Subjektformation und Toleranz, Foucault

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Einer der Beiträge, die Michel Foucault zum Verständnis des gegenwärti­gen politischen Lebens geleistet hat, besteht in der Einsicht, daß die For­mierung und Regulierung des modernen Subjekts dadurch erfolgt, daß bestimmte Überzeugungen und Praktiken mit einer angeblich wesenhaf­ten oder inneren Wahrheit eines gegebenen Subjekts diskursiv gleichge­setzt werden. Foucault zufolge fungiert diese Ordnung der Subjektfor­mierung, in der Verhaltensweisen oder Überzeugungen auf innere (ver­borgene) Wahrheiten zurückgeführt werden, die wiederum durch die Wissenschaften von diesen Verhaltensweisen und Überzeugungen regu­liert werden, als ein Mittel, um Individuen im Zeitalter der Massengesell­schaft zu ordnen, zu klassifizieren und zu regulieren. Hierdurch wird In­dividualität als Grundlage eines Wissens organisiert, das als Regulierungs­instrument eingesetzt werden kann.

Das bekannteste Beispiel einer solchen Formierung des Subjekts, das Foucault anführt, ist die moderne Konstruktion von Homosexualität durch die Konvergenz verschiedener wissenschaftlicher, administrativer und religiöser Diskurse. Foucault zufolge wird das, was vor dem achtzehnten Jahrhundert als kontingenter Akt angesehen wurde, durch die Medizin, Psychiatrie, Pädagogik, Religion und Sexualwissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts in zunehmendem Maße als konstitutiv für die Identität angesehen. Erst hierdurch werden homosexuelle Handlungen als Ausdruck eines homosexuell genannten Subjekts verstanden. Zudem setzt sich ein Verständnis dieser Handlungen durch, demzufolge sie auf die grundlegende Wahrheit des homosexuellen Subjekts hindeuten, diese gar vollständig erfassen sollen. Man wird nicht länger definiert über die Zuge­hörigkeit zu diesem Dorf oder jener Familie, dieser Sprach- oder jener Berufsgruppe, sondern vielmehr über die besondere und grundlegende sexuelle oder andersweitige Persona – eine Identität, die in Verlangen und Verhalten wurzelt. Hier die vielzitierte Textstelle aus Sexualität und Wahr­heit, in der Foucault diesen historischen Übergang zusammenfaßt:

Die Sodomie – so wie die alten zivilen oder kanonischen Rechte sie kannten – war ein Typ von verbotener Handlung, deren Urheber nur als ihr Rechtssubjekt in Betracht kam. Der Homosexuelle des 19. Jahrhun­derts ist zu einer Persönlichkeit geworden, die über eine Vergangenheit und eine Kindheit verfügt, einen Charakter, eine Lebensform, und die schließlich eine Morphologie [...] besitzt. Nichts von alledem, was er ist, entrinnt seiner Sexualität. Sie ist überall in ihm präsent: allen seinen Ver­haltensweisen unterliegt sie als hinterhältiges und unbegrenzt wirksames Prinzip [...]. Als eine der Gestalten der Sexualität ist die Homosexualität aufgetaucht, als sie von der Praktik der Sodomie zu einer Art innerer An­drogynie, einem Hermaphroditismus der Seele herabgedrückt worden ist. Der Sodomit war ein Gestrauchelter, der Homosexuelle ist eine Spezies.

Foucault vertritt eine ähnliche These in Überwachen und Strafen: Was einst als kriminelle Handlung, als singuläres Ereignis galt, wird nun als die grundlegende und erschöpfende Wahrheit der Person behandelt. Der Gefängnisinsasse wird in dem Maße zu einem Typus, einem Fall, einer vollständigen Persönlichkeit, wie sie oder er zu einem Subjekt und Ob­jekt der Kriminologie, Psychologie, Soziologie und Medizin wird.

Wenn Foucaults Aussagen über diese Dimension der Produktion von Subjektivität innerhalb der Moderne ebenso zutreffen wie die These, daß deren recht beständige Ausweitung in Form einer Bio-Macht mit dem Niedergang körperlicher und anderer Formen juristischer Macht einhergeht, fügt dies dem Problem der Toleranz eine weitere beunruhigende Dimension hinzu. Bestimmte Praktiken und Erfahrungen, zu denen wir auch Überzeugungen zählen können, werden als notwendiger Bestandteil grundlegender Subjekttypen aufgefaßt. Folglich scheinen Identitäten wie »Schwarzer«, »Lesbe«, »Jude« oder gar »Überlebender des Holo­caust« nicht nur die Person radikal erschöpfend zu erfassen, sondern notwendigerweise mit einer bestimmten Menge von Überzeugungen und Praktiken verknüpft zu sein. Die Praxis oder das Merkmal scheinen sich aus der Seele der Person zu ergeben, die bestimmte Erfahrungsweisen konstituiert. Die Verbindung von Seele und Erfahrungen wird wiederum als Quelle bestimmter Ansichten oder Überzeugungen aufgefaßt. (Nur auf der Basis dieser Konstruktion ist es möglich, der Behauptung einen Sinn zu verleihen, daß eine bestimmte Frau »nicht wirklich versteht, daß sie eine Frau ist« oder daß eine schwarze Person »nicht wirklich schwarz« ist. Solche Aussagen werden in dem Glauben getroffen, sie resultierten aus einer radikal kritischen Sicht von Hautfarbe und Geschlecht. Gemäß meiner Analyse bestätigen sie jedoch vielmehr die herrschende Auffas­sung. Wenn Toleranz das wechselseitige Existenzrecht von Identitäten bezeichnet, die verschiedene Modi von Überzeugungen, Erfahrungen und Praktiken repräsentieren, so werden diese Identitäten durch die Toleranz so bestimmt, als stünden sie in einer potentiell oder gar inhärent feindli­chen Beziehung zueinander. Weil Identitäten als Orte identitärer Wahr­heit konstruiert werden, die grundlegend von der Wahrheit anderer abweichen, stellen die jeweiligen Identitäten ihre Wahrheiten gegenseitig in Frage und bedrohen oder leugnen die Orthodoxien und Absolutismen der jeweils anderen. Dies bedeutet im Fall der Identität, daß sie sich ge­genseitig als Personen bedrohen. Mit anderen Worten: Die Feindschaft oder Infragestellung findet nicht lediglich auf der Ebene der Überzeu­gungen oder der Erfahrung statt, sondern auf der Ebene von Personen, weil die Person und die Überzeugungen vermischt und auf der Ebene des Personenseins anhand von Merkmalen und Praktiken mit einem Index versehen werden. Der moralische Relativismus, der sich bislang auf Über­zeugungen bezog und sich aus einem unentscheidbaren Dissens verschie­dener Meinungen speiste, wird nun übertragen auf eine Identität, die ih­ren Sitz in Körper und Seele haben soll.

Aus dieser Perspektive erscheint die Aufnahme der Sprache der Tole­ranz in das gegenwärtige Ethos des kulturellen Pluralismus nicht bloß als ein zufälliger Übergang von einem Diskurs, der sich mit Rede- und Reli­gionsfreiheit beschäftigt, zu einem Diskurs, der von Personen, Ethnizität, Sexualität, Geschlecht oder Hautfarbe handelt. Vielmehr scheint diese Aufnahme eine historische Formation zum Ausdruck zu bringen, in der Subjekte anhand bestimmter Merkmale oder Praktiken identifiziert und auf diese reduziert werden. Dabei wird wiederum von diesen Merkmalen und Praktiken angenommen, sie erzeugten gewisse Überzeugungen und ein bestimmtes Bewußtsein, wodurch diese Überzeugungen und dieses Bewußtsein der Seele oder der inneren Wahrheit der Person zu entsprin­gen scheinen. In diesem spezifisch modernen Diskurs über Subjekte werden Meinungen, Überzeugungen und Praktiken nicht als Fragen des Ge­wissens, der Erziehung öder der Offenbarung behandelt, sondern als der Stoff jener Person, als dessen Index die Merkmale (Hautfarbe, Sexualität, Geschlecht, Ethnie) dienen. Hier haben Begriffe wie »schwarzes Bewußtsein«, »weibliche Moral« oder »Queer-Sensibilität« ihren Ursprung. In jedem dieser Fälle wird die Hautfarbe, die Sexualität oder das Geschlecht so vorgestellt, als erzeugten sie das Bewußtsein, die Überzeugungen oder die Praxis – also die Differenz –, die geschützt und toleriert werden muß. Dies bildet einen augenfälligen Kontrast zu der Vorstellung, Überzeu­gungen seien persönlich, individuell gewonnen oder kontingent und somit Ausdruck unserer grundlegenden Menschheit im Sinne unserer Indi­vidualität als Handelnde. Stattdessen sieht diese Ordnung der Subjektfor­mierung unser Menschsein in einem kulturellen, ethnischen oder sexuellen Wesen verkörpert und nicht in einem Individuum, das wählt und denkt, eben frei ist.


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