Toleranzkritik: Lokalisierung der Wahrheit, Relativismus

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Vorerst möchte ich die ver­schiedenen, die Toleranzlehre durchziehenden Spannungen zusam­menfassen, die sich aus einer Untersuchung der politischen Genealogie dieser Lehre ergeben und die einen Einfluß darauf ausüben, welche Rolle sie im gegenwärtigen Diskurs spielt. Erstens schafft die Verlage­rung von Sinn in den Bereich des Individuellen, Privaten und Nichtpolitischen und die Abtrennung des Staates – des formalen Ortes der politischen Gemeinschaft – von Fragen kollektiver Überzeugungen, die über die abstraktesten Verfassungsprinzipien hinausgehen, unwei­gerlich lokale Orte der Wahrheit, die letztlich überfrachtet werden. Mit anderen Worten befördert solch eine Auffassung lokale Gemeinschaften, deren Wahrheiten sich gegenüber denen anderer Gemeinschaften radikal antagonistisch verhalten. Umso säkularer, technokratischer oder bürokratischer der Staat wird, desto mächtiger wird die Tendenz, diese lokalen Orte der Wahrheit und Überzeugung zu überfrachten. Diese Tendenz kommt nicht nur in jenen hartnäckig komplizierten politischen Problemen zum Ausdruck, die der säkulare Staat zu lösen sucht – Abtreibung, Homosexualität und Todesstrafe gehören zu den gegenwärtig am meisten und am intensivsten diskutierten. Sie manife­stiert sich auch als eine soziale Formation gekennzeichneter Subjekte. Diese Überfrachtung lokaler Orte der Wahrheit trägt also zu einer Or­ganisation des gesellschaftlichen Lebens anhand lokaler Identitäten bei, die auf Merkmalen wie Ethnizität oder Geschlecht beruhen und sich in angeblich unterschiedlichen Überzeugungsstrukturen oder Wertori­entierungen ausdrücken, die diesen Merkmalen korrespondieren sol­len. In pluralistischen Demokratien könnten nur ein radikaler Nihilis­mus oder vollständig rationalisierte Wesen diese Spannung auflösen. Und diese totalitäre Vision stellt genau jenen Gegner dar, gegen den sich der Liberalismus in Stellung bringt.

Galleottis Toleranz als Anerkennung wird hier als eine Art Diskriminierung des Besonderen aufgefasst.

Zweitens produziert die Toleranzlehre, obgleich sie zu überbordenden lokalen und zu übertrieben dünnen öffentlichen oder allgemeinen Wahr­heiten führt, im Bereich der moralischen und politischen Wahrheiten zugleich jenen unvermeidlichen Relativismus, den wir bereits als Implikati­on der durch die Reformation inspirierten Toleranzlehren identifiziert haben. Dies führt uns zurück zu einer der bereits erwähnten Paradoxien der Toleranz: Die Wahrheit und das Personensein, die die Toleranzlehre zu schützen sucht, werden im Toleranzdiskurs zu den tiefsten und bedeu­tendsten Merkmalen des menschlichen Daseins gerechnet. Und doch müs­sen diese Wahrheit und dieses Personensein in einer begrenzten und pri­vaten Weise gelebt und praktiziert werden. Der letzte World Report on Freedom of Religion and Belief erklärt z.B., daß »die Fähigkeit zum Glau­ben ein bestimmendes Merkmal der menschlichen Persönlichkeit darstellt« und daß »Religion oder Glauben für jeden, der sich zu einem von beiden bekennt, zu den grundlegenden Elementen seiner Lebenskonzepion gehört [...]«" Und doch erfordert es die Toleranz, daß solche Über­zeugungen – obgleich sie von so fundamentaler Bedeutung sind und uns in unserem Menschsein ausmachen – nicht als absolute moralische Wahrheit oder im Bewußtsein moralischer Überlegenheit vertreten oder zur Grundlage unseres Handelns gemacht werden. Die Toleranz erfordert die öffentliche Zustimmung zu oder den Respekt gegenüber Überzeugungen und Werten, die sich mit den unsrigen nicht vertragen, gegenüber Überzeugungen und Werten, die wir für gänzlich falsch, gar für unmoralisch halten. In ihrer spezifisch neuzeitlichen Formulierung nötigt uns die To­leranz somit dazu, das konstitutive Element unserer Menschlichkeit, näm­lich den Glauben, privat und individuell zu kultivieren und zu praktizieren ohne daß er eine öffentliche Wirkung zeitigte und im öffentlichen Leben auftauchte. Die Toleranz erfordert zudem, daß wir uns entweder in unserem Respekt gegenüber anderen heuchlerisch verhalten, indem wir vorgeben, das zu bejahen, was wir eigentlich für falsch, ketzerisch oder gefährlich halten, oder zu radikalen Relativisten werden, die davon ausge­hen, daß unseren Überzeugungen kein größerer innerer Wert oder keine größere Glaubwürdigkeit zukommt als den Überzeugungen anderer.

Das ist ziemlich undifferenziert.

Wenn die Toleranz nicht nur einen radikalen Rückzug aus dem öffentli­chen Leben befördert, der einer Art sozialem Monadentum gleichkommt, sondern zudem im gesellschaftlichen und öffentlichen Leben einen episte­mologischen und moralischen Relativismus verlangt, ist die Auswirkung dieser Erfordernisse auf das politische Leben von besonderer Bedeutung. Die Politik wird notwendigerweise in einem Maße amoralisch oder anti­moralisch, von dem Machiavelli nie gewagt hätte zu träumen, und sie wird in selbstgerechter Weise relativistisch gegenüber der Wahrheit. Symptome dieses Zustandes treten in jenen nicht enden wollenden politischen Diskus­sionen der amerikanischen Öffentlichkeit zu Tage, die um tiefe moralische Werte und religiöse Überzeugungen kreisen. Über diese Themen kann man jedoch im politischen Diskurs nicht konkret sprechen, ohne den Geist der Toleranz zu verletzen. Solange die überfrachteten Orte lokaler Wahrheit, die die Toleranz erzeugt, aufrechterhalten werden, brodelt der moralische Absolutismus knapp unterhalb der Oberfläche der Politik. Hierdurch erscheint die öffentliche Toleranz als wenig mehr als eine Entspannungsstra­gie für Konflikte zwischen privaten moralischen oder religiösen Absolutis­men. Freilich erzwingt die Toleranz zugleich die Ersetzung religiösen Glau­bens und ethischer Überzeugung durch rhetorisch-strategisch auftretende politische Ansprüche. Die politische Debatte über Wertkonflikte erhält hierdurch einen zutiefst unaufrichtigen Charakter, und es wird jene Ratio­nalisierung des politischen Lebens verstärkt, die Weber mit Bezug auf an­dere Ursachen voraussah.

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