Seminararbeit (Clara Rybaczek)

Aus Philo Wiki
Wechseln zu:Navigation, Suche

Verfasst von: Clara Rybaczek
Matrikelnummer: 0402843
Studienkennzahl: A297


Einleitung

Diese Arbeit beschäftigt sich im weitesten Sinne mit dem Verhältnis von Theater und Erziehung, oder vielmehr Bildung. Es geht aber weder um Theater, noch um Bildung allgemein, sondern zunächst um eine Richtung des Theaters, nämlich um das dokumentarische Theater der sechziger Jahre, das sich selbst als eine Form der Wahrheitsfindung beschreibt (vgl. Weiss 1968, S. 33). Sowohl durch das Aufzeigen von Verschleierung und Wirklichkeitsfälschung, als auch durch die Verknüpfung von Ereignissen mit gesellschaftspolitischen Umständen, sollen beim Publikum Erkenntnisse oder auch eine „widerstrebende Haltung“ (vgl. ebd., S. 34) provoziert werden. Das dokumentarische Theater zielt vermehrt darauf ab, Reflexionsprozesse bei den RezipientInnen hervorzurufen und ist daher auf Erziehung bzw. Bildung ausgerichtet. In einem Reflexionsprozess wird aufgenommene Information „(...) in Zusammenhänge (Kontexte) eingeordnet, bewertet und auf zu lösende Probleme bezogen (...).“ (vgl. Marotzki 2004, S. 102) und so in Wissen umgewandelt; ein solcher wissensgeneriender Prozess wird im Rahmen dieser Arbeit als Bildungsprozess verstanden. Es wird hier weiters angenommen, dass Reflexionsprozesse vermehrt dann einsetzen, wenn Menschen sich über etwas wundern, etwas also fremd erscheint.
In dieser Arbeit nun werden die Mittel in den Blick kommen, die das dokumentarische Theater verwendet, um Reflexionsprozesse und Erkenntnisse bei den Rezipierenden anzuregen. Die Fragestellung lautet: Mit welchen Mitteln zielt das dokumentarische Theater der sechziger Jahre auf einen kritischen Reflexionsprozess bei den RezipientInnen?
Dieser Reflexionsprozess wird aufgrund der dabei maßgeblichen Haltung des In-Fragestellens als „kritischer“ bezeichnet. In einem solchen wird etwa ein gesellschaftspolitischer Umstand betrachtet und beurteilt; damit das möglich wird ist eine Distanzierung nötig, die eine kritische Denkbewegung voraussetzt.
Die Methode, die zur Bearbeitung der Fragestellung angewendet wird, ist eine hermeneutische, insofern versucht wird sich dieser Theaterform verstehend anzunähern.
Es erfolgt zunächst eine Begriffsklärung des dokumentarischen Theaters der sechziger Jahre, wobei sowohl „selbstbeschreibende“ Schriften, als auch solche, die im Nachhinein versuchen wesentliche Merkmale dieser schwer fassbaren Richtung herauszuarbeiten, herangezogen werden. Es wird auch ein Blick auf die gesellschaftlichen Umstände in der Entstehungszeit geworfen, weil dadurch die Anliegen des dokumentarischen Theaters, das in der Bundesrepublik Deutschland entstand und auch vor allem dort rezipiert wurde, sichtbar und auch nachvollziehbar werden. Dabei wird vor allem herausgearbeitet, dass das dokumentarische Theater auf Erkenntnisse und Reflexionsprozesse bei den ZuschauerInnen abzielt, wobei diese hier als Bildungsprozesse verstanden werden.
Im Weiteren werden drei dokumentarische Stücke herangezogen, um bei ihnen die Mittel in den Blick zu nehmen, mit denen Reflexion und Erkenntnisse bei den RezipientInnen hervorgerufen werden sollen. Es würde den Rahmen sprengen eine umfassende Analyse der Stücke vorzunehmen. Daher werden Analysen und „Bewertungen“ anderer Autoren exemplarisch verwendet, um einige wesentliche Mittel aufzuzeigen. Es geht hier auch weniger darum alle Mittel eines Stückes darzustellen, sondern vielmehr den Möglichkeiten des dokumentarischen Theaters, quasi dem eigenen Anspruch – nämlich dem nach einer kritisch aufklärenden Wirkung (vgl. z.B. Hilzinger 1976, S. 80) – gerecht zu werden, auf die Spur zu kommen.
Bei der Dramaturgie der dokumentarischen Stücke zeigt sich eine grundsätzliche Tendenz, die geschlossene Form des Illusionstheaters aufzubrechen, da weniger die Fakten möglichst realitätsnahe dargestellt, als vielmehr in ihrem veränderlichen gesellschaftlichem und politischen Zusammenhang greifbar gemacht werden sollen. Dies geschieht vielfach über Mittel, die die Bühnenhandlung unterbrechen oder kontrastieren und die somit in Nachfolge von Bertolt Brecht und auch Erwin Piscator, der in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Zeitstücke schrieb und inszenierte, die weitgehend als Vorläufer des dokumentarischen Theaters der sechziger Jahre gehandhabt werden, stehen. Deshalb wird vor der Untersuchung der Stücke ein kurzer Exkurs zu den Mitteln bei diesen beiden Theatermachern erfolgen, um zu zeigen, welche Forderungen damit verbunden waren und wie diese zum dokumentarischen Theater der sechziger Jahre passen.

Klärung des Begriffes und der historischen Entstehungszusammenhänge

Ursprung der dramatischen Form des dokumentarischen Theaters

In den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts zeigten sich auf der Bühne wesentliche Änderungen, die Brian Barton der „Neuen Sachlichkeit“ in Literatur und Kunst zuschreibt, bei der die Kluft zwischen Kunst und Leben zugeschüttet werden soll (vgl. Barton 1987, S. 30). Künstlerisches Schaffen wird nicht mehr an der Inspiration, sondern an der wissenschaftlichen Durchdringung und Analyse des Materials (das der Wirklichkeit entnommen wird) festgemacht. Am Theater entstanden Zeitstücke, die soziale und politische Probleme der Gegenwart thematisierten (vgl. Wege/ Beck 2007, S. 1194). Die Absicht dieser Stücke war es, mehr das politische Bewusstsein zu schärfen, als einen Kunstanspruch zu stellen (vgl. Barton 1987, S. 30). Durch den Bezug auf aktuelle Problematiken geschah eine Abkehr von der illusionistischen Guckkastenbühne. Schon seit 1890 hatte das Theater, mit dem expressionistischen Drama, begonnen seine Mittel erheblich zu erweitern; so konnte das Theater der zwanziger Jahre eine starke Durchdringung der Wirklichkeit erreichen, die in ihrer Intention sogar auf eine Veränderung derselben ausgerichtet war (vgl. ebd., S. 30f).
Diese Form des politischen Theaters fand nun in den sechziger Jahren ihre Fortsetzung und auch Weiterführung. Nicht zuletzt durch Erwin Piscator, der in den zwanziger Jahren Zeitstücke und Lehrdramen schrieb und auf die Bühne brachte und in den sechziger Jahren an der Inszenierung der ersten dokumentarischen Stücke beteiligt war. Sein dokumentarischer Regiestil wird im zweiten Teil kurz dargestellt. Im Weiteren werden die gesellschaftspolitischen Umstände, unter denen das dokumentarische Theater im Westdeutschland der sechziger Jahre entstand, näher betrachtet.

Das dokumentarische Theater und seine Entstehungszeit

Das dokumentarische Theater der sechziger Jahre wurde durch die politische Landschaft Westdeutschlands maßgeblich geprägt. Es entstand in einer Zeit der „Ernüchterung und Entmythologisierung“ (ebd., S. 30), in der der Wirklichkeit mehr Aussagekraft zugesprochen wurde, als der Phantasie des Dichters (vgl. ebd., S. 49). Was auf der Bühne geschah war keine Abbildung, sondern ein Teil der Realität, weil es durch Fakten belegt wurde. „Durch die Belegbarkeit des dokumentarischen Beweismaterials sollte der Zuschauer gezwungen werden, sich mit den Kernfragen seiner Zeit auseinanderzusetzen.“ (ebd.). Diese Theaterform bildete sich in einer Zeit heraus, in der die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus öffentlich nicht toleriert und bei Seite geschoben wurde. Das dokumentarische Theater bringt ein großes Unbehagen, dieser Verdrängung gegenüber, zum Ausdruck und lässt durch seinen Faktenbezug keine Ausflüchte gegenüber dem Material zu. Durch die Dokumentierbarkeit der Fabel, unter der im klassischen Sinne die Bühnenhandlung verstanden wird (vgl. Pavis 2007, S. 371f), kehrt sich das dokumentarische Theater, laut Arnold Blumer (1977, vgl. S. 10f) nicht von der Fiktion, sondern vom Illusionären ab. Ihm scheint es das Maßgebliche der Theaterform zu sein, dass sie keine getreuen Abbilder der Wirklichkeit, also Illusion, vorgaukelt, dass also auch erfundene Szenen als solche ausgewiesen werden.
Darüber hinaus äußert sich im dokumentarischen Theater ein Glaube an die Veränderbarkeit der Gesellschaft. Schon in den Stücken Piscators sollten nur individuelle Tendenzen überwunden und in ihrer Abhängigkeit von politischen/sozialen Zusammenhängen aufgezeigt werden (vgl. ebd., S. 7). Anliegen des dokumentarischen Theaters ist es: „(...) das dokumentarisch faßbare [sic] geschichtliche Ereignis aus der Isoliertheit der einmaligen historischen Zuordnung in einen Verweisungszusammenhang zu übertragen, der dialektisch Vergangenheit und Gegenwart umschließt, indem er das Faktum in der Kontinuität des geschichtlichen Prozesses erreicht und es zugleich aus dieser Festlegung in der Kontinuität löst, um die Erkenntnis seiner gegenwärtigen Aktualität zu vermitteln.“ (Hilzinger 1976, S. 65). Die Ereignisse werden also aus dem historischen Zusammenhang erklärt, in den auch die Individuen eingeordnet werden. Sie stehen daher nicht als Personen auf der Bühne, sondern meist stehen sie für eine Geisteshaltung oder eine Tendenz. Die Geschichte wird nicht in ihrem „So gewesen Sein“ präsentiert, sondern die Zusammenhänge werden erklärt und die Geschehnisse in ihrer Abhängigkeit gleichsam als veränderbar begriffen. Durch Herstellen von Bezügen zur Gegenwart, die sich ebenso aufgrund politischer und sozialer Zusammenhänge ergibt, soll diese von den RezipientInnen als veränderbare begriffen werden. Das Dargestellte wird zum Modell „(...) das im geschichtlichen Prozeß [sic] transponierbar wird.“ (ebd.).
Es wird nun auch eine Selbstbeschreibung des dokumentarischen Theaters vorgestellt, die Peter Weiss in seinem Aufsatz „Das Material und die Modelle“ (1968) vornimmt. Dieser Aufsatz wird herangezogen, weil er den Begriff des dokumentarischen Theaters maßgeblich geprägt hat und für manche Autoren die einzige theoretische Schrift dazu darstellt (vgl. Blumer 1977, S. 32).

Das dokumentarische Theater über sich selbst

Für Peter Weiss ist dokumentarisches Theater eine Form des realistischen Zeittheaters, „(...) die sich ausschließlich mit der Dokumentation eines Stoffes befaßt [sic] (...).“ (Weiss 1968, S. 33). Obwohl es sich auf authentische „Zeugnisse der Gegenwart“ (ebd.) beruft, die inhaltlich unverändert übernommen werden, betont Weiss, dass doch ihre Form bearbeitet wird, für die Wiedergabe auf der Bühne (vgl. ebd.). Der Autor muss eine Auswahl treffen, das Material raffen und bestimmen, wie die Ausschnitte der Realität montiert, also in Sinnzusammenhänge gestellt, werden.
Das dokumentarische Theater ist zwar Teil des öffentlichen Lebens, stellt sich aber gegen die Massenmedien und ihre Tendenz zu Verschleierung, Wirklichkeitsfälschung und Lügen (vgl. ebd.). Diese Theaterform hat Eigenschaften eines politischen Protests, muss sich für Weiss aber dennoch als Kunstprodukt verstehen und unterscheiden von einer politischen Manifestation. „Denn ein dokumentarisches Theater, das in erster Hand ein politisches Forum sein will und auf künstlerische Leistung verzichtet, stellt sich selbst in Frage.“ (ebd.).
Das dokumentarische Theater versucht stets einen Gegenstand, aus Distanz, zu beobachten und zu analysieren, sodass Fakten zur Begutachtung vorgelegt werden können, wobei es aber durchaus Partei für eine Seite ergreift (vgl. ebd., S. 34). Ein Gegenstand oder Ereignis „(...) wird im dokumentarischen Theater aufmerksam, bewußt [sic] und reflektierend behandelt.“ (ebd., S. 33f). Das geschieht, indem die Zusammenhänge und Abhängigkeitsverhältnisse aufgezeigt werden und somit Konflikte, oder auch Ereignisse ihrer Einzigartigkeit enthoben werden. „Das dokumentarische Theater, dem es (...) um das Beispielhafte geht, arbeitet nicht mit Bühnencharakteren und Milieuzeichnungen, sondern mit Gruppen, Kraftfeldern, Tendenzen.“ (ebd., S. 34)
Weiters löst es sich von traditionellen ästhetischen Maßstäben und stellt keinen Anspruch, Schauplätze authentisch nachzustellen; sondern es soll, beispielsweise das einst Ausgesprochene, zu einer neuen Aussage gebracht werden, indem es in einen geschichtlichen Zusammenhang gestellt wird. Es soll dabei der Mechanismus demonstriert werden, der immer noch in die Wirklichkeit hineinragt (vgl. ebd.). Es werden daher aktuelle Stoffe gewählt, bei denen sich unverarbeitete Fakten und ein Bezug zur Gegenwart aufzeigen lassen. Hanuschek (1993, S. 94) spricht diesbezüglich vom „imperfekten Stoff“, womit er auf dessen Unbearbeitetheit und auf die Möglichkeit neue Erkenntnisse aufzuzeigen, verweist.
Dabei hat das Theater die Möglichkeit das Publikum in die Handlungen miteinzubeziehen und durch formale Verarbeitungen einen Überblick über komplexes oder aufsehenerregendes Material zu geben und auch gegensätzliche Haltungen herbeizuführen. Als Möglichkeiten zur formalen Verarbeitung nennt Weiss: Einfügen von Störungen in geschaffene rhythmische Abfolgen, Herausheben des Typischen in zusammenfassenden Elementen (durch Lieder etc.), Unterbrechungen in Berichterstattungen oder gänzliche Auflösung der Struktur (vgl. Weiss 1968, S. 34). Es darf dadurch aber keine Verwirrung gestiftet werden; oder diese soll zumindest durch anschließende Erklärungen aufgehoben werden. Weiss tritt dafür ein, „(...) daß [sic] die Wirklichkeit, so undurchschaubar sie sich auch macht, in jeder Einzelheit erklärt werden kann.“ (ebd.).
Das dokumentarische Theater stellt also nicht nur neutral Fakten dar, sondern gibt durch die, bei der Fakten-Bearbeitung entstehende Positionierung, durchaus politische Statements ab, wenn „unhaltbare“ Zustände, wie etwa Wirklichkeitsverfälschung, aufgezeigt werden. Es zielt also nicht auf eine möglichst authentische Darstellung der Wirklichkeit ab, die es den ZuschauerInnen ermöglicht sich in die Geschehnisse einzufühlen, sondern vielmehr auf eine distanzierte Rezeption, die es möglich macht, Erkenntnisse zu gewinnen.

Nachdem nun dargestellt wurde, dass die Entstehung des dokumentarischen Theaters mit den gesellschaftspolitischen Umständen der sechziger Jahre verbunden ist und dass die Annahme einer veränderbaren Gegenwart die Stoffwahl und auch die Absicht der Darstellung maßgeblich bestimmt – da eben diese Veränderbarkeit vermittelt werden und ein Reflexionsprozess oder im Idealfall sogar eine Erkenntnis, die in Veränderung resultiert, bei den RezipientInnen einsetzen soll – wird nun die Art der Darstellung in den Blick genommen. Welche Aufführungsformen erlauben eine Abkehr von der illusionären Bühnenhandlung und ermöglichen eine distanzierte Rezeption, sodass Reflexionsprozesse einsetzen können?


Mittel zur Öffnung des Bühnenraumes

Es werden hier zwei Ansätze vorgestellt, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wesentliche Neuerungen des Theaters, besonders der Aufführungsformen, nach sich zogen. Die Theatertheorien von Piscator und Brecht gelten als Grundlage des Epischen Theaters, das im zwanzigsten Jahrhundert einen Begriffswandel erlebte (vgl. Schneilin 2007, S. 349f). Ursprünglich wurde darunter eine Theaterform verstanden, die durch Einbringen nichtdramatischer Elemente (wie lyrische oder musikalische) eine Unterbrechung der Einfühlung hervorruft; durch den theoretischen und praktischen Einfluss der beiden Theatermacher (die jedoch in keiner unmittelbaren Verbindung zueinander stehen), wurde sie im Sinne einer marxistischen Weltsicht, als eine Theaterform verstanden, die durch Verfremdung, die Welt als veränderbar und veränderungswürdig darstellt (vgl. ebd.). Der Bühnenraum wird dabei insofern geöffnet, als die Illusion aufgebrochen, die Darstellung mit ihren Mitteln durchschaubar gemacht und die Handlung in Bezug auf gesellschaftspolitische Zusammenhänge dargestellt wird.

Erwin Piscators dokumentarischer Regiestil

Erwin Piscator inszenierte in den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts viele Zeitstücke, wobei sich stets ein aufklärerischer Impetus äußert (vgl. Beck 2007, S. 563). Viele der Stücke, die er auf die Bühne brachte, inszenierte er als Lehrdramen – es sollten also direkte Erkenntnisse aus den Handlungen auf der Bühne gezogen werden.
Er begreift den Menschen als politisches Wesen und auch die Bühne soll in Zusammenhang gebracht werden mit der äußeren politischen Wirklichkeit (vgl. Barton 1987, S. 41). Für die Inszenierung von „Trotz alledem!“ (1925), das als politische Revue konzipiert war, wurde erstmals der Begriff dokumentarisches Theater verwendet, da das politische Dokument die einzige Grundlage (für Text und Szene) bildet (vgl. ebd., S. 42). Das Theater bekommt bei ihm eine politisch, aufklärerische Funktion und verlangt radikale Umgestaltungen des Bühnenapparates. So kam es zum Einsatz neuer technischer Mittel, wie Film- und Textprojektionen, die simultan zur Bühnenhandlung abliefen und historische Zusammenhänge herstellten; oder zu innovativen Bühnenkonstruktionen (z.B. Etagenbühne, Segment-Globusbühne), die ebenfalls ein gleichzeitiges Ablaufen von Handlungen und Herstellen von Zusammenhängen ermöglichten (vgl. ebd., S. 42ff).
Sven Hanuschek (1993, S. 87) diagnostiziert bei Piscator: „Filme und Projektionen dienten primär nicht dem Aufbrechen eines fiktionalen, illusionistischen Bühnenraums, sondern einer Verstärkung und Beglaubigung durch die Lieferung von Informationen, die bislang vom Theater nicht geboten werden konnten.“ Während Barton (1987, S. 44) beispielsweise drei Formen von Film bei seinen Aufführungen unterscheidet: Ein „Lehrfilm“, ein „dramatischer Film“ und ein „Kommentarfilm“; wobei nur letzterer kritische Stellungnahmen beim Publikum fördern sollte; die anderen zielten insofern auf eine illusionistische Verstärkung, als sie die Bühnenhandlung nicht kontrastierten, sondern fortführten.
Bei Piscator vollzog sich durch den Einsatz entsprechender Mittel dennoch eine Hinwendung zum epischen Theater. Zu diesen epischen Mitteln rechnet Hanuschek Elemente, wie die Verbindung mit technischen Medien bzw. Mitteln, die aufwendigen Bühnenarchitekturen, Unterbrechungen (die teilweise zu Diskussionen mit dem Publikum führten) oder den Einsatz von Filmprojektionen, um größere gesellschaftspolitische Zusammenhänge herzustellen, (vgl. Hanuschek 1993, S. 84f), die er bei Piscator, wie schon erwähnt, jedoch zum Zwecke verstärkter Einfühlung durch Illusion verwendet sieht.
Im nächsten Kapitel soll nun ein Blick auf Brechts Theorie zum epischen Theater geworfen werden.

Die Verfremdung bei Bertolt Brecht

Das Kernelement von Brechts epischem Theater ist die Verfremdung. Mit ihr soll Bekanntes so dargestellt werden, dass es für die ZuschauerInnen fremd wirkt und sie aus den gewohnten Wahrnehmungsmustern reißt (vgl. Hanuschek 1993, S. 90). Laut Hanuschek verweist der Begriff „dialektisches Theater“, der beinahe Synonym zum „epischen Theater“ bei Brecht verwendet wird auf seine Sympathie gegenüber marxistischen Ansätzen und gegenüber Widersprüchen (vgl. ebd., S. 89).
Für Brecht ist eine verfremdende Abbildung „(...) eine solche, die den Gegenstand zwar erkennen, ihn aber doch zugleich fremd erscheinen läßt [sic].“ (Brecht 2005, S. 535). Verfremdungseffekte, die er als V-effekte abkürzt, gab es schon im Theater der Antike, jedoch wurde damals das Dargestellte als bizarr und unabänderlich aufgefasst. Bei ihm dagegen sollen Prozesse, die er als gesellschaftlich beeinflussbar ansieht, durch Verfremdung ihrer Vertrautheit und auch der vermeintlichen Unabänderlichkeit, enthoben werden.
Das Dargestellte soll stets als Vorläufiges präsentiert werden und das ist nur durch eine Distanzierung der SchauspielerInnen von der eigenen Figur möglich. Der/Die SchauspielerIn ist nicht die Person, die er/sie darstellt und muss auch nicht notwendigerweise die Gefühle, die dargestellt werden, haben (vgl. ebd., S. 538f). Dem Publikum wird dadurch eine größere Freiheit in der Deutung der Figur gegeben, weil auch nicht auf Einfühlung in dieselbe abgezielt wird, jedoch auf eine politische Wirkung, die durch das Aufdecken von gesellschaftlichen Widersprüchen erzielt werden soll (vgl. Buck 2007, S. 1159). Wesentlich ist, dass stets die Möglichkeit besteht „(...) mit dem Urteil dazwischen [zu] kommen (...).“ (Brecht 2005, S. 547). Das wird durch Unterbrechungen und durch Einhalten zwischen den Teilen einer Aufführung ermöglicht. Auch die „Schwesterkünste“ der Schauspielkunst (Musik, bildende Kunst etc.) ruft Brecht auf, sich am Theater zu beteiligen und sich gegenseitig zu verfremden (vgl. ebd., S. 551). Sie sollen sich quasi gegenüberstehen und nicht verbinden, dadurch eine Kommentar- oder Reflexionsebene schaffen und so für Verwunderung beim Publikum sorgen.
Das dokumentarische Theater stellt nun, wie bereits erwähnt, ebenso den Anspruch, Prozesse in ihrer Veränderbarkeit aufzuzeigen und die RezipientInnen in weiterer Folge teilweise sogar zur Veränderung derselben zu bewegen. Ein wesentlicher Unterschied zu den Stücken Brechts (und teilweise auch Piscators) liegt aber darin, dass auf Fiktion, oder vielmehr (nach Blumer 1977, S. 10) Illusion, verzichtet wird. Brecht sieht die Fabel, verstanden als die darzustellenden Vorgänge als „(...) das Herzstück der theatralischen Veranstaltung.“ (Brecht 2005, S. 546). „Das große Unternehmen des Theaters ist die ‚Fabel’, die Gesamtkomposition aller gestischen Vorgänge, enthaltend die Mitteilungen und Impulse, die das Vergnügen des Publikums nunmehr ausmachen sollen.“ (ebd.); beim dokumentarischen Theater der sechziger Jahre erfolgt eine Abkehr von der Fabel und eine Hinwendung zum Dokument – dieses soll auf die Bühne gebracht und nicht „nachgespielt“ werden.

Bezüglich der Fragestellung kann hier nun festgehalten werden, dass epische Mittel, wie sie bei Piscator und Brecht Einsatz fanden, als richtungsweisend für die des dokumentarischen Theaters der sechziger Jahre begriffen werden können. Denn jeweils soll, etwa durch Verfremdung, Distanzierung von der Bühnenhandlung und die Schaffung einer Reflexionsebene erreicht werden.
Im nächsten Teil werden drei dokumentarische Stücke, exemplarisch, hinsichtlich ihrer Mittel in den Blick genommen.


Die Mittel dokumentarischer Stücke

Die Mittel von drei Stücken werden hier näher beleuchtet. Die Wahl fiel auf je ein Stück von Rolf Hochhuth, Heinar Kipphardt und Peter Weiss, die häufig als wichtigste Vertreter des dokumentarischen Theaters genannt werden (vgl. etwa Hilzinger 1976, S. 4).
Mit der Uraufführung von Rolf Hochhuths „Stellvertreter“, 1963 in Berlin, inszeniert von Erwin Piscator, begann eine „dokumentarische Welle“ in (westdeutschen) Theatern. Das Stück zog öffentlichen Diskussionen und Stellungsnahmen nach sich und wurde bald auch im Ausland aufgeführt (vgl. Hochhuth 1998). Hochhuth beschäftigt sich in diesem Stück mit der Politik des Vatikans während des 2. Weltkriegs. Er arbeitet, durch zahlreiche Dokumente belegt - das Stück wurde gemeinsam mit über 60 Seiten Anmerkungen in Form von „Historischen Streiflichtern“ gemeinsam abgedruckt - heraus, dass Papst Pius XII. versäumt hat sich gegen den Holocaust auszusprechen. Stattdessen sympathisierte er, aufgrund politischer Berechnung, mit Hitler, den er als Schutz gegen den Kommunismus sah. Dieses Drama vermochte es „(...) Fakten einer verdrängten faschistischen Vergangenheit ins allgemeine Bewußtsein [sic] zu heben (...).“ (Hilzinger 1976, S. 39).
„In der Sache J. Robert Oppenheimer“ von Heinar Kipphardt, wurde 1964 in Berlin und in München uraufgeführt und schon davor als Fernsehspiel ausgestrahlt. Das Stück orientiert sich maßgeblich am Protokoll des Untersuchungsverfahrens gegen den Atomphysiker Oppenheimer, in dem festgestellt wurde, ob ihm, dem kommunistische Machenschaften unterstellt wurden, die Sicherheitsgarantie der us-amerikanischen Regierung erteilt werden sollte. Kipphardt thematisiert dabei die Frage, welche Verantwortung Physiker gegenüber der Gesellschaft tragen.
„Die Ermittlung“ von Peter Weiss wurde 1965 an 15 Theatern uraufgeführt. Als Grundlage des Stückes hat Weiss den Frankfurter Auschwitz-Prozess, noch vor seiner Beendung (also vor der Fällung der Urteile) verwendet. Die Aussagen sind größtenteils wörtlich übernommen, jedoch sind große Teile ausgelassen oder stark gekürzt (es gibt im Stück beispielsweise nur 9 Zeugen, in denen aber mehrere „tatsächliche“ Zeugen zusammengefasst werden). Weiss versucht keine Abbildung des Gerichtssaales oder gar von Auschwitz (indem beispielsweise das Erzählte rekonstruiert und nachgespielt wird) auf die Bühne zu bringen, sondern hält sich an die Fakten, an die Aussagen, die hier singend wiedergegeben werden. Die Ermittlung ist weniger ein Stück über Auschwitz, „(...) sondern über Auschwitz in unserer Gegenwart, über unsere Gegenwart, wie sie sich in ihrem Verhältnis zu Auschwitz darstellt (...).“ (ebd., S. 53). Es werden demnach auch nicht die geschehenen Verbrechen in Auschwitz „ermittelt“, sondern vielmehr die Verhältnisse in einer Gesellschaft, die dies ermöglicht hat und danach ein problemloses Übergleiten in die „Normalität“, da ehemalige Nazifunktionäre nach Kriegsende wieder ihren früheren Tätigkeiten nachgingen oder sogar wichtige Positionen in der Politik bekamen (vgl. ebd., S. 90).

„Der Stellvertreter“ von Rolf Hochuth

Hochhuth beruft sich bei diesem Stück größtenteils auf belegbare Fakten, ergänzt aber auch fiktive Elemente. Die Figur des Riccardo, die zum Gegenspieler des politisch berechnenden Papstes wird, beispielsweise ist zwar dem Prälaten Bernhard Lichtenberg nachempfunden, hat aber so nie existiert. Durch Hochhuths weitgehend individualisierende Darstellung wird Riccardo zum Helden stilisiert, der sein Leben in Auschwitz opfert. Ursprünglich endete der fünfte Akt in Auschwitz, mit Riccardos abzusehendem Tod (vgl. Hochhuth 1998, S. 226) es wurde jedoch bald eine gekürzte Fassung veröffentlicht und aufgeführt, die mit Riccardos Deportation nach Auschwitz endet. Dadurch wurde sowohl die viel kritisierte Darstellung von Auschwitz, als auch die Heldenhaftigkeit Riccardos entschärft.
Hilzinger bezeichnet die Dramaturgie Hochhuths als „dokumentarischen Naturalismus“ (Hilzinger 1976, S. 40f), womit er auf dessen Versuch einer umfassenden Wirklichkeitsnachahmung anspielt. Hochhuths Stück operiert mit „(...) auf emotionale Wirkungen ausgehende[r] Illusionsdramaturgie (...).“ (ebd., S. 37).
Auch Blumer (1977, S. 67f) verweist auf den naturalistischen Charakter der Darstellung: Die Ereignisse werden zwar durch Fakten belegt, dadurch aber trotzdem nur in ihrer Abfolge bestätigt. Geschichte erscheint als etwas Abgeschlossenes und Unveränderbares. „Damit geht das Stück hinter Brechts Postulat zurück, daß [sic] der Mensch als veränderlicher und verändernder zu zeigen sei (...).“ (ebd., S. 68). Hochhuth fällt somit eigentlich auch hinter die Forderungen des dokumentarischen Theaters nach der Darstellung von Sinnzusammenhängen und der „Modellierung“ vergangener Ereignisse, zurück.
Hilzinger (1976, S. 32) verweist zwar auf Regieanweisungen, die eine Darstellung von überindividuellen Bewegungskräften und gesellschaftspolitischen Bedingtheiten andeuten, sieht eine Umsetzung aber gar nicht angestrebt. Er konstatiert einen Widerspruch zwischen „(...) der Qualität der angestrebten Thematik und den zur Verfügung stehenden künstlerischen Gestaltungsformen (...).“ (ebd., S. 33).
Die Wirkungsabsicht liegt hier laut Hilzinger (vgl. ebd., S. 39) auch vielmehr in einer unmittelbaren Konfrontation der ZeitgenossInnen mit den Fakten, als in einer Dokumentierung der Umstände, die auch „überzeitliche“ Geltung beansprucht.
Für Blumer (1977, S. 71ff) verblieb die, im Stellvertreter geübte Kritik, an der Oberfläche und verursachte nur eine rasch wieder abklingende Polarisierung des Publikums, aber keine nachhaltigen Veränderungen in der Gesellschaft; Neben der Thematisierung bisher verdrängter Ereignisse in Deutschland, liegt eine wesentliche Leistung des „Stellvertreters“ laut Blumer im Aufzeigen der Möglichkeit wirklichkeitsbeeinflussender Kunst.

„In der Sache J. Robert Oppenheimer“ von Heinar Kipphardt

Heinar Kipphardt vertrat den Ansatz, dass die Wahrheit wichtiger sei als die Wirkung (vgl. Hanuschek 1993, S. 100). Er gestatte es sich nur, das Material in einer der Wahrheit entsprechenden Richtung weiterzudenken, nicht in einer, die möglichst wirkungsvoll dargestellt werden kann. Kipphardt stellt zwar ebenfalls den Einzelmenschen dar, den er als entscheidungsfähig begreift, zeigt aber, wie dessen Entscheidungen von politischen Umständen mitbestimmt werden.
Kipphardt wirft das Problem der gesellschaftlichen Verantwortlichkeit des Wissenschaftlers auf, mit dem sich auch der reale Oppenheimer hätte konfrontieren sollen (vgl. Blumer 1977, S. 231), damit entfernt er sich aber von seinem historischen Vorbild und gewinnt dem Vorfall etwas Modellhaftes ab, da eine Problemstellung, die auch in der Gegenwart aktuell ist aufgezeigt wird. „Kipphardt bringt sein Publikum dazu, über so unbequeme Dinge wie Auswirkungen ihrer Forschungen, Verantwortung der Naturwissenschaftler und erste Anzeichen von Machtmißbrauch [sic] nachdenken zu müssen, sich dadurch vom konkret ausgebreiteten Fall zu lösen (...).“ (Hanuschek 1993, S. 161).
Auf der Bühne wird die Ermittlung gegen Oppenheimer dargestellt und den ZuschauerInnen fällt die Rolle zu, das Geschehen zu beurteilen (vgl. Hilzinger 1976, S. 23). Die Darstellung zielt also nicht auf Einfühlung, sondern auf eine distanzierte Reflexion. Die Einfühlung wird durch die zur Abstraktion neigende Sprache oder durch viele monologische Einschübe erschwert, bei denen die Darsteller an die Rampe treten und sich direkt an das Publikum wenden. Auch Titelprojektionen, die Leitfragen der folgenden Szene formulieren, haben diesen Effekt (vgl. ebd.). Es werden also viele verfremdende Sprachmittel eingesetzt, die aber dennoch nicht verhindern, dass sich die ZuschauerInnen auf die Seite Oppenheimers stellen (vgl. Blumer 1977, S. 243).
Für Blumer erweisen sich diese Verfremdungseffekte, die zum Mitdenken anregen sollen, als wirkungslos, weil Kipphardt das Dilemma letztlich doch als ein unlösbares darstellt (vgl. ebd., S. 244). „(...) mit dem Schluß [sic] verbaut Kipphardt dem Zuschauer den Weg vom Mitdenken zum Umdenken. Mit Oppenheimer unterwirft er sich resigniert dem tragischen Schicksal des Wissenschaftlers in der heutigen Welt.“ (ebd., S. 245). Die neutrale Sprache ermöglicht den Zuschauenden zwar, Pro- und Contra- Argumente abzuwägen, durch den Schluss des Stückes wird Oppenheimers Schicksal aber nicht offen gehalten, sondern ihm wird die Sicherheitsgarantie vom Ausschuss nicht erteilt und er hält ein resigniertes Schlusswort (vgl. Kipphardt 1964, S. 145ff).

„Die Ermittlung“ von Peter Weiss

Das Stück hat eine zitierende Grundstruktur; es versucht nicht Fakten darzustellen, sondern verweist durch das Zitat auf die Ereignisse selbst (vgl. Hilzinger 1976, S. 51f). „Weiss (...) sieht in den Kunstmitteln eine Möglichkeit, mehr als nur Kunst zu schaffen, nämlich eine reale Wirklichkeit, innerhalb deren dem Zuschauer erst jetzt bewußt [sic] wird, daß [sic] er Teil dieser Wirklichkeit ist, daß [sic] er in sie eingreifen, sie verändern und damit auch sich selbst verändern kann.“ (Blumer 1977, S. 154).
Um einer illusionistischen Versenkung entgegenzuwirken wurde eine zweite Ebene, bestimmt durch verfremdende Elemente, geschaffen. „Besonders in diesem Stück ist die Distanzierung so wichtig, weil ja alles Geschehen in den Worten liegt. Handlung gibt es nicht (...).“ (ebd., S. 150). Die Distanzierung geschieht auch auf einer sprachlichen Ebene, da diese eine starke Stilisierung erfährt und der Prozess zum Oratorium wird. Weiss nimmt dabei Zitatmontagen vor, die Distanz von vermeintlicher historischen Einmaligkeit schaffen, aber keine falsche Distanzierung, die die Vorfälle als unerklärlich abtut, zulassen (vgl. Hilzinger 1976, S. 55f), dazu dienen der Vers, der Gesang und das Bemühen um eine möglichst emotionslose Art zu sprechen.
Die wichtigste Erkenntnisfunktion des dokumentarischen Theaters ist für Hilzinger (1976, S. 57) in der „Ermittlung“ schon angelegt: „(...) das Faktische der Vergangenheit als Herausforderung an die Gegenwart aufzubewahren.“ Jedoch ist bei vielen Aufführungen „Die Ermittlung“ als Erlebnis-Kunst inszeniert worden und versuchte die ZuschauerInnen in einen Zustand der wollüstigen Faszination zu versetzen, anstatt in einen der Reflexion, in dem der Zusammenhang zur eigenen Zeit/Wirklichkeit erkennbar wird (vgl. Blumer 1977, S. 155f).

Resümee

Wie im zweiten Kapitel dargestellt wurde ist das dokumentarische Theater der 60er Jahre in vielfacher Weise eine kritische Stellungnahme zu Ereignissen in der nahen Vergangenheit und zielt weniger auf eine exakte Wiedergabe der Dokumente, auf die stets Bezug genommen wird, sondern versucht durch Verdichtung, Montagen u.a. die Ereignisse in ihrem historischen Kontext aufzuzeigen und so auch einen Bezug zur Gegenwart und zum Leben der RezipientInnen herzustellen. Im weitesten Sinne also, zielt diese Form des Theaters auf Bildung, weil sie nämlich Reflexionsprozesse, die hier als Bildungsprozesse verstanden werden, bei den ZuschauerInnen in Gang setzen möchte.
Bezüglich der Fragestellung dieser Arbeit nach den Mitteln des dokumentarischen Theaters der sechziger Jahre, um Reflexionsprozesse bei den RezipientInnen hervorzurufen, kann nun abschließend festgestellt werden, dass einerseits das epische Theater von Piscator und Brecht eine maßgebliche Rolle spielt, hinsichtlich der Tendenz zur Öffnung des Bühnenraumes, dem Aufbrechen der Illusion der Bühnenhandlung und den dies ermöglichenden Mitteln. Andererseits wurden anhand von drei dokumentarischen Stücken einige Mittel aufgezeigt, durch die Reflexionsprozesse angeregt werden sollen, bzw. wurde überprüft, ob der Anspruch nach einer solchen Wirkung überhaupt umgesetzt wurde. Vor dem Hintergrund der erfolgten Analyse können die aufgezeigten Mittel, wenn auch stark vereinfacht, aber um der Übersichtlichkeit willen, zusammengefasst werden in interne und externe. Diese Trennung scheint sinnvoll zu sein, da bei den untersuchten Stücken einerseits durch die SchauspielerInnen und ihre Art der Darstellung eine Reflexionsebene geschaffen wird, andererseits durch externe Mittel, wie Videoprojektionen oder Kommentarstimmen. Als Beispiel für die internen Mittel können der Einsatz von verfremdender Sprache, bei „Der Ermittlung“, oder das direkte Hinwenden zum Publikum, bei Kipphardts Stück, genannt werden. Die externen Mittel hingegen, werden als abgekoppelt von den Darstellenden begriffen und sind meist technischer Natur, wie die Titelprojektionen bei Kipphardt. Mit dieser vorgenommenen Trennung wird nicht beansprucht eine wichtige Erkenntnis zu liefern, sondern sie dient bloß einem systematischeren Begreifbarmachen der Mittel, die zuvor, ungeordnet, bei jedem Stück genannt wurden.
Anschließend wäre nun das verwendete Bildungsverständnis zu problematisieren, das im knappen Rahmen der Arbeit nicht näher in den Blick genommen wurde, sowie zu überprüfen, ob denn diese Mittel, die zwar auf Bildungsprozesse zielen, tatsächlich solche hervorrufen. Diese Arbeit hat sich nur mit Forderungen der Theorie beschäftigt, aber nicht überprüft ob diese, in der Anwendung, fruchten.


Literatur (Clara Rybaczek)