Sokrates, Platon und die Struktur der Bildung (bpb)

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Als Beispiel soll ein etwas antiquiertes Thema dienen. Strukturmerkmale des Bildungsbegriffes lassen sich dabei plastisch nachzeichnen. Hier einige Ergebnisse zum Suchausdruck „tapfer“:

  1. ATX kämpft tapfer ums Wochenplus.
  2. Kuschelbären wollen tapfer sein.
  3. tapfer lächeln
  4. Sie müssen jetzt sehr tapfer sein!
  5. tapfer, aber chancenlos

Gegenüber einem solchen Potpourri erweist sich eine Testperson unter zwei Bedingungen als gebildet. Sie muss einen Unterschied zwischen den Verwendungen (1), (2) und (3) – (5) erkennen und zusätzlich sagen können, inwiefern die zweite Gruppe näher am Kern des Begriffes liegt. Die Sprachpraxis alleine reicht für diese Differenzierung nicht aus. Wer den Unterschied nicht bemerkt, kann die Sprache dennoch beherrschen. Er ist bloß, darin liegt die Pointe, ungebildet. Ihm fehlt der Sinn dafür, dass die Absichten von Kuschelbären im Vergleich zur dramatischen Abwägung des persönlichen Engagements in bedrängten Umständen peripher sind. Bildung beruht auf Distinktion. Sie versetzt in die Lage, aus einem ungefilterten Angebot prestigeträchtige soziale Bedeutsamkeit herauszufinden.

Wenn der Unterschied nicht einfach in der Tradition verbürgt ist, muss er argumentativ nachvollziehbar sein. Allerdings gibt es zahlreiche Argumentations­verfahren. Um das im herkömm­lichen Sinn gewünschte Verständnis zu erreichen, ist ein spezielles Instrument erforderlich, das ebenfalls auf die alten Griechen zurückgeht.

Das Hilfsmittel läßt sich, wie vorhin, anknüpfend an eine Auflistung präsentieren:

  • Was ist der Zweck der Übung?
  • Was ist noch zu ergänzen?
  • Was ist dabei herausgekommen?
  • Was ist im Nebenzimmer geschehen?

Offenbar werden durch die gleichlautende Partikel „was“ sehr verschiedenartige Fragen eingeleitet. Der athenische Bürger Sokrates hat eine einprägsame Verwendung für sie gefunden. Er nimmt die Worte „Was ist“ und kombiniert sie mit der Bezeichnung von (substantialisierten) Eigenschaften. „Was ist tapfer?“, „Was ist Tapferkeit?“. So entsteht eine zweifache Abstraktion: aus diversen Frageformen das „Was ist?“ und aus vielfältigen Verwendungsweisen herausgehoben das Wort „tapfer“. Sokrates hat – darauf kommt es hinaus - die philosophische Frage nach dem Wesen der Tapferkeit initiiert. Doch dabei sind wir noch nicht. Seine Intervention ist zunächst einmal befremdlich und durchkreuzt die Selbstgenügsamkeit der Zuhörerinnen, die „wissen, worum es geht“.

Sprachkundige können angeben, wann jemand „tapfer lächelt“ und vielleicht auch, wann man sagen kann, dass der ATX „tapfer ums Wochenplus kämpft“. Die provokante Frage Sokrates' lautet: Was ist diesen – und allen anderen – Verwendungsweisen des Wortes gemeinsam? Was macht Tapferkeit aus? Diese Intervention verursacht einen Konflikt, der in der Folge allen Bildungsdiskussionen zugrund liegen wird. Die Gesprächspartner des Philosophen (m/w) sehen sich befugt, aus ihrer Kenntnis der Umstände Auskunft darüber zu geben, was Tapferkeit ausmacht. Und Sokrates weist ihnen nach, dass sie nicht an alles gedacht haben, was dabei zu beachten ist. Kein Wunder, seine Was-ist-Abstraktion ist zu genau diesem Zweck angefertigt. Alltagskompetenzen werden einer prinzipiellen Prüfung unterzogen. So, wie die Geschichte durch die Jahrtausende erzählt wurde, beginnt damit der Aufstieg zu einer höheren Qualifikation. Der erste Schritt in diese Richtung führt jedoch ins Dunkel. Platon hat das im Höhlengleichnis wunderschön eingebaut. Die Aufsteiger, die in das Sonnenlicht blicken, werden zunächst geblendet.

An dieser kleinen Vignette ist das ganze Drama der humanistischen Bildungsdiskussion abzulesen. Es dreht sich um die Einschätzung der zeitweiligen Blindheit, die Sokrates dadurch verursacht, dass er den Kontrahenten die Worte aus dem Mund nimmt. Sie greifen ins Leere und sind dement­sprechend pikiert, verärgert, defensiv. Oder sie sind bereit, sich auf den neuartigen Anspruch einzulassen und wechseln die Seite. Das bedeutet, eine philosophische Ambition anzuerkennen, die Suche nach einer übergeordneten Charakterstik, die den konventionellen Episoden des Alltags Halt und Richtung verleiht.

An dieser Schnittstelle entzündet sich die Aggression des Marktes gegen die Besserwisser, die mit rhetorischen Tricks das gebräuchliche Verständnis aushebeln und umgekehrt wird dieser Ärger zum Lockmittel der anspruchsvollen Extra-Denker (m/w), die damit werben, dass sie schwierige Fragen stellen, die der normale Mitbürger (m/w) nicht schätzt. Die Anfeindung sei geradezu das Signum der Wahrheit. Die Aufgeklärten trennt ein Niveauunterschied vom Rest der Bevölkerung. Das ist ein Grundzug des klassischen Bildungsgedankens. Seine Vertreterinnen wissen, dass Tapferkeit ein hervorgehobenes, gesellschaftlich angesehenes Persönlichkeitsmerkmal ist und wenig mit Kuschelbären zu tun hat.

Manche Tätigkeiten sind zweigliedrig. Die Schaltung in einem herkömmlichen PWK verlangt: auskuppeln und den Gang ändern. So etwas ähnliches gilt auch für das vorliegende Thema. Bildung ist eine Doppelbewegung aus Distanzierung und Stufenwechsel. Die sokratische Frage durchkreuzt die Konventionen; sie definiert das Gebräuchliche als suboptimal und dazu noch konfus. Sie wendet sich jedoch nicht gänzlich davon ab. Die Polemik macht den Anfang einer Sublimation. Es soll eine Antwort auf die Frage geben, was Tapferkeit eigentlich sei. Nur mit diesem Ideal im Rücken kann die Strategie gelingen. Wie kommt man von der Kritik zur positiven Empfehlung? Den philosophi­schen Übergang will ich hier nicht behandeln. Wenn allerdings die These zutrifft, dass die beschrie­be­ne Denkfigur den klassischen Bildungsgedanken bestimmt, ist – um beim Beispiel zu bleiben – auch an dieser Stelle anzugeben, wie die vielen „Tapferkeiten“ mit der einen Tapferkeit zusammen­hängen, die einen Maßstab vorgibt. Bisher ist die Störfunktion der sokratischen Unterredungen hervorgehoben worden. Als doppelbödige Interventionen müssen sie auch Anhalts­punkte liefern.

Die positive Seite ist eine eigenartige Mischung. Erstens ist sie über beliebige Inhalte erhoben, zweitens muss sie einen Inhalt darstellen. Platon sagt: die Form der Tapferkeit. Ohne Metaphysik stellt sich die Frage, was die Gebildeten von ihr wissen und wie sie zu einem solchen Wissen kommen. Ich beschränke mich auf eine These: Dort, wo das Bildungsangebot über die Polemik und den Appell an ein Ideal hinaus konkretisiert wird, handelt es sich um Denkmuster auf sublimiertem Niveau. Bildung besteht darin, diese zu kennen, d.h. die richtige Kombination zwischen Zurückweisung der Straßenweisheit und dem Einsatz paradigmatischer Fälle zu beherrschen. Was ist dabei „richtig“? Es sind jene Strategien, die sich in einer Gesellschaft zur Bewältigung des sokratischen Schocks einpendeln. Es sind die Musterfälle, auf welche eine Sozietät zurückgreift, nachdem klar geworden ist, dass die Legitimation ihrer operativen Begriffe nicht im Alltagsgebrauch liegt und nur von einer höheren Ebene aus durchzuführen ist.

Die Provokation selbstgerechter Praktiker durch Sokrates, mit der die Überlegungen begonnen haben, ist zu einem raffinierteren, mehrfach gegliederten, Zusammenhang erweitert worden. Der Impuls ist nicht gänzlich verschwunden; er ist im Niveauunterschied festgehalten. Aber er ist in seiner Wirksamkeit zurückgebogen. Der höhere Sinn, nach dem gefragt war, liegt doch in einer Konvention: in den Regeln, die sich die Bildungsschicht der Gesellschaft gibt. Der ideen-geleiteten Kritik folgt die Einbürgerung wirklichkeits-ferner Prinzipien. Ein derart schillerndes Arrangment ist das überlieferte Bildungswesen. Es beginnt mit einer Deklassierung des Selbstverständlichen und etabliert Selbstverständliches auf einer gehobenen Ebene neu. Umgekehrt: Es beginnt mit überlieferten Standards der gesellschaftlichen Selbstdarstellung und läßt sich darauf ein, sie zu erschüttern. Von beiden Polen, dem Negativimpuls und der erwünschten Konsolidierung her gesehen, ist das Arrangment ein hybrides Ding, ein Kompromiss unter Einbeziehung der Unversöhnbarkeit. Die Mischung erweist sich als äußerst produktiv.


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