Toleranzkonzeptionen (T): Unterschied zwischen den Versionen

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==== Die Erlaubnis-Konzeption ====
 
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Frankreich beenden sollte, und in dem Heinrich IV. erklärt: »Um keinen
 
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Anlaß zu Unruhen und Streitigkeiten zwischen Unseren Untertanen
 
Anlaß zu Unruhen und Streitigkeiten zwischen Unseren Untertanen
bestehen zu lassen,
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bestehen zu lassen, haben Wir erlaubt und erlauben Wir den Anhängern der sogenannten
haben Wir erlaubt und erlauben Wir den Anhängern der sogenannten
 
 
reformierten Religion, in allen Städten und Ortschaften unseres
 
reformierten Religion, in allen Städten und Ortschaften unseres
 
Königreiches und Ländern Unseres Machtbereichs zu leben und zu wohnen,
 
Königreiches und Ländern Unseres Machtbereichs zu leben und zu wohnen,
 
ohne daß dort nach ihnen gesucht wird oder sie bedrückt und belästigt
 
ohne daß dort nach ihnen gesucht wird oder sie bedrückt und belästigt
und gezwungen werden, etwas gegen ihr Gewissen zu tun.«i3 Die mehr als
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und gezwungen werden, etwas gegen ihr Gewissen zu tun.« Die mehr als
 
400 Jahre, die zwischen diesem (1685 widerrufenen) Edikt und unserer
 
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Gegenwart liegen, sollten freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass
 
Gegenwart liegen, sollten freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass
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Minimalforderung von unterdrückten Minderheiten erhoben wird bzw. im
 
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Interessenkalkül von Staaten oder Bevölkerungsmehrheiten eine wichtige
 
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Rolle spielt.34 Solange das Anderssein der Minderheit sich in Grenzen
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Rolle spielt. Solange das Anderssein der Minderheit sich in Grenzen
 
hält und sozusagen eine »Privatsache« bleibt, so dass kein
 
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gleichberechtigter öffentlicher und politischer Status gefordert wird,
 
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öffentliche Ruhe und Ordnung stört, während aber andererseits ihr
 
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Bekämpfen erhebliche Kosten mit sich bringen würde; und aus
 
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prinzipiellen Grün-den, da es bspw. - vor dem Hintergrund eines
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bestimmten Begriffs des Gewissens - als illegitim (und nicht nur,
 
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ggfs. aber auch, als unmöglich) angesehen wird, Personen dazu zu
 
ggfs. aber auch, als unmöglich) angesehen wird, Personen dazu zu
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Toleranzsituation ist somit nicht-reziprok: Die eine Seite erlaubt der
 
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anderen gewisse Abweichungen, solange die politisch dominante Stellung
 
anderen gewisse Abweichungen, solange die politisch dominante Stellung
der erlaubnisgebenden Seite nicht angetastet wird.35 Toleranz wird
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der erlaubnisgebenden Seite nicht angetastet wird. Toleranz wird
hierbei als permissio mali verstanden, als das Dulden einer weder als wertvoll noch
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als gleichberechtigt angesehenen Überzeugung oder Praxis, die je-doch
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als gleichberechtigt angesehenen Überzeugung oder Praxis, die jedoch
 
nicht die »Grenzen des Erträglichen« überschreitet. Es ist diese
 
nicht die »Grenzen des Erträglichen« überschreitet. Es ist diese
 
Auffassung, die Goethe mit seinem (bereits zitierten) Diktum von der
 
Auffassung, die Goethe mit seinem (bereits zitierten) Diktum von der
 
Toleranz als Beleidigung vor Augen hatte.  
 
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Toleranzrelation ist somit nicht mehr, wie in der
 
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Erlaubnis-Konzeption, vertikal, sondern horizontal: die Tolerierenden
 
Erlaubnis-Konzeption, vertikal, sondern horizontal: die Tolerierenden
sind zugleich auch Tolerierte.37 Die Einsicht in die Vorzugswürdigkeit
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sind zugleich auch Tolerierte. Die Einsicht in die Vorzugswürdigkeit
 
eines Zustands der Toleranz hat hier freilich keinen normativen
 
eines Zustands der Toleranz hat hier freilich keinen normativen
 
Charakter, sie ist eine Einsicht in praktische Notwendigkeiten. Somit
 
Charakter, sie ist eine Einsicht in praktische Notwendigkeiten. Somit
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sich das gesellschaftliche Machtverhältnis zugunsten der einen oder
 
sich das gesellschaftliche Machtverhältnis zugunsten der einen oder
 
anderen Gruppe, fällt für diese der wesentliche Grund für Toleranz
 
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weg.3R Die Koexistenz-Konzeption lässt eine schwächere und eine
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stärkere Lesart zu. Der ersten zufolge ist Toleranz lediglich eine
 
stärkere Lesart zu. Der ersten zufolge ist Toleranz lediglich eine
 
Folge der Ermattung nach intensiven und erfolglosen Konflikten und
 
Folge der Ermattung nach intensiven und erfolglosen Konflikten und
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zurückhaltende Oberherrschaft es ermöglicht, dass sich dauerhafte
 
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Strukturen der Koexistenz und möglicherweise auch der Kooperation
 
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entwickeln, da ein von allen Seiten akzeptierter Rechtszustand besteht
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entwickeln, da ein von allen Seiten akzeptierter Rechtszustand besteht.
39 Zwar ist für die Beteiligten nach wie vor das strategische Kalkül
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Zwar ist für die Beteiligten nach wie vor das strategische Kalkül
 
insgesamt handlungsleitend, doch erscheinen in ihm die Vorteile des
 
insgesamt handlungsleitend, doch erscheinen in ihm die Vorteile des
 
Zustands der Koexistenz weitaus attraktiver als die anderen
 
Zustands der Koexistenz weitaus attraktiver als die anderen
Alternativen. Es kann - einem »Liberalismus der Furcht«40 entsprechend
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Alternativen. Es kann - einem »Liberalismus der Furcht« entsprechend
 
- von einer pragmatischen Einsicht in die zu hohen Kosten der
 
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Konfrontation wie auch von einer Einsicht in die Schrecken und
 
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Anerkennung, die über das Dulden der Anderen hinausgeht und auf
 
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weitergehenden moralischen oder ethischen Überlegungen beruht.
 
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==== Die Respekt-Konzeption ====
 
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respektieren einander als autonome Personen bzw. als gleichberechtigte
 
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Mitglieder einer rechtsstaatlich verfassten politischen
 
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Gemeinschaft.42 Obwohl sich ihre ethischen Überzeugungen des guten und
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Gemeinschaft. Obwohl sich ihre ethischen Überzeugungen des guten und
 
wertvollen Lebens und ihre kulturellen Praktiken stark voneinander
 
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unterscheiden und in wichtigen Hinsichten inkompatibel sind,
 
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anerkennen sie sich gegenseitig - und hier tut sich eine folgenreiche
 
anerkennen sie sich gegenseitig - und hier tut sich eine folgenreiche
Alternative auf - als ethisch autonome Autoren ihres eigenen Lebens43
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Alternative auf - als ethisch autonome Autoren ihres eigenen Lebens
 
oder als moralisch und rechtlich Gleiche in dem Sinne,
 
oder als moralisch und rechtlich Gleiche in dem Sinne,
 
dass in ihren Augen die allen gemeinsame Grundstruktur des
 
dass in ihren Augen die allen gemeinsame Grundstruktur des
 
politisch-sozialen Lebens - die Grundfragen der Zuerkennung von
 
politisch-sozialen Lebens - die Grundfragen der Zuerkennung von
Rechten und der Verteilung sozialer Ressourcen betreffend44 - von
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Rechten und der Verteilung sozialer Ressourcen betreffend - von
 
Normen geleitet werden sollte, die alle Bürger gleichermaßen
 
Normen geleitet werden sollte, die alle Bürger gleichermaßen
 
akzeptieren können und die nicht eine »ethische Gemeinschaft«
 
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auf Rechtfertigung« von Normen, die reziprok-allgemeine Geltung
 
auf Rechtfertigung« von Normen, die reziprok-allgemeine Geltung
 
beanspruchen. Ungeachtet der (wichtigen, doch hier nicht weiter
 
beanspruchen. Ungeachtet der (wichtigen, doch hier nicht weiter
thematisierten)45 Rechtfertigungsalternative zwischen einer Theorie,
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die - dem klassischen Liberalismus folgend - das Recht auf eine
 
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autonome Lebensgestaltung als zentral ansieht, und einem Ansatz, der
 
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politische Gleichheit der Citoyens; ein Beispiel für Letzteres ist die
 
politische Gleichheit der Citoyens; ein Beispiel für Letzteres ist die
 
Auffassung französischer Behörden, dass Kopftücher als religiöse
 
Auffassung französischer Behörden, dass Kopftücher als religiöse
Symbole in einer öffentlichen Schule keinen Platz haben.46 Im Kern
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Symbole in einer öffentlichen Schule keinen Platz haben. Im Kern
 
geht es dem Modell formaler Gleichheit somit um die Verteidigung
 
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klassischer Freiheitsrechte der Bürger und um die Vermeidung ethisch
 
klassischer Freiheitsrechte der Bürger und um die Vermeidung ethisch
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haben. Dieser im Sinne der Fairness geforderte Respekt fordert
 
haben. Dieser im Sinne der Fairness geforderte Respekt fordert
 
schließlich bestimmte Ausnahmen oder Änderungen von hergebrachten
 
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Regeln und Strukturen.47 Wechselseitige Toleranz impliziert diesem
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Regeln und Strukturen. Wechselseitige Toleranz impliziert diesem
 
Verständnis nach, den Anspruch anderer auf vollwertige Mitgliedschaft
 
Verständnis nach, den Anspruch anderer auf vollwertige Mitgliedschaft
 
in der politischen Gemeinschaft anzuerkennen, ohne zu verlangen, dass
 
in der politischen Gemeinschaft anzuerkennen, ohne zu verlangen, dass
 
sie dazu ihre ethisch-kulturelle Identität in einem reziprok nicht
 
sie dazu ihre ethisch-kulturelle Identität in einem reziprok nicht
 
forderbaren Maße aufgeben müssen.
 
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==== Die Wertschätzungs-Konzeption ====
 
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Mitglieder anderer kultureller oder religiöser Gemeinschaften als
 
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rechtlich-politisch Gleiche zu respektieren, sondern auch, ihre
 
rechtlich-politisch Gleiche zu respektieren, sondern auch, ihre
Überzeugungen und Praktiken als ethisch wertvoll zu schätzen.48 Damit
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Überzeugungen und Praktiken als ethisch wertvoll zu schätzen. Damit
 
dies allerdings noch eine Konzeption der Toleranz ist und die
 
dies allerdings noch eine Konzeption der Toleranz ist und die
 
Ablehnungs-Komponente nicht verloren geht, muss diese Wertschätzung
 
Ablehnungs-Komponente nicht verloren geht, muss diese Wertschätzung
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Wertepluralismus, der zufolge es innerhalb einer Gesellschaft eine
 
Wertepluralismus, der zufolge es innerhalb einer Gesellschaft eine
 
Rivalität zwischen an sich wertvollen, doch inkompatiblen Lebensformen
 
Rivalität zwischen an sich wertvollen, doch inkompatiblen Lebensformen
gibt49 bzw. - in kommunitaristischer Perspektive - die Auffassung,
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gibt bzw. - in kommunitaristischer Perspektive - die Auffassung,
 
dass es bestimmte, sozial geteilte Vorstellungen des guten Lebens
 
dass es bestimmte, sozial geteilte Vorstellungen des guten Lebens
gibt, deren partielle Variationen tolerierbar sind.so
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gibt, deren partielle Variationen tolerierbar sind.

Version vom 2. November 2005, 13:49 Uhr

Vier mal Toleranz nach Rainer Forst

Die Erlaubnis-Konzeption

Der ersten Auffassung zufolge, die ich Erlaubnis-Konzeption nenne, bezeichnet Toleranz die Beziehung zwischen einer Autorität oder einer Mehrheit und einer von deren Wertvorstellungen abweichenden Minderheit (oder mehreren Minderheiten). Toleranz besteht darin, dass die Autorität (oder Mehrheit) der Minderheit die Erlaubnis gibt, ihren Überzeugungen gemäß zu leben, solange sie - und das ist die entscheidende Bedingung - die Vorherrschaft der Autorität (oder Mehrheit) nicht in Frage stellt. Als historisches Beispiel kann das Edikt von Nantes von 1598 dienen, das die Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Hugenotten in Frankreich beenden sollte, und in dem Heinrich IV. erklärt: »Um keinen Anlaß zu Unruhen und Streitigkeiten zwischen Unseren Untertanen bestehen zu lassen, haben Wir erlaubt und erlauben Wir den Anhängern der sogenannten reformierten Religion, in allen Städten und Ortschaften unseres Königreiches und Ländern Unseres Machtbereichs zu leben und zu wohnen, ohne daß dort nach ihnen gesucht wird oder sie bedrückt und belästigt und gezwungen werden, etwas gegen ihr Gewissen zu tun.« Die mehr als 400 Jahre, die zwischen diesem (1685 widerrufenen) Edikt und unserer Gegenwart liegen, sollten freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Form der Toleranz weiterhin aktuell ist und häufig als Minimalforderung von unterdrückten Minderheiten erhoben wird bzw. im Interessenkalkül von Staaten oder Bevölkerungsmehrheiten eine wichtige Rolle spielt. Solange das Anderssein der Minderheit sich in Grenzen hält und sozusagen eine »Privatsache« bleibt, so dass kein gleichberechtigter öffentlicher und politischer Status gefordert wird, kann sie dieser Konzeption zufolge aus primär pragmatischen, aber gegebenenfalls auch prinzipiellen normativen Gründen toleriert werden: aus pragmatischen Gründen, da die tolerierte Minderheit nicht die öffentliche Ruhe und Ordnung stört, während aber andererseits ihr Bekämpfen erhebliche Kosten mit sich bringen würde; und aus prinzipiellen Gründen, da es bspw. - vor dem Hintergrund eines bestimmten Begriffs des Gewissens - als illegitim (und nicht nur, ggfs. aber auch, als unmöglich) angesehen wird, Personen dazu zu zwingen, ihre tiefsten, insbesondere religiösen Überzeugungen aufzugeben, solange diese nicht zu politisch und ethisch »inakzeptablen« Konsequenzen führen. Gemäß der Erlaubnis-Konzeption bedeutet Toleranz also, dass die Autorität oder Mehrheit, die die Macht und Möglichkeit hätte, ein-zuschreiten und die Minderheit zur (zumindest externen) Konformität zu zwingen, deren Differenz »duldet« und auf eine Intervention verzichtet, während die Minderheit gezwungen ist, die Machtposition der Autorität hinzunehmen. Die Toleranzsituation ist somit nicht-reziprok: Die eine Seite erlaubt der anderen gewisse Abweichungen, solange die politisch dominante Stellung der erlaubnisgebenden Seite nicht angetastet wird. Toleranz wird hierbei als permissio mali verstanden, als das Dulden einer weder als wertvoll noch als gleichberechtigt angesehenen Überzeugung oder Praxis, die jedoch nicht die »Grenzen des Erträglichen« überschreitet. Es ist diese Auffassung, die Goethe mit seinem (bereits zitierten) Diktum von der Toleranz als Beleidigung vor Augen hatte.


Die Koexistenz-Konzeption

Die zweite Konzeption der Toleranz, die Koexistenz-Konzeption, gleicht der ersten darin, dass ihr zufolge Toleranz ebenfalls als geeignetes Mittel zur Konfliktvermeidung und zur Verfolgung eigener Ziele gilt und nicht selbst einen Wert darstellt oder auf starken Werten beruht: Toleranz wird vorrangig pragmatisch-instrumentell begründet. Was sich jedoch verändert, ist die Konstellation zwischen den Toleranzsubjekten bzw. -objekten. Denn nun stehen sich nicht Autorität bzw. Mehrheit und Minderheit(en) gegenüber, sondern ungefähr gleich starke Gruppen, die einsehen, dass sie um des sozialen Friedens und ihrer eigenen Interessen willen Toleranz üben sollten. Sie ziehen die friedliche Koexistenz dem Konflikt vor und willigen in Form eines wechselseitigen Kompromisses in die Regeln eines Modus vivendi ein. Die Toleranzrelation ist somit nicht mehr, wie in der Erlaubnis-Konzeption, vertikal, sondern horizontal: die Tolerierenden sind zugleich auch Tolerierte. Die Einsicht in die Vorzugswürdigkeit eines Zustands der Toleranz hat hier freilich keinen normativen Charakter, sie ist eine Einsicht in praktische Notwendigkeiten. Somit führt sie nicht zu einem stabilen sozialen Zustand, denn verändert sich das gesellschaftliche Machtverhältnis zugunsten der einen oder anderen Gruppe, fällt für diese der wesentliche Grund für Toleranz weg. Die Koexistenz-Konzeption lässt eine schwächere und eine stärkere Lesart zu. Der ersten zufolge ist Toleranz lediglich eine Folge der Ermattung nach intensiven und erfolglosen Konflikten und Kämpfen und wird als eine Art Waffenstillstand angesehen, der nur so lange bestehen bleibt, wie nicht eine der Parteien sich rascher erholt hat und glaubt, ihr nach wie vor vorhandenes Ziel, soziale Dominanz zu er- kürliche Gewährung von Freiheiten bezeichnet ist, andererseits aber ein bestimmtes Motiv (»beneficence«) unterstellt wird, das nur eines unter vielen anderen möglichen ist. reichen, aggressiv verfolgen zu können. Eine solche Toleranzsituation ist extrem instabil und von gegenseitigem Misstrauen gekennzeichnet. Die stärkere Lesart orientiert sich an einer modifizierten Version von Hobbes' Leviathan, indem ihr zufolge die Unterordnung der verschiedenen Parteien unter eine möglichst neutrale und (entgegen Hobbes' Argumentation) auch weltanschaulich-religiös zurückhaltende Oberherrschaft es ermöglicht, dass sich dauerhafte Strukturen der Koexistenz und möglicherweise auch der Kooperation entwickeln, da ein von allen Seiten akzeptierter Rechtszustand besteht. Zwar ist für die Beteiligten nach wie vor das strategische Kalkül insgesamt handlungsleitend, doch erscheinen in ihm die Vorteile des Zustands der Koexistenz weitaus attraktiver als die anderen Alternativen. Es kann - einem »Liberalismus der Furcht« entsprechend - von einer pragmatischen Einsicht in die zu hohen Kosten der Konfrontation wie auch von einer Einsicht in die Schrecken und Grausamkeiten religiöser Konflikte geleitet sein41 und so im Prinzip der Vermeidung des summum malum einen rational-normativen Kern haben. Dieser führt jedoch nicht zu einer Form der wechselseitigen Anerkennung, die über das Dulden der Anderen hinausgeht und auf weitergehenden moralischen oder ethischen Überlegungen beruht.


Die Respekt-Konzeption

Im Unterschied hierzu geht die Respekt-Konzeption der Toleranz von einer moralisch begründeten Form er wechselseitigen Achtung der sich tolerierenden Individuen bzw. Gruppen aus. Die Toleranzparteien respektieren einander als autonome Personen bzw. als gleichberechtigte Mitglieder einer rechtsstaatlich verfassten politischen Gemeinschaft. Obwohl sich ihre ethischen Überzeugungen des guten und wertvollen Lebens und ihre kulturellen Praktiken stark voneinander unterscheiden und in wichtigen Hinsichten inkompatibel sind, anerkennen sie sich gegenseitig - und hier tut sich eine folgenreiche Alternative auf - als ethisch autonome Autoren ihres eigenen Lebens oder als moralisch und rechtlich Gleiche in dem Sinne, dass in ihren Augen die allen gemeinsame Grundstruktur des politisch-sozialen Lebens - die Grundfragen der Zuerkennung von Rechten und der Verteilung sozialer Ressourcen betreffend - von Normen geleitet werden sollte, die alle Bürger gleichermaßen akzeptieren können und die nicht eine »ethische Gemeinschaft« (z. B. eine Religionsgemeinschaft) bevorteilen. Grundlage hierfür ist der Respekt der moralischen Autonomie der Einzelnen und ihres »Rechts auf Rechtfertigung« von Normen, die reziprok-allgemeine Geltung beanspruchen. Ungeachtet der (wichtigen, doch hier nicht weiter thematisierten) Rechtfertigungsalternative zwischen einer Theorie, die - dem klassischen Liberalismus folgend - das Recht auf eine autonome Lebensgestaltung als zentral ansieht, und einem Ansatz, der den Grundsatz der unparteilichen Rechtfertigung von allgemeinen Normen der Gerechtigkeit betont, fordert die Respekt-Konzeption nicht, dass die sich tolerierenden Parteien die Konzeptionen des Guten der anderen als ebenfalls (oder teilweise) wahr und ethisch gut ansehen und schätzen müssen, sondern dass sie sie (und hier kommt die Alternative wie-der ins Spiel) als autonom gewählt bzw. als nicht unmoralisch oder ungerecht betrachten können. Respektiert wird die Person des Anderen, toleriert werden seine Überzeugungen und Handlungen. Es lassen sich zwei Modelle der Respekt-Konzeption unterscheiden, das Modell formaler Gleichheit und das qualitativer Gleichheit. Ersteres geht von einer strikten Trennung zwischen dem privaten und dem öffentlichen Raum aus, der zufolge ethische Differenzen zwischen Bürgern auf den privaten Bereich beschränkt bleiben sollten und nicht zu Konflikten in der öffentlich-politischen Sphäre führen dürfen. Als Bürger sind alle gleich, und als Gleiche stehen sie quasi »neben« oder »über« ihren privaten Überzeugungen. Dieses Modell findet sich in liberalen wie auch in republikanischen Versionen, wobei entweder die persönlich-private Freiheit im Zentrum steht oder die politische Gleichheit der Citoyens; ein Beispiel für Letzteres ist die Auffassung französischer Behörden, dass Kopftücher als religiöse Symbole in einer öffentlichen Schule keinen Platz haben. Im Kern geht es dem Modell formaler Gleichheit somit um die Verteidigung klassischer Freiheitsrechte der Bürger und um die Vermeidung ethisch begründeter Diskriminierung. Das Modell qualitativer Gleichheit hingegen reagiert darauf, dass bestimmte strikte Regelungen formaler Gleichheit Gefahr laufen, ethisch-kulturelle Lebensformen zu bevorzugen, deren Überzeugungen und Praktiken leichter mit einer solchen Trennung von »privat« und »öffentlich« vereinbar sind bzw. dem bisherigen Verständnis dieser Trennung entsprechen. Das Modell formaler Gleichheit ist so gesehen selbst potenziell intolerant und diskriminierend gegenüber Lebensformen, die eine Art öffentlicher Präsenz beanspruchen, welche der üblichen Praxis und konventionellen Institutionen widerspricht. Nach dem alternativen Modell respektieren sich Personen als solche, die rechtlich-politisch gleich sind und doch unterschiedliche, politisch relevante ethisch-kulturelle Identitäten haben, welche auf besondere Weise berücksichtigt und toleriert werden müssen, weil die diese Identität konstituierenden Werte und Überzeugungen für Personen eine besondere existenzielle Bedeutung haben. Dieser im Sinne der Fairness geforderte Respekt fordert schließlich bestimmte Ausnahmen oder Änderungen von hergebrachten Regeln und Strukturen. Wechselseitige Toleranz impliziert diesem Verständnis nach, den Anspruch anderer auf vollwertige Mitgliedschaft in der politischen Gemeinschaft anzuerkennen, ohne zu verlangen, dass sie dazu ihre ethisch-kulturelle Identität in einem reziprok nicht forderbaren Maße aufgeben müssen.


Die Wertschätzungs-Konzeption

In den Diskussionen über das Verhältnis von Multikulturalismus und Toleranz findet sich zuweilen eine vierte Konzeption, die Wertschätzungs-Konzeption genannt werden kann. Sie enthält eine anspruchsvollere Form wechselseitiger Anerkennung als die Respekt-Konzeption, denn ihr zufolge bedeutet Toleranz nicht nur, die Mitglieder anderer kultureller oder religiöser Gemeinschaften als rechtlich-politisch Gleiche zu respektieren, sondern auch, ihre Überzeugungen und Praktiken als ethisch wertvoll zu schätzen. Damit dies allerdings noch eine Konzeption der Toleranz ist und die Ablehnungs-Komponente nicht verloren geht, muss diese Wertschätzung eine beschränkte bzw. »reservierte« sein, bei der die andere Lebensform nicht - zumindest nicht in den entscheidenden Hinsichten - als ebenso gut oder gar besser als die eigene gilt. Man schätzt bestimmte Seiten dieser Lebensform, während man andere ablehnt; doch der Bereich des Tolerierbaren wird durch die Werte bestimmt, die man in einem ethischen Sinne bejaht. So entspricht dieser Toleranzkonzeption bspw. - in liberaler Perspektive - eine Version des Wertepluralismus, der zufolge es innerhalb einer Gesellschaft eine Rivalität zwischen an sich wertvollen, doch inkompatiblen Lebensformen gibt bzw. - in kommunitaristischer Perspektive - die Auffassung, dass es bestimmte, sozial geteilte Vorstellungen des guten Lebens gibt, deren partielle Variationen tolerierbar sind.