Theorien der Kriminalsoziologie (JsB)

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Theorien der Kriminalsoziologie

Delinquenz auf ein monokausales Geschehen zu reduzieren greift zu kurz. Unterschiedliche Theorien versuchen sich aus teilweise diametralen Blickwinkeln dem Phänomen zu nähern. Bei der Beurteilung von devianten und kriminellen Verhaltensweisen müssen immer die kulturellen und historischen Bedingungen beachtet werden. Nicht nur die gesellschaftliche Bewertung abweichenden oder kriminellen Verhaltens („common sense“, folkways), auch die gesetzgeberischen Entscheidungen und Ahndungen (stateways) ( V.Samar 1997, zit. nach Dimmel, Hagen 2005, Seite148), sind gebunden an die jeweiligen Macht- und Herrschaftsverhältnisse, an Orte, Zeiten, Gruppen und Situationen. Kriminalität kann unter diesen Aspekten als sozialer Konflikt verstanden werden, der durch gesetzliche Maßnahmen unter Strafe gestellt wird.

Buchtipp: Überwachen und Strafen. Die Geburt der Gefängnisse – Michel Foucault, 1976

Im Laufe der gesellschaftlichen Veränderungen entwickelte sich auch die Kriminalsoziologie weg von biologischer Disposition (sogenannten „Tätertypen“) in Richtung sozialpsychologischer Theorien.

Soziobiologische Theorie

Als Ursache für Kriminalität werden genetische Anlagen oder körperlich/geistige Anomalien gesehen. Mangelnde Intelligenz in Verknüpfung mit Aggressionsneigung werden als Grundlage für „Täterpersönlichkeiten“ oder „soziopathische Persönlichkeitsstörungen“ Dimmel/Hagen; 2005; Strukturen der Gesellschaft, Seite 160) angenommen. Dieser stark deterministische Ansatz läßt damit wenig Hoffnung auf Veränderung oder Resozialisierung zu.

Anomietheorie

Diese Theorie geht zurück auf das Anomie Konzept von Robert Merton ( in N.Passas (ed.) 1977, zit. nach Dimmel, Hagen 2005, Seite160). Er sieht Kriminalität als eine individualpsychologische Störung, die es unmöglich macht, gesellschaftlich vorgegebene Werte (wie materiellen Wohlstand, Status), die gleichwohl als erstrebenswert betrachtet werden, zu verwirklichen ( in M.Clinard (ed) 1964, zit. nach Dimmel, Hagen 2005, Seite1161). Dadurch kommt es zu Orientierungslosigkeit und Verlust an Verhaltenssicherheit. Abweichende Handlungen werden, besonders im Jugendalter aus Übermut oder in Adoleszenzkrisen, zuerst eher zufällig begangen (primäre Devianz). Verfestigt sich dieses Haltung zu einem systematischen Repertoire strafrechtlichen Verhaltens (sekundäre Devianz) kommt es zusätzlich zu gesellschaftlicher Stigmatisierung und einer Rollenzuweisungen, die es dem Täter mehr und mehr verunmöglicht zu gesellschaftlicher Konformität zurückzufinden.

Subkulturtheorie

Diese Theorie geht davon aus, dass es in jeder entwickelten Gesellschaft Gruppen gibt (street corner societies) (E.Sutherland/C.Cressey 1970, zit. nach Dimmel, Hagen 2005, Seite166), die abweichende kulturelle Werte und Verhaltensformen leben. Das abweichende Verhalten der Mitglieder wird zurückgeführt auf gestörte frühkindliche Sozialisation. In der Gruppe werden nun abweichende soziale Verhaltensnormen und Statuskriterien gelernt, die starken Zusammenhalt und Gemeinschaftsgefühl fördern.

Sozialstrukturtheorie

Abweichendes Verhalten wird erklärt durch gesellschaftliche Strukturen, wie Arbeits- und Wohn/Lebensverhältnisse, Benachteilung, soziale Ausgrenzung und mangelnden Zugang zu Bildungsressourcen. Die Theorie stützt sich darauf, dass Delikte milieuspezifisch unterschiedlich begangen, aber auch unterschiedlich sanktioniert werden. Zusätzlich werden schichtspezifische Lern- und Sozialisierungsprozesse, z.B. in peer-groups, und Gelegenheiten, abweichend zu handeln, dafür verantwortlich gesehen.

labeling approach

Dieser „Etikettierungsansatz“ (W.Rüther 1975, zit. nach Dimmel, Hagen 2005, Seite170) geht davon aus, dass deviantes Verhalten dadurch verstärkt und generalisiert wird, dass dem Täter im nachhinein negative Eigenschaften und eine kriminelle Persönlichkeit zugeschrieben werden. Durch Vorurteile, Sanktionserlebnisse, Strafen und gesellschaftlichen Konsequenzen auf seine abweichenden oder kriminellen Handlungen sieht sich der Täter mit einem Etikett versehen, das es ihm schwer macht seinen Status eines „Straffälligen“ oder „Kriminellen“ zu verändern.

biographischer Ansatz

Diese Theorie baut stark auf dem labeling approach auf. Zusätzlich verfestigt sich das abweichende Verhalten noch durch „self fulfilling prophecies“, durch retrospektive Interpretation der Persönlichkeit des Straftäters in Richtung kriminelle Karriere (H.Cremer-Schäfer 1975, zit. nach Dimmel, Hagen 2005, Seite173)und durch Erschweren des Zugangs zu legalen Verhaltensformen.

kritische Kriminologie

Die kritische Kriminologie versucht den Blick nicht nur auf den Täter und sein soziales Umfeld, sondern auch auf die Akteure der Strafverfolgung und der Sanktionierung zu richten. Das Strafrecht wird im Lichte von gesellschaftlichen Machtstrukturen und ökonomischen Ungleichheiten betrachtet. Auch auf Opferinteressen und Wiedergutmachung wird vermehrt Bezug genommen.

Literatur:
Dimmel N., Hagen JJ (2005): Strukturen der Gesellschaft. Familie, soziale Kontrolle, Organisation und Politik; WUV: Wien

V.Samar (1997): A Moral Justification for Gay and Lesnian Civil Rights Legislation, in L.Gruen/G.Panichas (ed.1997): Sex, Morality and the Law, New York, Seite 64 ff. N.Passas (ed. 1997): The Future of Anomie Theory, Boston M.Clinard (ed.1964):Anomie and Deviant Behavior, New York E.Sutherland/C.Cressey (1970): Criminology, vol.8, Philadelphia W.Rüther (1975): Abweichendes Verhalten und Labeling approach, Köln H.Cremer-Schäfer (1975): Stigmatisierung von Vorbestraften und Rückfallkriminalität, in: M.Brusten/J.Hohmeier (Hrsg. 1975): Stigmatisierung, Bd.2: Produktion gesellschaftlicher randgruppen, Darmstadt, Seite129 ff.