Text zur Prüfung, WS 2005/06: "Die Parabel"

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Die Parabel

Ein weiser, tätiger König eines großen, großen Reiches hatte in seiner Hauptstadt einen Palast von ganz unermeßlichem Umfange, von ganz besonderer Architektur.

Unermeßlich war der Umfang, weil er in selbem alle um sich versammelt hatte, die er als Gehilfen oder Werkzeuge seiner Regierung brauchte.

Die Voraussetzungen der Problemexposition:
* ein König, ein Reich, eine Hauptstadt, ein Palast, ein Hofstaat
* vergleiche: Naturreligion. Dadurch ergibt sich das Folgeproblem: Vielfalt
* "Hundertwasserhaus", vergleiche: Offenbarungsreligionen, heilige Bücher

Sonderbar war die Architektur; denn sie stritt so ziemlich mit allen angenommenen Regeln; aber sie gefiel doch und entsprach doch.

Sie gefiel vornehmlich durch die Bewunderung, welche Einfalt und Größe erregen, wenn sie Reichtum und Schmuck mehr zu verachten als zu entbehren scheinen.

Sie entsprach durch Dauer und Bequemlichkeit. Der ganze Palast stand nach vielen, vielen Jahren noch in eben der Reinlichkeit und Vollständigkeit da, mit welcher die Baumeister die letzte Hand angelegt hatten; von außen ein wenig unverständlich, von innen überall Licht und Zusammenhang.

Was Kenner von Architektur sein wollte, ward besonders durch die Außenseiten beleidiget, welche mit wenig hin und her zerstreuten, großen und kleinen, runden und viereckten Fenstern unterbrochen waren, dafür aber desto mehr Türen und Tore von mancherlei Form und Größe hatten.

Man begriff nicht, wie durch so wenige Fenster in so viele Gemächer genugsames Licht kommen könne. Denn daß die vornehmsten derselben ihr Licht von oben empfingen, wollte den wenigsten zu Sinne.

Man begriff nicht, wozu so viele und vielerlei Eingänge nötig wären, da ein großes Portal auf jeder Seite ja wohl schicklicher wäre und eben die Dienste tun würde. Denn daß durch die mehrern kleinen Eingänge ein jeder, der in den Palast gerufen würde, auf dem kürzesten und unfehlbarsten Wege gerade dahin gelangen solle, wo man seiner bedürfe, wollte den wenigsten zu Sinne.

Und so entstand unter den vermeinten Kennern mancherlei Streit, den gemeiniglich die)enigen am hitzigsten führten, die von dem Innern des Palastes viel zu sehen die wenigste Gelegenheit gehabt hatten.

Die Parabel beschreibt das Problem Einheit/Vielfalt, ohne ein Entscheidungsverfahren.

Auch war da etwas, wovon man bei dem ersten Anblicke geglaubt hätte, daß es den Streit notwendig sehr leicht und kurz machen müsse, was ihn aber gerade am meisten verwickelte, was ihm gerade zur hartnäckigsten Fortsetzung die reichste Nahrung verschaffte. Man glaubte nämlich verschiedne alte Grundrisse zu haben, die sich von den ersten Baumeistern des Palastes herschreiben sollten, und diese Grundrisse fanden sich mit Worten und Zeichen bemerkt, deren Sprache und Charakteristik so gut als verloren war.

Die ersten Baumeister? Wieder Einheit und Vielfalt. Nicht der eine Plan ist verlorengegangen, sondern es gab von Anfang an verschiedene. In welchem Verhältnis standen die zueinander? Das Problem wiederholt sich.

Ein jeder erklärte sich daher diese Worte und Zeichen nach eignem Gefallen. Ein jeder setzte sich daher aus diesen alten Grundrissen einen beliebigen neuen zusammen, für welchen neuen nicht selten dieser und jener sich so hinreißen ließ, daß er nicht allein selbst darauf schwor, sondern auch andere darauf zu schwören bald beredte, bald zwang.

Nur wenige sagten: »Was gehen uns eure Grundrisse an? Dieser oder ein andrer, sie sind uns alle gleich. Genug, daß wir jeden Augenblick erfahren, daß die gütigste Weisheit den ganzen Palast erfüllet, und daß sich aus ihm nichts als Schönheit und Ordnung und Wohlstand auf das ganze Land verbreitet. «

Sie kamen oft schlecht an, diese wenigen! Denn wenn sie lachenden Muts manchmal einen von den besondern Grundrissen ein wenig näher beleuchteten, so wurden sie von denen, welche auf diesen Grundriß geschworen hatten, für Mordbrenner des Palastes selbst ausgeschrien.

Aber sie kehrten sich daran nicht und wurden gerade dadurch am geschicktesten, denjenigen zugesellet zu werden, die innerhalb des Palastes arbeiteten und weder Zeit noch Lust hatten, sich in Streitigkeiten zu mengen, die für sie keine waren.

Agnostiker als die besten Religionsdiener!?

Einsmals, als der Streit über die Grundrisse nicht sowohl beigelegt als eingeschlummert war, - einstmals um Mitternacht erscholl plötzlich die Stimme der Wächter: »Feuer! Feuer in dem Palaste,

Und was geschah? Da fuhr jeder von seinem Lager auf, und jeder, als wäre das Feuer nicht in dem Palaste, sondern in seinem eignen Hause, lief nach dem Kostbarsten, was er zu haben glaubte nach seinem Grundrisse. »Laßt uns den nur retten!« dachte jeder; »der Palast kann dort nicht eigentlicher verbrennen, als er hier stehet!«

Und so lief ein jeder mit seinem Grundrisse auf die Straße, wo, anstatt dem Palaste zu Hilfe zu eilen, einer dem andern es vorher in seinem Grundrisse zeigen wollte, wo der Palast vermutlich brenne. »Sieh, Nachbar! hier brennt er! Hier ist dem Feuer am besten beizukommen.« - »Oder hier vielmehr, Nachbar, hier! « - »Wo denkt ihr beide hin? Er brennt hier!« - »Was hätt' es für Not, wenn er da brennte? Aber er brennt gewiß hier!« - »Lösch' ihn hier, wer da will. Ich lösch' ihn hier nicht.« - »Und ich hier nicht!« - »Und ich hier nicht!«

Über diese geschäftigen Zänker hätte er denn auch wirklich abbrennen können, der Palast, wenn er gebrannt hätte. - Aber die erschrocknen Wächter hatten ein Nordlicht für eine Feuersbrunst gehalten.


Vergleich zur Ringparabel

Ein Haus statt dreier Ringe

  • Die Ringparabel abstrahiert vorweg die Differenzen zwischen den Religionen und läßt nicht zu, dass Argumentationen sich auf historisch-kulturelle Unterschiede berufen
  • Die Parabel verbindet Einheit mit Vielfalt (nicht besonders überzeugend). Damit hält sie aber als Problem fest, dass es zwischen einem Gott und vielen Religionen keine Vernunft/Geschichte-Trennung gibt
    • nicht viele, verschiedene Unterkünfte, sondern ein gemeinsames Haus

Ein König statt eines Richters

  • Die Pointe liegt nicht darin, dass ein Richter zwischen (nach Voraussetzung) ununterscheidbaren Ringen zu wählen hat, sondern in der Spannung zwischen Dogmatismus, polymorphem Pragmatismus und Ernstfall
  • Die Parabel stellt den Aufklärerungsgedanken an eine andere Stelle: neben die anderen Gehilfen
    • damit sind sie Partei im Streit, nicht (als Richter) Partei der nächsten Instanz

Ein (Fehl-)Alarm statt eines suspendierten Urteils

  • Das zugrundliegende Dilemmas wird auf andere Weise abgehandelt. Die Ringparabel zeigt, dass unter der Voraussetzung der Vernünftigkeit zwischen den Heilsansprüchen nicht zu wählen ist und verschiebt das Urteil. Die Parabel operiert mit einem Urteil, dem Feuer als Ernstfall. Und in einem 2. (aufgesetzt wirkenden) Schritt suspendiert sie diesen Ernstfall.
  • In der Parabel werden auch die Deisten dem Urteil (Feuer) unterzogen. Dabei wird sichtbar, dass ihre Antwort fehlt
    • Die Stellung des Richters kann man gerade so definieren: Blindheit gegenüber den Grundrissen als Qualität der Metaebene
    • "das spirituelle Erbe der Weltreligionen" als Religion, als Urteilsprinzip?
    • "abgehoben", die Bodenlosigkeit als Position

"Die Parabel" legt ein anderes Muster über das Problem, als die Ringparabel. Sie ist literarisch weniger überzeugend, aber sie erlaubt in einigen philosophischen Punkten eine genauere Analyse.




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