Das volle Leben

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Der konkrete Inhalt der sinnlichen Gewißheit läßt sie unmittelbar als die reichste Erkenntnis, ja als eine Erkenntnis von unendlichem Reichtum erscheinen ... Sie erscheint außerdem als die wahrhafteste; denn sie hat von dem Gegenstande noch nichts weggelassen, sondern ihn in seiner ganzen Vollständigkeit vor sich.

Aus der dreifaltigen Unmittelbarkeit des ersten Absatzes ergibt sich keine inhaltliche Spezifikation. Zu diesem Zweck greift Hegel auf den Titel des Kapitels zurück. Es geht um "sinnliche Gewissheit". Das ist eine weitere Vorgabe für das Verhältnis der Philosophie zu andersartigem Wissen. Einerseits begegnet es ganz undifferenziert, andererseits mit der Fülle jener "Erkenntnis", die uns die Sinnesorgane verbürgen.

Die Kehrseite der Unmittelbarkeit3 ist die Überbestimmtheit der Gegenstände des betrachteten Wissens. Seine Beschaffenheit schließt keinen Inhalt aus. Hegel exemplifiziert das mit dem Reichtum der Sinnesempfindungen. Er knüpft dabei an die innerphilosophische Debatte an. Seine Gedankenführung verbindet unterschiedliche Argumentationsniveaus.

  1. ein inhaltlich unspezifizierter Raster für die Diskussion des Verhältnisses von Wissensformen
  2. die Perspektive empiristischer Erkenntnistheorie
  3. die Zuordnung der unmittelbaren Wissensform (aus Punkt 1) zum empiristischen Wissensverständnis

Kurz gesagt: der Beginn bei einer unbekannten Denkweise kippt in die Auseinandersetzung mit einer bestimmten Form des "gesunden Menschenverstandes", nämlich des Glaubens an die Verläßlichkeit der Sinne. Hegel will "von dem Auffassen das Begreifen abhalten". Seine Ausführungen sollen nichts präjudizieren. Er gibt das Selbstverständnis einer verbreiteten Überzeugung wieder. Erkenntnis liegt und gründet im Sinnesapparat.

Aus dem Blickpunkt der Unmittelbarkeit ist der Unterschied noch nicht greifbar, an dieser Stelle wird er jedoch wirksam: Hegel operiert mit Erkenntnisph und Erkenntniseb. Dem philosophischen steht das erscheinende Bewusstsein gegenüber. Jedes hat seine eigenen Regeln, die Hegel kunstvoll ineinander verflicht. Am Terminus "Erkenntnis" lassen sich z.B. folgende Ebenen unterscheiden:

  1. Erkenntniseb ist, was die jeweils betrachtete Wissensform dafür hält
  2. Erkenntnisph liegt nicht fest, sie operiert mit den Thesen und Widersprüchen von Erkenntniseb
  3. Erkenntniseb/ph ist das Ergebnis der Abgleichung von (1) und (2)

Im konkreten Fall vertritt Erkenntniseb einen Empirismus, Erkenntnisph sieht zu, wie er sich in Widersprüche verwickelt und Erkenntniseb/ph korrigiert die Ausgangsvoraussetzungen. Terminologisch unterscheidet Hegel bezogen auf das erscheinende Bewusstsein (1) für es und (2) für uns. "Bewusstsein" ist allerdings auch Erkenntnisph. Den interaktiven Doppelaspekt erfasst die Formel "an-und-für-sich". (Vgl. einen Explikationsversuch von Kai Froeb)

Die Bedeutung vieler Schlüsselbegriffe in Hegels Ausführungen ist "überladen". "wahrhafte Erkenntnis" ist dreifach zu verstehen.

  • aus dem Blickwinkel des betrachteten Wissens
  • mit philosophischem Anspruch
  • als Entwicklungsprodukt zwischen den beiden ersten Betrachtungsweisen, also im Sinn des "Bewusstseins", das "zu sich" kommt

Derart mehrfache Deutungen sind das methodische Scharnier des Hegelschen Entwicklungsprozesses. Er beruht auf einem verallgemeinerten Subjektschema: das Ich steht einer Sache gegenüber und eignet sich die Sache an. Diese Schematik ist mit den Implikationen einer "radikalen Interpretation" nur teilweise verträglich. Der Sprachgebrauch von "erscheint" macht das Doppelspiel deutlich. Die sinnliche Gewissheit erscheint1 mit Recht als reichhaltig und umfassend, dennoch erscheint2 sie nur so.


zu viel versprochen




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