Wer ist politisch kompetent? (OSP)

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318d-320c

Und nachdem Protagoras mich ausgehört hatte, sagte er: Du fragst sehr gut, Sokrates, und mir macht es Freude, denen die gut fragen zu antworten. Wenn also Hippokrates zu mir kommt, wird ihm das nicht begegnen, was ihm bei einem andern Sophisten begegnen würde. Die andern nämlich mißhandeln die Jünglinge offenbar. Denn nachdem diese den Schulkünsten eben glücklich entkommen sind, führen jene sie wider ihren Willen wiederum zu Künsten, und lehren sie Rechnen, und Sternkunde, und Meßkunde, und Musik, wobei er den Hippias ansah, bei mir aber soll er nichts lernen, als das weshalb er eigentlich kommt. Diese Kenntnis aber ist die Klugheit in seinen eignen Angelegenheiten, wie er sein Hauswesen am besten verwalten, und dann auch in den Angelegenheiten des Staats wie er am geschicktesten sein wird, diese sowohl zu führen als auch darüber zu reden.

Folge ich wohl, sagte ich darauf, deiner Rede? Du scheinst mir nämlich die Staatskunst zu bezeichnen, und zu verheißen, du wollest zu tüchtigen Männern für den Staat die Männer bilden?

Eben dieses, sagte er, ist das Anerbieten, wozu ich mich erbiete.

Gewiß eine schöne Kunst, sprach ich, besitzest du, wenn du sie besitzest, denn zu dir soll nichts anderes geredet werden als ich denke. Ich nämlich, Protagoras, meinte, dieses wäre nicht lehrbar; dir aber, da du es sagst, weiß ich nicht wie ich nicht glauben sollte.

Weshalb ich aber denke, dies sei nicht lehrbar, noch könne ein Mensch es dem andern verschaffen, das muß ich billig sagen. Ich halte nämlich, wie auch wohl alle Hellenen tun, die Athener für weise, und nun sehe ich, wenn wir in der Gemeinde versammelt sind, und es soll im Bauwesen der Stadt etwas geschehen, so holen sie die Baumeister zur Beratung über die Gebäude; wenn im Schiffswesen, dann die Schiffbauer, und in allen andern Dingen eben so, welche sie für lehrbar und lernbar halten. Will sich aber ein Anderer unterfangen ihnen Rat zu geben, von dem sie glauben, daß er kein Kunstverwandter in dieser Sache ist, sei er auch noch so schön und reich und vornehm: so nehmen sie ihn doch nicht an, sondern lachen ihn aus und betreiben Lärm bis er entweder heruntergelärmt von selbst wieder abtritt, oder die Gerichtsdiener ihn herunterziehen oder herausschaffen auf Geheiß der Prytanen. Und in allem, wovon sie glauben, daß es auf Kunst beruhe, verfahren sie so.

Wenn aber über Verwaltung der Stadt etwas zu ratschlagen ist, so steht jeder auf und erteilt ihnen seinen Rat: Zimmermann, Schmied, Schuster, Krämer, Schiffsherr, Reiche, Arme, Vornehme, Geringe, einer wie der andere, und Niemand macht einem Vorwürfe darüber, wie im vorigen Falle, daß er ohne dies irgendwo gelernt zu haben, oder seinen Meister darin aufzeigen zu können, sich nun doch unterfangen wolle Rat zu geben. Offenbar also glauben sie, dies sei nicht lehrbar. Und nicht nur das versammelte Volk denkt so, sondern auch zu Hause für sich sind unsere verständigsten und vortrefflichsten Mitbürger nicht im Stande, diese Tugend welche sie besitzen Andern mitzuteilen.

Perikles zum Beispiel, der Vater dieser beiden jungen Männer, hat sie in Allem, was von Lehrern abhing, vortrefflich unterrichten lassen; aber in dieser Sache, worin er selbst weise ist, unterrichtet er sie weder selbst, noch hat er sie einem Andern übergeben, sondern sie laufen ganz frei herum und weiden allein, ob sie irgendwo von selbst etwas von dieser Tugend antreffen möchten. Wenn du noch mehr willst, derselbe Perikles ist Vormund von Kleinias, dem jüngern Bruder dieses Alkibiades hier, und aus Besorgnis, daß er von dem Alkibiades möchte verdorben werden, trennte er ihn von diesem, und gab ihn in das Haus des Ariphron, um ihn dort erziehen zu lassen, der aber gab ihn ihm zurück ehe sechs Monate um waren, weil er nicht wußte, was er mit ihm anstellen sollte. Und so kann ich dir sehr viele Andere nennen, welche selbst treffliche Männer, dennoch niemals irgend einen besser gemacht haben, weder von ihren Angehörigen noch sonst.

Ich meines Teils also, Protagoras, halte hierauf Rücksicht nehmend nicht dafür, die Tugend sei lehrbar. Nun aber ich dich dieses behaupten höre, lenke ich um und denke, du werdest wohl Recht haben, weil ich von dir halte, du habest vieles in der Welt erfahren, vieles gelernt, und manches auch selbst erfunden. Kannst du uns also deutlicher zeigen, daß die Tugend lehrbar ist, so wolle es nicht vorenthalten, sondern zeige es.


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