Das Demokratiedilemma (OSP): Unterschied zwischen den Versionen
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− | + | '''Thrasymachos:''' Wie ist's nun, sprach er, wenn ich in betreff der Gerechtigkeit eine Antwort zum besten gebe, die anders ist als alle diese und besser als sie: wozu erbietest du dich dann? | |
− | Zu was anderem | + | '''Sokrates:''' Zu was anderem, als was gebührendermaßen der Nichtwissende zu leiden hat? Und das ist: zu lernen von dem Wissenden. Dem will denn auch ich mich unterziehen. |
− | Du bist sehr liebenswürdig | + | '''Thr.:''' Du bist sehr liebenswürdig, <font color="purple">aber außer dem Lernen mußt du auch Geld zahlen</font>. |
− | Nun ja, wenn ich habe, sagte ich. | + | '''So.:''' Nun ja, wenn ich habe, sagte ich. |
− | Oh, da fehlt's nicht | + | '''Glaukon:''' Oh, da fehlt's nicht, wegen des Geldes sage es immerhin, Thrasymachos, wir alle werden dem Sokrates beisteuern. |
− | Ja, ja, das glaube ich, antwortete er, damit Sokrates es wieder macht wie gewöhnlich und selbst keine Antwort gibt, sondern die Antworten anderer aufgreift und widerlegt. | + | '''Thr.:''' Ja, ja, das glaube ich, antwortete er, damit Sokrates es wieder macht wie gewöhnlich und selbst keine Antwort gibt, sondern die Antworten anderer aufgreift und widerlegt. |
− | Wie könnte denn auch, mein Bester, sagte ich, jemand Antworten geben, der erstens nichts weiß und auch nichts zu wissen behauptet, und dem zweitens, wenn er auch darüber etwas glaubt, verboten ist, zu sagen, was er meint, von einem nicht schlechten Manne? Aber an dir ist's vielmehr zu sprechen, denn du behauptest ja, etwas zu wissen und sagen zu können. Mache es denn also so: tue mir den Gefallen und gib die Antwort, und mißgönne auch dem Glaukon da und den andern die Belehrung nicht | + | '''So.:''' Wie könnte denn auch, mein Bester, sagte ich, jemand Antworten geben, der erstens nichts weiß und auch nichts zu wissen behauptet, und dem zweitens, wenn er auch darüber etwas glaubt, verboten ist, zu sagen, was er meint, von einem nicht schlechten Manne? Aber an dir ist's vielmehr zu sprechen, denn du behauptest ja, etwas zu wissen und sagen zu können. Mache es denn also so: tue mir den Gefallen und gib die Antwort, und mißgönne auch dem Glaukon da und den andern die Belehrung nicht. |
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+ | '''Thr.:''' Das ist eben die Weisheit des Sokrates, daß er selbst nicht belehren will, sondern bei den andern herumgehen und von ihnen lernen und dafür nicht einmal sich bedanken. | ||
− | + | '''So.:''' Daß ich von den andern lerne, antwortete ich, darin hast du recht, Thrasymachos, daß du aber behauptest, ich danke dafür nicht, damit sagst du eine Unwahrheit, <font color="purple">denn ich danke, so sehr ich kann; ich kann aber nur loben, weil ich Geld nicht habe</font>. Wie gern ich aber das tue, wofern ich glaube, daß jemand gut spreche, das sollst du gar bald erfahren, falls du antwortest, denn ich glaube, daß du gut sprechen wirst. | |
− | + | (Politeia, 337d–338b) | |
== Thrasymachos im peer review == | == Thrasymachos im peer review == | ||
− | Falls wir nun | + | '''So.:''' Falls wir nun seiner Rede gegenüber die unsrige Punkt um Punkt entfalten, wie viele Vorteile andererseits das Gerechtsein hat, und dann wieder er, und dann wieder wir, so wird man die Vorteile zusammenzurechnen und zu messen haben, die wir beide an beidem angegeben haben, und wir werden dann irgendwelche Richter zur Entscheidung nötig haben, wenn wir aber, wie vorhin, bei der Untersuchung <font color="purple">den Weg der gegenseitigen Verständigung einschlagen</font>, so werden wir selbst zugleich Richter und Redner sein. |
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+ | (Politeia, 348 a,b) | ||
* "ἀνομολογούμενοι πρὸς ἀλλήλους σκοπῶμεν" | * "ἀνομολογούμενοι πρὸς ἀλλήλους σκοπῶμεν" | ||
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== Sokrates unbezahlt == | == Sokrates unbezahlt == | ||
− | + | '''So.:''' Darum ist auch, wie es scheint, in andern Dingen seinen Rat für Geld erteilen, in Sachen der Baukunst etwa und andern Künsten, gar nichts schändliches. | |
− | + | '''Kallikles:''' So scheint es. | |
− | + | '''So.:''' In dieser Angelegenheit aber, auf welche Weise wohl jemand möglichst gut werden könnte, und sein Hauswesen oder seinen Staat gut verwalten, darin wird es für schändlich angesehen, wenn jemand seinen Rat versagen wollte, wofern man ihm nicht Geld dafür gäbe. Nicht wahr? | |
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− | + | '''So.:''' Und offenbar ist doch dies die Ursache, weil unter allen Dienstleistungen diese allein dem empfangenden das Verlangen erregt, wieder hilfreich zu sein. So daß dies ein ganz gutes Kennzeichen ist, wer diesen Dienst gut erwiesen hat, dem wird auch wieder gedient werden, wer aber nicht, dem nicht. Verhält sich dies wirklich so? | |
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+ | Vorausgesetzt ist eine Trennung in Fachwissen und Flachwissen in der Marktwirtschaft und das Flachwissen als politische Letztinstanz. Dann ergibt sich ein strategischer Unterschied zwischen Sophisten und Philosophen. Die bezahlten Experten für das Haus- und Staatswesen operieren innerhalb des Flachwissens nach dem Marktmodell. Das ergibt eine feedback-Schleife. Sie lehren, was sie verkaufen können; das Staatswesen ist ein Unternehmen. Demokratie kaufen. | ||
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+ | Dagegen der philosophische Einwand: die Macht des Flachwissens ist andersartig. Sie beruht auf Wissen (gegen Meinung). Die Frage ist allerdings, wie man zu diesem vertieften Wissen kommt. Sokrates bietet eine defensive Geste. Er widerlegt die bezahlten Lehrer und hält die Frage offen. Platon konstruiert im Anschluss daran ein System positiver Antworten. | ||
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+ | Der Gegensatz hat sich erhalten. Die aktuelle Frage besteht darin, ob es Wissensformen gibt, die ihn unterlaufen. | ||
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+ | Seit den platonischen Schriften ist Philosophie als Konsequenz einer marktwirtschaftlich verfassten Demokratie zu fassen. Dann ist viel dazwischengekommen: der Untergang des klassischen Athen, Christentum, Völkerwanderung, Mittelalter. Die Frage heute: Wie verhält sich diese Form des Wissens zur neoliberalen Weltodnung? | ||
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+ | Das Lehrangebot im tertiären Bildungssektor erinnert stellenweise an die Praxis der Sophisten. Kosmetikberatung, Diätberatung, Politikberatung, Managementkompetenz, Konfliktbewältigung, Personalführung. | ||
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=== [http://philo.at/wiki_stuff/attempto22.pdf In der Defensive. Wie steht es um die Geisteswissenschaften?] === | === [http://philo.at/wiki_stuff/attempto22.pdf In der Defensive. Wie steht es um die Geisteswissenschaften?] === | ||
+ | Philosophie präsentiert sich nach wie vor als abgehoben vom ökonomischen Alltag. | ||
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+ | '''Otfried Höffe: Vom Nutzen des Nutzlosen. Attempto 22. S.22''' | ||
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+ | "Einer der nutzlosen Zeitgenossen des 20. Jahrhunderts, der Existenzphilosoph Albert Camus, lobt in seiner Autobiografie »Der erste Mensch« die Volksschule, denn sie nährte »einen Hunger, der für das Kind noch wesentlicher war als für den Mann, den Hunger nach Entdeckung«. Mehr als zwei Jahrtausende früher bringt der Philosoph, Aristoteles, in seiner »Metaphysik« die persönliche Erfahrung auf den Begriff: »Alle Menschen verlangen nach Wissen von Natur aus.« Weder Camus noch Aristoteles binden den Hunger nach Entdeckung an einen Nutzen. Diese Übereinstimmung von Athen bis Algier über mehr als zwei Jahrtausende vermittelt unserem Zeitalter eine doppelte Botschaft: dem Zeitalter der Globalisierung, dass es kulturübergreifende Gemeinsamkeiten gibt, und dem Zeitalter der Ökonomisierung, dass zu ihnen eine nutzenfreie Wissbegier gehört, eine Entdeckungs- und Erfindungslust, die sich den Zwängen der Ökonomie nicht beugt." | ||
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+ | "Als nächstes ist dem zu kurzsichtigen Verständnis von Wirtschaftlichkeit zu widersprechen: Bauwerke wie die ägyptischen Pyramiden und griechischen Tempel, wie die europäischen und außereuropäischen Gotteshäuser und Paläste oder Parkanlagen sind weder auf kurzfristigen Nutzen noch aufs bloße Überleben angelegt, haben gerade deshalb Jahrhunderte überdauert und werfen selbst in merkantilen Begriffen, nämlich über den Tourismus, Generation für Generation große Gewinne ab. Die genannten Werke müssen aber erschlossen werden, teils im physischen Sinn, indem man sie ausgräbt oder restauriert, teils im intellektuellen Sinn von Kunstführern und Katalogen. Hinter beiden Aufgaben steht eine Arbeit der Geisteswissenschaften, in deren Genuss die Öffentlichkeit seit langem kommt. Und weil man die Geisteswissenschaften allerorten studiert, tragen Wittgenstein und der Wiener Kreis den Ruhm von Wien, tragen Hegel, Hölderlin und Schelling den Ruhm von Tübingen und tragen die Brüder Humboldt mit Hegel und Schleiermacher den Ruhm von Berlin in alle Welt." | ||
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+ | "Der Gefahr einer Instrumentalisierung treten Philosophie und Geisteswissenschaften mit ihrem Selbstverständnis als artes liberales, als freie Studien, entgegen. In einer ersten Bedeutung sind sie frei, weil sie einem dogmatischen und autokratischen Denken widersprechen und weil sie, statt sich auf die eigene Kultur und Epoche zu fixieren, kulturelle Offenheit und Toleranz fördern. Eine zweite Bedeutung von Freiheit tritt im Studium generale und in Senioren-Universitäten zutage: Die Veranstaltungen stehen Personen offen, die sich zumindest vorübergehend dem Zwang zur Erwerbsarbeit entziehen. Die dritte, sachlich aber primäre Bedeutung schließlich erinnert an die griechischen Wurzeln: In der Antike heißt frei (eleutheros), wer sein Leben nicht auf den Tausch funktionaler Beziehungen verkürzen lässt, es vielmehr um seiner selbst willen führt. In diesem Sinn sensibilisieren die Philosophie und die Geisteswissenschaften für Dinge, für die sich auch unter Verzichten zu engagieren lohnt, für so wesentliche Dinge wie Gerechtigkeit und Moral, wie Literatur und Musik, wie bildende Kunst und Architektur, nicht zuletzt für das eigenständig-kritische Denken, die Philosophie, selbst." | ||
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Aktuelle Version vom 17. Januar 2009, 14:56 Uhr
Inhaltsverzeichnis
Thrasymachos will Geld
Thrasymachos: Wie ist's nun, sprach er, wenn ich in betreff der Gerechtigkeit eine Antwort zum besten gebe, die anders ist als alle diese und besser als sie: wozu erbietest du dich dann?
Sokrates: Zu was anderem, als was gebührendermaßen der Nichtwissende zu leiden hat? Und das ist: zu lernen von dem Wissenden. Dem will denn auch ich mich unterziehen.
Thr.: Du bist sehr liebenswürdig, aber außer dem Lernen mußt du auch Geld zahlen.
So.: Nun ja, wenn ich habe, sagte ich.
Glaukon: Oh, da fehlt's nicht, wegen des Geldes sage es immerhin, Thrasymachos, wir alle werden dem Sokrates beisteuern.
Thr.: Ja, ja, das glaube ich, antwortete er, damit Sokrates es wieder macht wie gewöhnlich und selbst keine Antwort gibt, sondern die Antworten anderer aufgreift und widerlegt.
So.: Wie könnte denn auch, mein Bester, sagte ich, jemand Antworten geben, der erstens nichts weiß und auch nichts zu wissen behauptet, und dem zweitens, wenn er auch darüber etwas glaubt, verboten ist, zu sagen, was er meint, von einem nicht schlechten Manne? Aber an dir ist's vielmehr zu sprechen, denn du behauptest ja, etwas zu wissen und sagen zu können. Mache es denn also so: tue mir den Gefallen und gib die Antwort, und mißgönne auch dem Glaukon da und den andern die Belehrung nicht.
[…]
Thr.: Das ist eben die Weisheit des Sokrates, daß er selbst nicht belehren will, sondern bei den andern herumgehen und von ihnen lernen und dafür nicht einmal sich bedanken.
So.: Daß ich von den andern lerne, antwortete ich, darin hast du recht, Thrasymachos, daß du aber behauptest, ich danke dafür nicht, damit sagst du eine Unwahrheit, denn ich danke, so sehr ich kann; ich kann aber nur loben, weil ich Geld nicht habe. Wie gern ich aber das tue, wofern ich glaube, daß jemand gut spreche, das sollst du gar bald erfahren, falls du antwortest, denn ich glaube, daß du gut sprechen wirst.
(Politeia, 337d–338b)
Thrasymachos im peer review
So.: Falls wir nun seiner Rede gegenüber die unsrige Punkt um Punkt entfalten, wie viele Vorteile andererseits das Gerechtsein hat, und dann wieder er, und dann wieder wir, so wird man die Vorteile zusammenzurechnen und zu messen haben, die wir beide an beidem angegeben haben, und wir werden dann irgendwelche Richter zur Entscheidung nötig haben, wenn wir aber, wie vorhin, bei der Untersuchung den Weg der gegenseitigen Verständigung einschlagen, so werden wir selbst zugleich Richter und Redner sein.
(Politeia, 348 a,b)
- "ἀνομολογούμενοι πρὸς ἀλλήλους σκοπῶμεν"
- griechische Fassung (Perseus)
Sokrates unbezahlt
So.: Darum ist auch, wie es scheint, in andern Dingen seinen Rat für Geld erteilen, in Sachen der Baukunst etwa und andern Künsten, gar nichts schändliches.
Kallikles: So scheint es.
So.: In dieser Angelegenheit aber, auf welche Weise wohl jemand möglichst gut werden könnte, und sein Hauswesen oder seinen Staat gut verwalten, darin wird es für schändlich angesehen, wenn jemand seinen Rat versagen wollte, wofern man ihm nicht Geld dafür gäbe. Nicht wahr?
Klk.: Ja.
So.: Und offenbar ist doch dies die Ursache, weil unter allen Dienstleistungen diese allein dem empfangenden das Verlangen erregt, wieder hilfreich zu sein. So daß dies ein ganz gutes Kennzeichen ist, wer diesen Dienst gut erwiesen hat, dem wird auch wieder gedient werden, wer aber nicht, dem nicht. Verhält sich dies wirklich so?
(Gorgias 521a)
Gorgias Gespräche
Die Redekunst (OSP)
Überredungskunst ? (OSP)
Expertinnen (OSP)
Prinzipientreue, Flexibilität (OSP)
Der ideale Politiker (OSP)
Protagoras nimmt Geld
Kenntnisse kaufen (OSP)
Wer ist politisch kompetent? (OSP)
Vorausgesetzt ist eine Trennung in Fachwissen und Flachwissen in der Marktwirtschaft und das Flachwissen als politische Letztinstanz. Dann ergibt sich ein strategischer Unterschied zwischen Sophisten und Philosophen. Die bezahlten Experten für das Haus- und Staatswesen operieren innerhalb des Flachwissens nach dem Marktmodell. Das ergibt eine feedback-Schleife. Sie lehren, was sie verkaufen können; das Staatswesen ist ein Unternehmen. Demokratie kaufen.
Dagegen der philosophische Einwand: die Macht des Flachwissens ist andersartig. Sie beruht auf Wissen (gegen Meinung). Die Frage ist allerdings, wie man zu diesem vertieften Wissen kommt. Sokrates bietet eine defensive Geste. Er widerlegt die bezahlten Lehrer und hält die Frage offen. Platon konstruiert im Anschluss daran ein System positiver Antworten.
Der Gegensatz hat sich erhalten. Die aktuelle Frage besteht darin, ob es Wissensformen gibt, die ihn unterlaufen.
Spätfolgen
Seit den platonischen Schriften ist Philosophie als Konsequenz einer marktwirtschaftlich verfassten Demokratie zu fassen. Dann ist viel dazwischengekommen: der Untergang des klassischen Athen, Christentum, Völkerwanderung, Mittelalter. Die Frage heute: Wie verhält sich diese Form des Wissens zur neoliberalen Weltodnung?
Das Lehrangebot im tertiären Bildungssektor erinnert stellenweise an die Praxis der Sophisten. Kosmetikberatung, Diätberatung, Politikberatung, Managementkompetenz, Konfliktbewältigung, Personalführung.
Wissen und Kommunikation, ein aktuelles Spektrum
"The 'university of culture' is no more."
Vergangenheit und Zukunft der Universitäten (BW)
In der Defensive. Wie steht es um die Geisteswissenschaften?
Philosophie präsentiert sich nach wie vor als abgehoben vom ökonomischen Alltag.
Otfried Höffe: Vom Nutzen des Nutzlosen. Attempto 22. S.22
"Einer der nutzlosen Zeitgenossen des 20. Jahrhunderts, der Existenzphilosoph Albert Camus, lobt in seiner Autobiografie »Der erste Mensch« die Volksschule, denn sie nährte »einen Hunger, der für das Kind noch wesentlicher war als für den Mann, den Hunger nach Entdeckung«. Mehr als zwei Jahrtausende früher bringt der Philosoph, Aristoteles, in seiner »Metaphysik« die persönliche Erfahrung auf den Begriff: »Alle Menschen verlangen nach Wissen von Natur aus.« Weder Camus noch Aristoteles binden den Hunger nach Entdeckung an einen Nutzen. Diese Übereinstimmung von Athen bis Algier über mehr als zwei Jahrtausende vermittelt unserem Zeitalter eine doppelte Botschaft: dem Zeitalter der Globalisierung, dass es kulturübergreifende Gemeinsamkeiten gibt, und dem Zeitalter der Ökonomisierung, dass zu ihnen eine nutzenfreie Wissbegier gehört, eine Entdeckungs- und Erfindungslust, die sich den Zwängen der Ökonomie nicht beugt."
...
"Als nächstes ist dem zu kurzsichtigen Verständnis von Wirtschaftlichkeit zu widersprechen: Bauwerke wie die ägyptischen Pyramiden und griechischen Tempel, wie die europäischen und außereuropäischen Gotteshäuser und Paläste oder Parkanlagen sind weder auf kurzfristigen Nutzen noch aufs bloße Überleben angelegt, haben gerade deshalb Jahrhunderte überdauert und werfen selbst in merkantilen Begriffen, nämlich über den Tourismus, Generation für Generation große Gewinne ab. Die genannten Werke müssen aber erschlossen werden, teils im physischen Sinn, indem man sie ausgräbt oder restauriert, teils im intellektuellen Sinn von Kunstführern und Katalogen. Hinter beiden Aufgaben steht eine Arbeit der Geisteswissenschaften, in deren Genuss die Öffentlichkeit seit langem kommt. Und weil man die Geisteswissenschaften allerorten studiert, tragen Wittgenstein und der Wiener Kreis den Ruhm von Wien, tragen Hegel, Hölderlin und Schelling den Ruhm von Tübingen und tragen die Brüder Humboldt mit Hegel und Schleiermacher den Ruhm von Berlin in alle Welt."
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"Der Gefahr einer Instrumentalisierung treten Philosophie und Geisteswissenschaften mit ihrem Selbstverständnis als artes liberales, als freie Studien, entgegen. In einer ersten Bedeutung sind sie frei, weil sie einem dogmatischen und autokratischen Denken widersprechen und weil sie, statt sich auf die eigene Kultur und Epoche zu fixieren, kulturelle Offenheit und Toleranz fördern. Eine zweite Bedeutung von Freiheit tritt im Studium generale und in Senioren-Universitäten zutage: Die Veranstaltungen stehen Personen offen, die sich zumindest vorübergehend dem Zwang zur Erwerbsarbeit entziehen. Die dritte, sachlich aber primäre Bedeutung schließlich erinnert an die griechischen Wurzeln: In der Antike heißt frei (eleutheros), wer sein Leben nicht auf den Tausch funktionaler Beziehungen verkürzen lässt, es vielmehr um seiner selbst willen führt. In diesem Sinn sensibilisieren die Philosophie und die Geisteswissenschaften für Dinge, für die sich auch unter Verzichten zu engagieren lohnt, für so wesentliche Dinge wie Gerechtigkeit und Moral, wie Literatur und Musik, wie bildende Kunst und Architektur, nicht zuletzt für das eigenständig-kritische Denken, die Philosophie, selbst."
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