verwischt haben, die der Infinitiv ausdrückt. So kann man die Sachlage sehen und man kann gemäß dieser Sicht die ganze Erörterung des Wortes Seyn jetzt erst recht als unergiebig zurückweisen. Aber wir müssen nicht so vorgehen. Die inzwischen schon aufgerollten Fragen haben uns stutzig gemacht. Und diese Fragen werden noch bedrängender, wenn wir festhalten, daß ja doch die ganze Grammatik fragwürdig ist hinsichtlich ihrer Eignung zu einer ursprünglichen Auslegung des Wesens der Sprache, im besonderen die Auffassung der sogenannten Infinitivform!
Am Ende ist die Betrachtung der Wortform ebenso wie dies Aufsuchen der Stammbedeutungen von entscheidender Wichtigkeit, nur daß die Art, wie das geschieht, unfruchtbar bleibt und alles Urteilen irreführt und das rechte Fragen verhindert.
Wir brechen daher die Erörterung des Wortes Seyn nicht ab als ein nutzloses Geschäft, sondern wir versuchen sie jetzt ursprünglicher anzusetzen und fortzuführen auf einem Weg, der uns erneut in das Fragen unserer Grundfrage zurückbringt.
Das Verbalsubstantivum »das Seyn« erweist sich nach der zweifachen, der grammatischen und etymologischen Betrachtung als eine Verfestigung und Aufbewahrung der abgezogensten und verwischtesten Bedeutung, die das Verbum in bezug auf alle seine verbalen Abwandlungen und seine mehrfältige Stammesherkunft überhaupt noch zuläßt. Diese verblasenste Bedeutung wird dann überdies noch logisch erklärt und gerechtfertigt, und als diese unbestimmte Bedeutung gilt sie für jede verbale Abwandlung und gilt sie erst recht wiederum für die endlose Mannigfaltigkeit des einzelnen Seienden, das jeweils in irgendeiner der verbalen Abwandlungen an- und ausgesprochen wird. So ist diese unbestimmte Bedeutung gleichwohl die geläufigste und bekannteste. Das im höchsten Maße Allgemeinste das »Abstrakteste«, faßt nun die Logik als die oberste Gattung – genus. Sofern die Ontologie das Seyn in dieser allgemeinsten Bedeutung zum Thema macht, nämlich um festzustellen, daß davon nichts weiter mehr zu sagen sei, handelt sie, wie sie sagt, vom ens in genere. Das alles ist fast von unwiderstehlicher Klarheit: diese Lehre ein sogenanntes »Gemeingut«, aber für uns eben deshalb verdächtig.
Wir brauchen noch gar nicht weit auszugreifen, um die genannten Selbstverständlichkeiten über das Wort und den Begriff »Seyn« zu erschüttern. Wir müssen nur das wirklich fest greifen, was wir bisher »allein schon« durch die »sprachliche« Betrachtung gewonnen haben.
Wir sagen das Seyn in der alltäglich geschehenden Rede ständig in den verschiedensten seiner verbalen Abwandlungen: er war, ihr seid gewesen, wir wären, waren, ... sei so freundlich und dgl., und wie oft und ständig gebrauchen wir das »ist«? Demnach verstehen wir eben doch mit diesen mannigfaltigen Abwandlungen das Seyn in einer je bestimmten und je erfüllten Weise. Seine Bedeutung ist gar nicht unbestimmt und leer; das scheint nur so, wenn wir uns an den »Infinitiv« halten und ihn gar noch zum Substantiv erheben. Allein, ist der Infinitiv das Abstrakteste, logisch verstanden: die leere Allgemeinheit der umgreifenden Gattung? Können wir den Infinitiv »das Seyn« als Genus ansetzen und diesem die aufgeführten Abwandlungen als Arten und Besonderungen unterordnen – als einzelne »Fälle«? Wir sehen ohne große Anstrengung sogleich, daß das nicht geht. Die Logik versagt hier. Der Infinitiv und demzufolge das Verbalsubstantiv sind zwar un-bestimmt. Aber die Frage ist: in welchem Sinne? Die Grammatik gibt schon durch den Namen die Deutung, daß hier die einzelnen Abwandlungen nicht mehr zum Vorschein kommen. Man hat sich unter dem Einfluß der grammatischen Deutung der Sprache daran gewöhnt, den Infinitiv und seinen negativen Charakter zu verstehen im Sinne des Nicht-mehr-Habens. Wie aber, wenn man einmal versuchte, die Unbestimmtheit des Infinitivs zu verstehen nicht als ein Nicht-mehr, sondern ein Noch-nicht; die Unbestimmtheit nicht als die der Leere, wo alles fehlt, sondern der Fülle, die sich als solche nicht auf ein einzelnes beschränkt hat, aber als solche allein kann. Und so ist der »Infinitiv« – als grammatische Bezeichnung, und das heißt immer Sprachauslegung – wider den Willen der Grammatiker zweideutig. Wenn »das Seyn« als leeres Wort gilt, dann liegt das weder im Sinn des Seyns selbst noch am Charakter des Wortes, sondern nur an einer ganz bestimmten logischen Mißdeutung und damit einer Bezugslosigkeit zum Wesen der Sprache sowohl wie zum Wesen des Seyns.
- Zur Strategie der "Frage ins Leere" siehe Sokrates, Platon und die Struktur der Bildung (bpb)
So beginnt die für uns zur Erörterung stehende Tatsache immer merkwürdiger zu werden. Das Wort Seyn ist in Wahrheit gar nicht leer, aber tatsächlich doch als solches mißdeutet. Das kann nicht Zufall sein, sowenig wie die Verkennung des Wunders der Sprache durch die Grammatik und Logik als Belanglosigkeit gelten darf. Deshalb müssen wir diesen Doppelvorgang der Aushöhlung des Seyns und der Verkennung der Sprache in seinen Hauptstadien bis in seinem letzten Grunde verfolgen.
Die Deutung des Infinitivs als abstrakt allgemeiner Bedeutung verfehlt das Wesen dieser Wortform und läßt außerdem die Beziehung zur Abwandlungsmannigfaltigkeit des Zeitwortes in völliger Unbestimmtheit. Wo sie eigens betont wird, geschieht das in einer merkwürdigen Beschränkung auf eine einzelne Verbalform des Verbums – auf das »ist«. Seyn gilt als Infinitiv zum »ist«; es ist zwar solches auch zum ich bin, du bist; gleichwohl hat das »ist« einen Vorrang. Wir fragen: 1. weshalb? 2. was besagt das wiederum rückwirkend für das Verständnis der Bedeutung von »Seyn«?
Der Vorrang des »ist« vor den übrigen Verbalformen scheint einfach in der besonderen Häufigkeit seines Gebrauchs in der Rede gegründet zu sein. Das wäre eine äußerliche Auffassung und Begründung des Tatbestandes. Zwar »ist« das »ist« sprachlich am weitesten verbreitet und allen germanischen Mundarten gemeinsam. Allein, diese weite Verbreitung ebenso wie die Häufigkeit des Gebrauchs haben in der Bedeutungsrichtung und in der Mehrdeutigkeit des »ist« ihren Grund, der noch weiter zurückreicht auf den eigenartigen Vorrang einer ganz bestimmten Weise des Sagens in der Sprache.
Wir gehen von der Mehrdeutigkeit des »ist« aus. Wenige Beispiele genügen: »Gott ist«, d. h. existiert. »Der Vortrag ist im Hörsaal 5«, d. h. findet dort statt. »Er ist aus dem Schwäbischen«, d. h. stammt daher. »Der Becher ist aus Silber«, d. h. besteht aus, ist hergestellt aus. »Der Bauer ist aufs Feld«, d. h. hinausgegangen. »Das Buch ist mir«, d. h. gehört mir. »Er ist des Todes«, d. h. dem Tod verfallen. »Rot ist backbord«, d. h. bedeutet, steht für. »Der Hund ist im Garten«, d. h. befindet sich dort. »Über allen Gipfeln ist Ruh«, heißt das: befindet sich?, herrscht?, existiert? Nein! »ist«; vielleicht noch »waltet« und doch »ist«!
Wir erfahren es schon aus dieser nackten Aufzählung, daß wir das »ist« in einem Reichtum seiner möglichen Bedeutung verstehen (von einer Leere des Seinsbegriffs keine Spur), und wir merken auch, wenngleich noch unbestimmt, wie alle diese Bedeutungen in einer Richtung irgendwie zusammenlaufen, die wir zunächst freilich schwer aussprechen können. Für eine grobe und vorläufige Kennzeichnung soll das genügen, wenn wir sagen, daß hier das »ist« immer irgendwie bedeutet: Vorhandensein — In-sich-bestehen und dgl.
- Diese nackte Aufzählung ist ein verfremdetes Abstrahieren. Inwiefern kann man darin einen Reichtum erfahren? Vgl. "Auch Kuschelbären wollen tapfer sein", "tapfer, aber chancenlos", "Tapfer wie ein Schneider".
Der Infinitiv »Seyn« wird, von diesem »ist« her verstanden, zum Titel für ein in sich selbständiges Zeitwort so wie Fallen, Kommen, Singen, Leuchten u. s. f. Wenn wir aber etwa sagen: »er ist gewesen; wir sind gegangen; sie ist gestorben«, dann finden wir das »ist« im Zusammenhang mit einem anderen Zeitwort und dessen bestimmten Formen; das »ist« hilft für die Verbalform des Zeitwortes, das Perfekt von Gehen, Sterben und Seyn selbst zu bilden. Seyn fungiert hier, wie die Grammatik sagt, als »Hilfszeitwort«.
Wenn wir sagen »das Haus ist geräumig; der Fuchs ist schlau; die Buche ist ein Laubbaum; sein Vater ist Handwerker«; dann finden wir das »ist« in einer auffallenden Stellung im Satz, nämlich zwischen dem Satzsubjekt und dem Prädikat, so zwar, daß das »ist« zwischen beiden das Band schlingt: Das »ist« hat hier den Charakter der Copula.
- "In-sich-bestehen", Existenz
- Hilfszeitwort
- Copula
So kann es nicht verwundern, daß das »ist« bei dieser dreifachen Bedeutungsleistung als selbständiges Zeitwort, als Hilfszeitwort, als Copula, sich einen eigentümlichen Vorrang sichert, und daß so sein zugehöriger Infinitiv — eben das »Seyn« — von daher sich bestimmte in seiner maßgebenden Bedeutung. Nun ist außerdem das Verhältnis dieser drei Bedeutungsrichtungen in keiner Weise aufgehellt, noch weniger ist gesagt, ob diese dreifache Kennzeichnung des Zeitwortes »Seyn« überhaupt eine echt begründbare ist. Bei dieser verworrenen und seit Jahrhunderten bestehenden Sachlage kommt es dann immer wieder dahin, daß, wo überhaupt eine Wesensbestimmung des Seyns versucht wird, entweder die erste oder die dritte Bedeutungsrichtung des »ist« eine Bevorzugung erfährt, während bezeichnenderweise die zweite und in gewissem Betracht wesentlichste überhaupt nicht erörtert wird.
- "diese dreifache Kennzeichnung des Zeitwortes »Seyn«" - wenn man das Problem so formuliert, kann man sich vieles dazu einfallen lassen. Die rhetorische Bewegung: eine Suggestivfrage.
Wenn wir die herkömmliche Auffassung des Infinitivs bedenken, dann scheint es ja auch vollkommen in Ordnung zu sein, daß sich der Infinitiv »seyn« als nachträgliche Abstraktion hinsichtlich seiner Bedeutung aus dem »Konkreten«, am unmittelbarsten und am häufigsten zugänglichen »ist« bestimmt, nämlich aus dem »ist« im Sinne von: die Erde ist (existiert), und dem »ist« im Sinne von: »die Erde ist ein Planet« (Copula) : das Sein (Existieren) als Bestimmung des Seienden im Sinne des Vorhandenen und das Seyn als Bestimmungsmoment der Aussage. Man sieht leicht,däß beide aufeinander bezogen sind, sofern die Aussage über Seiendes (Vorhandenes) aussagt. Dieses Verhältnis von Aussage (Urteil) zum Gegenstand der Aussage ist die Beziehung der Übereinstimmung, d. h. der Wahrheit. Das beides führt bei Aristoteles schon dahin, daß das »ist« noch eine weitere Bedeutung empfängt. Sie tritt uns entgegen, wenn wir betonterweise sagen: die Erde ist ein Planet, d. h. in der Tat: in Wahrheit, es ist wahr, daß die Erde ein Planet ist. Seyn hat hier die Bedeutung. von Wahrsein.
Je nach der Auffassung des Wesens der Wahrheit und damit je nach der Deutung des Satzes (Aussage — Urteil) ergibt sich eine verschiedene Auslegung des »ist« als Copula und des »ist« als »existieren« und »wahrsein«. All das wirkt sich wieder aus auf die Bestimmung des Wesens von Seyn überhaupt. So ist z. B. die Auffassung des »ist« als Copula bei Aristoteles, Leibniz, Hobbes, Kant und Hegel und Schopenhauer und Nietzsche ganz verschieden. Trotzdem bewegt sich diese Verschiedenheit in einem ganz bestimmten Umkreis von Möglichkeiten, welcher Kreis im voraus gezogen ist durch die im Verborgenen vorausherrschende, gar nicht als solche weiter beachtete und gar erörterte griechische Auffassung des Seyns.
So lehrreich es wäre, auf diese Zusammenhänge näher einzugehen, für uns ist jetzt nur das Eine wesentlich: zu sehen, wie sich die Bestimmung des Seyns vollzieht im Ausgang vom »ist«. Aufgrund der uns weithin beherrschenden Entfremdung gegenüber dem Seyn und der Seynsfrage geraten wir freilich ständig in Gefahr, Erörterungen, wie wir sie jetzt pflegen, als bloße Angelegenheit von Wortbedeutungen, als Spiel mit Worten zu mißdeuten. Um dem erneut zu begegnen, sei jetzt nur ein Hinweis darauf gegeben, wie weit die Entfremdung zum Seyn gehen und wohin sie sich auswirken kann.
(Schopenhauer, Nietzsche)
Noch weiter geht in der, in gewisser Weise seit Aristoteles vorgezeichneten Richtung, das »Seyn« aus dem »ist« des Satzes zu bestimmen und d. h. schließlich zu vernichten, eine Denkrichtung, die sich um die Zeitschrift »Erkenntnis« gesammelt hat. Hier soll die bisherige Logik mit den Mitteln der Mathematik und des mathematischen Calculs allererst streng wissenschaftlich begründet und ausgebaut werden, um so dann eine »logisch korrekte« Sprache aufzubauen, in der die Sätze der Metaphysik, die alle Scheinsätze sind, künftig unmöglich werden. So ist eine Abhandlung in dieser Zeitschrift II (1931 f.), S. 219 ff. überschrieben: »Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache.« Hier vollzieht sich die äußerste Verflachung und Entwurzelung der überlieferten Urteilslehre unter dem Schein mathematischer Wissenschaftlichkeit. Hier werden die letzten Folgerungen eines Denkens zu Ende gebracht, das mit Descartes einsetzte, für den bereits Wahrheit nicht mehr Offenbarkeit des Seienden war und demzufolge Einfügung und Gründung des Daseins in das eröffnende Seiende, sondern Wahrheit umgeleitet zur Gewißheit — zur bloßen Sicherung des Denkens, und zwar des mathematischen gegen all das von diesem nicht Denkbare. Diese Auffassung der Wahrheit als Sicherung des Denkens führte zur endgültigen Entgötterung der Welt. Die gemeinte »philosophische« Richtung des heutigen mathematischen-physikalischen Positivismus will die Begründung dieser Position liefern. Es ist kein Zufall, daß diese Art von »Philosophie« die Grundlagen liefern will zur modernen Physik, in der ja alle Bezüge zur Natur zerstört sind. Kein Zufall ist auch, daß diese Art »Philosophie« im inneren und äußeren Zusammenhang steht mit dem russischen Kommunismus. Kein Zufall ist ferner, daß diese Art des Denkens in Amerika seine Triumphe feiert. Alles dies sind nur die letzten Folgen der scheinbar nur grammatischen Angelegenheit, daß das Seyn aus dem »ist« begriffen und das »ist« je nach der Auffassung vom Satz und vom Denken ausgelegt wird.
...
Die äußerste und äußerlichste Mißdeutung des Seyns sowohl wie des Denkens hat sich neuerdings breitgemacht in der mathematischen Logik, der logistischen Mißdeutung der Sprache, der Erkenntnis und Erkenntnisgegenständlichkeit. Die Fragwürdigkeit dieses Vorhabens zeigt sich am schlagendsten in der Blindheit, in der diese angeblich klarste und wissenschaftlich strengste Philosophie sich bewegt. Sie sieht nicht den Widersinn, der darin liegt, daß ja das mathematische Denken nur eine ganz bestimmte und gegenständlich ganz leere Form des Denkens ist und als solche immer noch sowohl die Logik als die Gegenstandsbeziehung überhaupt voraussetzt, so daß mit der mathematischen Methode nie und nimmer das Denken als solches und gar das erfüllte und ursprüngliche Denken des Seyns erfaßt oder gar begriffen werden kann. Es ist nur eine notwendige Folge dieser widersinnigen Fragestellung, daß für sie alle metaphysischen Sätze Scheinsätze sind und alle Metaphysik sinnlos wird.
Aber bis in diese Widersinnigkeit hinaus behält doch noch das Wort Seyn einen Sinn, wenn auch nur den der sogenannten logisch korrekten Gesetztheit von etwas Beliebigem als im bloßen Denken Gesetzten. Außerdem sahen wir, daß das Seyn in seinen verbalen Abwandlungen, in der Unterscheidung von Vorhandensein und Copula eine Mannigfaltigkeit von Bedeutungen bekundet; daß selbst bei der äußeren Entfremdung das Wort Seyn nicht leer ist und somit die Bedeutung nicht verschwebt, sondern nur nicht mehr gefaßt werden kann, bzw. nicht mehr gefaßt sein will.
Daher gilt es jetzt, die in Frage stehende Tatsache gleichsam von einer neuen Seite zu beleuchten, indem wir den Nachweis führen, daß bei aller vermeintlichen Leere und scheinbaren Verdunstung überall ein ganz bestimmter und durchgängig herrschender Sinn dem Seyn zugesprochen ist, freilich so, daß man diesen als solchen gar nicht mehr heraushebt; ja, die Entfremdung vom Seyn und vollends von der Seinsfrage ist trotz aller Ontologie auf allen Gassen so weit gediehen, daß man gar nicht mehr begreift, was das überhaupt noch heißen soll, das Seyn habe einen Sinn.
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