Selbstbestimmende Subjektivität und externer Zwang
Aus: John McDowell: Selbstbestimmende Subjektivität und externer Zwang in: Ch. Halbig, M. Quante und L. Siep (Hrsgg.): Hegels Erbe. Frankfurt/M 2004
McDowell beginnt mit einem Begriff der Erfahrung, den er von Wilfried Sellars übernimmt. Sein Modell zur Analyse des Erfahrungsbegriffes sind ausgesprochene Behauptungen.
Warum ist dieser Zug hilfreich? Warum ist es hilfreich vorzuschlagen, dass Episoden, in denen propositionaler Gehalt vorhanden, aber nicht zum Ausdruck gebracht ist, insbesondere Erfahrungen, nach dem Vorbild von Sprechakten modelliert werden, in denen der propositionale Gehalt explizit gemacht ist? Hier ist es erhellend, Sellars' Gedanken, wenigstens insofern er für Erfahrungen gilt, als Analogie zu einem Gedanken Kants aufzufassen.
Inhaltsverzeichnis
Leitfaden
In der so genannten metaphysischen Deduktion der Kategorien, dem Abschnitt in der ersten Kritik, der als der »Leitfaden zur Entdeckung der reinen Verstandesbegriffe« bezeichnet wird, schreibt Kant: »Dieselbe Funktion, welche den verschiedenen Vorstellungen in einem Urteile Einheit gibt, die gibt auch der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen in einer Anschauung Einheit, welche, allgemein ausgedrückt, der reine Verstandesbegriff heißt.«(KrV A 79/ B 1o4 f.) Kant behauptet hier, dass Anschauungen - Fälle des sinnlichen Bewusstseins von Gegenständen - tatsächlich logische Strukturen haben können, und zwar dieselben logischen Strukturen, die Urteile haben. Darum kann ein Inventar der logischen Strukturen von Urteilen ein Leitfaden sein, um zu einer Aufzählung der Kategorien - den reinen Verstandesbegriffen - als logische Strukturen von Anschauungen zu gelangen. Und diese Bemerkung liefert einen Schlüssel dazu, wie Kant sich in der Transzendentalen Deduktion vornimmt, die »objektive Gültigkeit« der Kategorien zu rechtfertigen. Seine Idee ist, die Kategorien als Einheiten darzustellen, die für den objektiven Tenor sowohl von empirischen Urteilen als auch von Anschauungen garantieren können.
Nach Kant sollen wir uns also klar machen können, wie Anschauungen uns Gegenstände darstellen, indem wir jene so auffassen, dass sie logische Strukturen haben. Wenn wir nun den Gedanken auf dieser Abstraktionsebene formulieren, ist offensichtlich, dass es nicht des spezifischen Inventars logischer Formen bedarf, mit dem Kant arbeitet. Überdies stellt Kants Formulierung die Logik eher als Aufzählung von Urteilsformen denn als Aufzählung von Aussagen vor, und dieser Rahmen ist ebenfalls offensichtlich unwesentlich. Kants »Leitfaden« ist, dass die Arten der Einheit, aufgrund deren vielfältige Verwirklichungen repräsentationaler Fähigkeiten im sinnlichen Bewusstsein in einer einzigen Anschauung zusammenhängen, da sie einem Subjekt die objektive Realität präsentieren, dieselben sind wie die Arten der Einheit, aufgrund deren vielfältige Verwirklichungen repräsentationaler Fähigkeiten im diskursiven Denken in einem einzigen Urteil zusammenhängen, in dem ein Subjekt sich darauf verpflichtet, welchen Platz Dinge in der objektiven Realität einnehmen. Sellars' Spiel mit der Idee, dass Sprechakte als Modell für »Gedanken« und insbesondere als Modell für Erfahrungen dienen können, bringt eine verwandte Idee zum Ausdruck. Sellars lädt uns ein, anzunehmen, dass die Arten der Einheit, aufgrund deren Verwirklichungen repräsentationaler Fähigkeiten im sinnlichen Bewusstsein in einzelnen Erfahrungen zusammenhängen - und aufgrund deren Erfahrungen wenigstens vorgeben, mit der objektiven Realität, die sich uns zugänglich macht, verbunden zu sein (und es bestenfalls tatsächlich sind) -, dieselben sind wie die Arten der Einheit, aufgrund deren vielfältige bedeutsame Wortverwendungen in einzelnen Behauptungen zusammenhängen, in denen Subjekte Verpflichtungen darüber ausdrücken, welchen Platz Dinge in der objektiven Realität einnehmen.
- McDowells Überlegungen kann man sich an einem modernen Beispiel deutlich machen. Nehmen wir die (vor der Digitalisierung) gebräuchliche Foto-Theorie. Sie hat mit zwei Themenkreisen zu tun:
- * physikalisch-chemische Vorgänge
- * Abbildung
- Die Frage entsteht: wie kann ein Naturprozess die Garantie eines Darstellungsverhältnisses übernehmen? Als Antwort kann man darauf hinweisen, dass es sich um zwei auf geeignete Weise übereinandergeschichtete Sichtweisen handelt. Ein physischer Prozess wird in einen sehr spezifischen Rahmen eingebunden -- und seine Ergebnisse eignen sich darum zur Interpretation der Daten als eines fotographischen Bildes. Näher am Originaltext: die Einheit der foto-chemischen Vorlage ist bereits von der Einheit der bild-produzierenden Absicht überformt. --anna 18:53, 2. Nov 2006 (CET)
- Näheres zu diesem Punkt:
Wenn Sellars also sagt, dass Erfahrungen Behauptungen enthalten, dann legt er eine Konzeption von Erfahrungen vor, die der kantischen Konzeption von Anschauungen, wie sie in der Analytik der ersten Kritik, und besonders in der Transzendentalen Deduktion ausgearbeitet ist, wenigstens sehr nahe steht. In »Der Empirismus und die Philosophie des Geistes« stellt Sellars sein Denken über Erfahrung nicht in eine Linie mit dem Kants. Aber der kantische Charakter seines Denkens wird in seinem Kantbuch, Science and Metaphysics: Variations on Kantian Themes (1967) deutlich, das er als Fortsetzung von »Der Empirismus und die Philosophie des Geistes« beschreibt (S. viii). In diesem Kantbuch stellt Sellars unter anderem seine grundlegenden Gedankengänge aus »Der Empirismus und die Philosophie des Geistes« mit einer Lesart von Kants erster Kritik in einen neuen Zusammenhang. Er besteht zu Recht darauf, dass spätestens dann, wenn wir beim »Leitfaden« und der Transzendentalen Deduktion angekommen sind, klar sei, dass das, was Kant unter der Bezeichnung »Anschauungen« fasst, nicht jene angeblich unmittelbaren Gegebenheiten sind, die in der empiristischen Version des »Rahmens der Gegebenheit« vorkommen - Operationen der sinnlichen Rezeptivität, die als vorrangig gegenüber und unabhängig von jeder Einbeziehung des Verstandes begriffen werden -, sondern Episoden sinnlicher Rezeptivität, die schon durch den Verstand strukturiert sind. Anschauungen, wie sie in der Transzendentalen Deduktion vorkommen, sind qua Anschauungen Fälle sinnlicher Rezeptivität, aber der Grundgedanke des »Leitfadens« Kants besteht darin, dass sie auf die gleiche Weise vereinheitlicht werden, die auch Urteile vereinheitlicht. Aus idiosynkratischen Gründen, die uns hier nicht beschäftigen müssen, denkt Sellars, dass die repräsentationalen Fähigkeiten, die mit den relevanten Arten der Einheit in den primitivsten kantischen Anschauungen verwirklicht werden, nur protobegrifflich, also noch nicht vollständig begrifflich sind - noch nicht empfänglich dafür, in Urteilen angewandt zu werden (S. 4-7). Er distanziert sich aber von diesem Aspekt der Auffassung Kants. In Sellars' eigenem Denken, das er nun explizit als kantisch inspiriert darstellt, sind Erfahrungen Verwirklichungen von begrifflichen Fähigkeiten im sinnlichen Bewusstsein, die in vereinheitlichten Erfahrungen durch solche Einheiten zusammenhängen, die die Einzelheit von Urteilen konstituieren, welche wiederum solche Einheiten sind, die die Einzelheit von Behauptungen konstituieren.
Deshalb können wir Sellars' Vorstellung, der zufolge Erfahrungen Behauptungen machen oder Propositionen enthalten, als eine Variante der kantischen Konzeption von Anschauungen als kategorial vereinigten verstehen.
Freiheit
4. In Kants Interpretation von Anschauungen - von der ich behaupte, dass sie Sellars' Konzeption von Erfahrungen entspricht - wird die Bedeutung der Selbstbestimmung ausgelotet, wenn Kant sich auf die Spontaneität des Verstandes beruft. Wir können zwei Variationen dieser Verbindung zwischen dem Verstand und einer Idee der Freiheit näher betrachten. Erstens besteht der paradigmatische Modus der Verwirklichung begrifflicher Fähigkeiten im relevanten Sinne im Urteilen, das heißt in frei verantwortlicher kognitiver Aktivität, im Sich-Bilden einer Meinung. Zweitens - und abstrakter gefasst - konstituieren Begriffe Normen kognitiver Aktivität, und der Kern der Idee der Selbstverwirklichung besteht darin, dass die Autorität jeglicher Normen, welche Aktivität sie auch immer regulieren, so beschaffen sein muss, dass sie von den Subjekten, die diese Aktivität ausführen, frei anerkannt werden kann.
Kant scheint der ersten dieser beiden Anmerkungen manchmal selbst ein unangemessenes Gewicht beizumessen. Er spricht so, als wären Beispiele für die Art Einheit, aufgrund deren Anschauungen sich verständlicherweise auf Gegenstände beziehen, ähnlich wie Beispiele für die Art Einheit, aufgrund deren zu urteilen bedeutet, sich darauf festzulegen, wie Dinge sind, insofern in beiden Fällen die Einheit aktiv von einem Subjekt hergestellt wird. Zum Beispiel sagt er in der Transzendentalen Deduktion, dass jede Verbindung eines Mannigfaltigen, jede Repräsentation von etwas als komplexe Einheit, »wir mögen uns ihrer bewusst sein oder nicht, [...] eine Verstandeshandlung [ist]« (KrV, B 130). Damit behauptet er, dass die in der Anschauung manifestierte Einheit durch einen Akt der Freiheit zustande kommt, obwohl dies ein Akt sein mag, dessen wir uns vielleicht nicht bewusst sind.
- Um beim Beispiel des Fotos zu bleiben, zeichnet sich hier die Auseinandersetzung zwischen Realismus und Konstruktivismus ab. Welche Rolle kommt den Lichteffekten, die ein Foto bewirken, zu? Sie werden unmöglich von der Kameraführung hervorgerufen. Bilden sie die Garantie für das externe Bestehen des Abgebildeten? Oder reicht die Tätigkeit der Kamerafrau soweit, dass sie auch diese Effekte einschließt? Das hieße, jedes Bild ist ohne Rest von einer Person verfertigt. McDowells erkenntnistheoretische Pointe läßt sich so paraphrasieren: Der Ausseneffekt muss (und kann nicht) geleugnet werden, aber er ist in ein Setting eingebunden, in dem die physische Komponente in einer zusätzlichen Kodierung eine Rolle beim Abbilden übernimmt. Wer eine Holzlatte (statt eines Gummibandes) als Maßstab wählt, trifft eine Auswahl, die mit einer ähnlichen Doppelkodierung operiert.
Nun ist die Vorstellung, dass wir manchmal Freiheit ausüben, ohne uns dessen bewusst zu sein, bestenfalls merkwürdig. Und in jedem Fall passt der Verweis auf willentliches Handeln nicht gut zu der Idee, dass Anschauungen Vorgänge der Rezeptivität sinnlichen Bewusstseins sind. Es liegt wirklich nicht an uns, was wir wahrnehmen, mit Ausnahme von Weisen, die für das, was Kants Worte nahe legen, irrelevant sind. Zweifellos können wir unsere Wahrnehmungsaufnahme kontrollieren, zum Beispiel indem wir unsere Köpfe drehen, aber das heißt nicht eine Freiheit auszuüben, »Repräsentationen« in einzelne Anschauungen zusammenzuführen. In der Tat fällt es uns leichter, anzuerkennen, dass das, was wir wahrnehmen, abgesehen von den genannten Irrelevanzen, nicht an uns liegt. Das scheint erforderlich zu sein, wenn wir Wahrnehmung als das Aufnehmen der objektiven Realität betrachten wollen und folglich in der Lage sein sollten, einer verständlichen Motivation dafür zu genügen, dass wir an die Unmittelbarkeiten glauben, die Wissen im traditionellen Empirismus begründen sollen, auch wenn wir den Rahmen der Gegebenheit vermeiden, indem wir auf begriffliche Vermittlung insistieren. Es ist ein Missverständnis, anzunehmen, Kants »Leitfaden« impliziere, dass die Einheit einer Anschauung selbst durch freie kognitive Aktivität zustande kommt. Urteilen, eine der Veranschaulichungen der Arten von Einheit, um die es im »Leitfaden« geht, ist eine freie kognitive Aktivität; Anschauungen zu haben, der andere Bereich solcher Arten von Einheit aber nicht. Der Punkt ist lediglich, dass Einheitsarten, die Anschauungen vereinheitlichen, dieselben sind wie diejenigen, welche Urteile vereinheitlichen. Es muss verständlich sein, dass die repräsentationalen Fähigkeiten, die im Falle der Anschauungen unwillkürlich in Gang gesetzt werden, für die gemeinsame Verwirklichung mit dieser zweiten Einheitsart empfänglich sind, und das wird dadurch sichergestellt, dass es sich dabei um Fähigkeiten handelt, die im Urteilen ebenso frei ausgeübt werden können. Dies reicht aus, um die Verwandtschaft zwischen dem objektiven Tenor von Anschauungen und von Urteilen zu verorten, auf der Kant besteht. Er muss nicht davon ausgehen, dass die Bildung von Anschauungen selbst ein Ausüben von Freiheit ist, geschweige denn, dass es etwas ist, das hinter unserem Rücken stattfindet.
Dies verschiebt das Gewicht zur zweiten der beiden Anmerkungen, zur Berufung auf Freiheit. Im Dickicht der Erfahrung werden die begrifflichen Fähigkeiten, die wir haben, auf eine Weise aktiviert, die nicht bei uns liegt. Damit sie aber verständliche begriffliche Fähigkeiten im relevanten Sinn sind, also Fähigkeiten, die zur Spontaneität des Verstandes gehören, müssen wir uns, wenn wir sie aktiviert haben, gegenüber der Autorität verantwortlich fühlen, die die Normen für Gedanken setzt, welche den Inhalt der Fähigkeiten konstituieren. Und diese Unterordnung unter die Autorität liegt innerhalb des Geltungsbereichs der Selbstbestimmungsidee. Obwohl unsere Erfahrung jederzeit durch Begriffe bestimmt ist, die wir zu einem Zeitpunkt vorfinden, und außerhalb unserer Kontrolle liegt, sind wir doch über die Zeit hinweg dafür verantwortlich, sicherzustellen, dass unsere Einwilligung in Begriffe, die wir vorfinden, nicht darin besteht, uns einer fremden Autorität zu unterwerfen, die durch Dogma oder Tradition erhalten wird. Ich werde auf einige der Aspekte, die hiermit zusammenhängen, am Ende dieses Aufsatzes zurückkommen.
"manifest image" und die Sicht der Wissenschaft
5. In der Auswertung von Sellars und Kant habe ich ein Bild skizziert, das zwei Aspekte miteinander zu verbinden vermag: das es einerseits erlaubt, einen Platz für die selbstbestimmende Rationalität des kognitiven Subjekts - die Spontaneität des Verstandes - sogar in empirischer Kognition zu finden, und es andererseits ermöglicht, einen Aspekt auszumachen, in dem empirische Kognition durch Gegenstände selbst, die sich dem Bewusstsein in der Anschauung präsentieren, beschränkt wird. Auf einer abstrakten Ebene ist schon etwas erkennbar Hegel'sches an solch einem Bild, genau in dem Maße, wie es in jenen Begriffen beschrieben werden kann. Um nun einen vielleicht noch spezifischeren Hegel'schen Punkt anzusprechen, möchte ich mich nun mit einem Detail in Sellars' Version des Bildes befassen, das ich bisher ausgelassen habe. Das Problem, das ich bei diesem Aspekt von Sellars' Denken herausarbeiten möchte, lässt sich darauf zuspitzen, dass Sellars einen kantischen Zug unberücksichtigt lässt, der Hegel eine argumentative Vorlage geliefert hat. Diese Region des kantischen Denkens ist auch unabhängig von der Verbindung zu Sellars aufschlussreich für die Beziehung zwischen Kant und Hegel, aber Sellars' Einstellung zu Kant ist ein guter Einstieg in das Gebiet.
In Sellars' Lesart kommt Sinnlichkeit auf zwei verschiedene Weisen in einem authentischen kantischen Verständnis empirischer Kognition vor. Sellars ist der Auffassung, dass Kant sich hier nicht so klar ausdrückt, wie er es hätte tun sollen. Sellars zufolge braucht Kant zwei verschiedene Bezüge zur Sinnlichkeit, die er hätte klar unterscheiden sollen. Erstens setzen Anschauungen, in dem Sinne, in dem sie im »Leitfaden« und in der Transzendentalen Deduktion vorkommen, eine Sinnlichkeit voraus, die schon durch die zum Verstand zählenden Fähigkeiten geformt ist. Dies ist der Aspekt des Sellars'schen Kant, den ich untersucht habe. Aber Sellars denkt zweitens, empirisches Denken müsste durch das, was er »reine Rezeptivität« (4) nennt, geleitet sein - das heißt, durch Sinnlichkeit, die unabhängig vom Verstand funktioniert.
Für Sellars liefert diese Berufung auf »reine Rezeptivität« eine Interpretation des Gedankens, dass alles, was als empirische Kognition erkennbar ist, durch eine Realität beschränkt werden müsste, die zu kognitiver Aktivität extern ist. Hier wird, im besonderen Fall empirischen Denkens, die Anforderung der externen Beschränkung angewendet, welche die zweite Seite meines Themas ist. Man könnte denken, dass dieser Anforderung der externen Beschränkung durch die Art und Weise entsprochen wird, in der das kantische Modell die Präsenz von gewöhnlichen wahrnehmbaren Gegenständen für das Bewusstsein enthält, die durch das Begreifen von Anschauungen als Fällen einer vom Verstand geformten sinnlichen Rezeptivität verständlich gemacht werden. Ermöglicht uns dies nicht, zu sehen, wie Gegenstände, indem sie sich selbst dem sinnlichen Bewusstsein präsentieren, selbst eine rationale Kontrolle darüber ausüben, wie über sie gedacht wird? Doch das ist nicht Sellars' Auffassung.
Sellars meint vielmehr, dass die gewöhnlichen Gegenstände, die für das Bewusstsein in Wahrnehmungsanschauungen vorhanden sind, strikt unwirklich sind. Er denkt, dass »wissenschaftlicher Realismus« einer solchen Leugnung der Realität jener Konstituenten des, wie er es ausdrückt, manifesten Bildes bedarf. Es können nicht jene bloß scheinbar gewöhnlichen Gegenstände sein, welche die Quelle der erforderlichen Beschränkung durch eine externe Realität sind. Was wirklich existiert, sind die Konstituenten des wissenschaftlichen Weltbildes, die jenen bloß scheinbar gewöhnlichen Gegenständen entsprechen: Schwärme von Elementarpartikeln oder etwas von dieser Art. Empirische Kognition kann genuin externer Beschränkung nur vermittels der Wirkung auf unsere Sinne durch jene genuin wirklichen Gegenstände unterworfen sein. Sellars bringt dies als eine Interpretation von Kants Unterscheidung zwischen phänomenalen Gegenständen als Konstituenten des manifesten Weltbildes und Dingen an sich vor, die Sellars mit den Konstituenten des wissenschaftlichen Weltbildes identifiziert.
Dieser Teil von Sellars' Denken ist mit einem weiteren Merkmal seiner Kant-Lesart verbunden. Bisher haben wir gesehen, dass für Sellars die erforderliche externe Beschränkung der empirischen Kognition durch solche Sinnlichkeit zur Geltung gebracht werden muss, die unabhängig vom Verstand funktioniert, und nicht durch Sinnlichkeit, die vom Verstand geformt wird, als rufe sie Anschauungen hervor, wie sie in Kants »Leitfaden« und in der Transzendentalen Deduktion vorkommen, also Erscheinungen, durch gewöhnliche - phänomenale - Gegenstände sinnlich konfrontiert zu sein. Bisher habe ich von einer »wissenschaftlich realistischen« Motivation für dieses Merkmal von Sellars' Denken gesprochen. Aber die »wissenschaftlich realistische« Motivation konvergiert mit Sellars' Lesart des Gedankens, den Kant in der Transzendentalen Ästhetik ausarbeitet, dass unsere Sinnlichkeit ihre eigenen Formen - Räumlichkeit und Zeitlichkeit - in die Kooperation mit dem Verstand einbringt. Wie Sellars anmerkt, handelt es sich eben bei dem, was Kant als die Formen unserer Sinnlichkeit diskutiert, um bestimmte formale Merkmale der Art und Weise, wie Dinge in Anschauungen dargestellt werden, und zwar so wie sie im »Leitfaden« und in der Transzendentalen Deduktion vorkommen, das heißt als Anschauungen, die schon durch den Verstand geprägt sind. Aber in Sellars' Sichtweise geht Kant hier fehl. Er zeigt, dass Kant einen Punkt nicht angemessen würdigt, den sein eigener Gedanke eigentlich erfordern würde. Aus Sellars' Sicht sollte der zentrale Gedanke der Ästhetik der sein, dass unsere Sinnlichkeit ihre Formen eigenständig und unabhängig von ihrer Kooperation mit dem Verstand hat. Folglich ist es nicht nur so, dass besondere Fälle externer Beschränkung des empirischen Denkens eine Sache von Einflüssen durch Konstituenten der wissenschaftlichen Sichtweise auf Sinnlichkeit sind, die angeblich unabhängig davon verstanden werden kann, wie sie mit dem Verstand kooperiert, um das manifeste Weltbild hervorzubringen. Zusätzlich ist die Form von Anschauungen als solchen als Fälle unserer tätigen Sinnlichkeit angeblich vom Verstand isoliert verständlich.
Sellarskritik, die "formalen Anschauungen" Kants
In Anbetracht von Sellars' Feindseligkeit gegenüber dem »Rahmen der Gegebenheit« ist es bemerkenswert, dass dieses Bild, von dem Sellars meint, dass Kant es hätte akzeptieren sollen, den Formen, die unsere Sinnlichkeit zur empirischen Kognition beiträgt, die Rolle bloßer Gegebenheiten beziehungsweise Unmittelbarkeiten zuschreibt, die dem Verstand zutiefst fremd sind und ihn von außen herumschubsen. Wo ich »herumschubsen« sage, sagt Sellars »leiten«, aber das klingt, auch an seinen eigenen Maßstäben gemessen, euphemistisch. Erinnern wir uns, wie er dafür plädierte, dass rationaler Input zu der Frage, was zu denken sei, nur von Geschehnissen kommen könne, die den Verstand schon einbeziehen.
Wie ich gesagt habe, denkt Sellars, Kant habe zu Unrecht die Formen außer Acht gelassen, von denen anzunehmen ist, dass unsere Sinnlichkeit sie isoliert von ihrer Kooperation mit dem Verstand aufweist. Dies ist aber schwer mit einigen hervorstechenden Bemerkungen in der Transzendentalen Deduktion, wie sie in der zweiten Auflage formuliert ist, zu vereinbaren. Dort besteht Kant explizit auf dem Merkmal der Geformtheit unserer Sinnlichkeit, von dem Sellars meint, es sei bloß ein Versehen. Kant besteht darauf, dass unsere Sinnlichkeit nicht so aufgefasst werden dürfe, als habe sie ihre Formen unabhängig von ihrer Interaktion mit dem Verstand. Wie Kant zugibt, könnte man der Transzendentalen Ästhetik entnehmen, dass er die Geformtheit unserer Sinnlichkeit als etwas auffasse, das verständlich sei, bevor wir den Verstand einbeziehen (vgl. KrV, B 160 Anm.). Dies ist genau das, von dem Sellars denkt, es sollte Kants Position sein. In der zweiten Hälfte der B-Deduktion macht Kant jedoch klar, dass er uns auffordert, uns darüber klar zu werden, dass die Ästhetik nicht so zu lesen ist, als liefere sie eine eigenständige Interpretation der Formen unserer Sinnlichkeit.
- Sinnlichkeit ist, wie W.v.O. Quine sagen würde, janusköpfig. Sie verweist auf die EIngebundenheit der Erkennenden in den Naturzusammenhang und umgekehrt ist sie in den Wirkungsbereich des abstraktiven Vermögens einbezogen, das für die Erzeugung von Wissen verantwortlich ist.
Solange es so aussieht, als habe unsere Sinnlichkeit ihre Formen unabhängig von ihrer Kooperation mit dem Verstand, kann es scheinen, als solle die Übereinstimmung mit solchen Formen eine unabhängige, hinreichende Bedingung dafür konstituieren, unseren Sinnen gegenwärtig zu sein. Und wenn Kant darauf drängt, dass Gegenstände nicht als in der Anschauung gegenwärtig zählen, solange das den Sinnen Gegebene keine kategoriale Einheit hat, kann der Eindruck entstehen, als sei das Erfordernis der kategorialen Einheit nichts Besseres als eine subjektive Auflage, die dasjenige, womit der Verstand befasst ist, aus dem herausfiltert, was bereits ohnehin unseren Sinnen gegenwärtig ist. Das gefährdet Kants Ziel, zu zeigen, dass die Kategorien den Anschauungen einen genuin objektiven Anschein sichern. In der zweiten HäIfte der B-Deduktion begegnet er dieser Gefahr mit dem Argument, dass die Verständlichkeit des Themas der Ästhetik die >formalen Anschauungen<, Raum und Zeit, voraussetzt (KrV, B 160 Anm.). Insofern diese >formalen Anschauungen< selbst Fälle der Zusammenfassung eines Mannigfaltigen in einer einzelnen Anschauung sind, fallen sie unter das Prinzip, das die gesamte Deduktion vorantreibt - dass nämlich die Einheit der Anschauungen nicht vorrangig gegenüber und unabhängig von den vereinheitlichenden Fähigkeiten des Verstandes ist. Folglich ist die Geformtheit unserer Sinnlichkeit letztlich nicht unabhängig vom Verstand, und Kant meint behaupten zu können, dass die Kategorien auf die Gegenstände zutreffen, »die nur immer unseren Sinnen vorkommen mögen« (KrV, B 159), anstatt bloß das, was den Fähigkeiten des menschlichen Verstandes angepasst werden kann, aus dem auszuwählen, was ohnehin für die Sinne vorhanden ist.
Hegel
Hegel beschreibt Kants Argument an dieser Stelle anerkennend und, wie ich denke, in zutreffender Weise wie folgt: »wo [sc. in der zweiten Hälfte der B-Deduktion] die ursprünglich synthetische Einheit der Apperzeption erst bei der Deduktion der Kategorien zum Vorschein kommt und auch als Prinzip der figürlichen Synthesis oder der Formen der Anschauung erkannt und Raum und Zeit selbst als synthetische Einheiten und die produktive Einbildungskraft, Spontaneität und absolute synthetische Tätigkeit als Prinzip der Sinnlichkeit begriffen wird, welche vorher nur als Rezeptivität charakterisiert worden war« (MM 2, S. 304 f.).
Dieser Gedanke, dem Hegel Beifall spendet, weil er Kant am meisten als »spekulativ« zeige, ermöglicht es, der von Sellars abgelehnten Idee zu folgen, dass nämlich die externe Beschränkung der empirischen Kognition, die erforderlich ist, um überhaupt nachvollziehbar Kognition zu sein, durch die Gegenstände bereitgestellt wird, welche uns durch solche Anschauungen dargeboten werden, die ihrerseits immer noch in kantischer Manier als Verwirklichungen begrifflicher Fähigkeiten in sinnlicher Rezeptivität aufgefasst werden. Es ist wahr, dass die uns durch Anschauungen dargebotenen Gegenstände in einem offensichtlichen Sinne phänomenal sind. Sie erscheinen uns in der Erfahrung. Aber aufgrund des kantischen Gedankens, dem Hegel beipflichtet, schließen wir jede Implikation aus, dass die Art und Weise, wie sie uns erscheinen, teilweise eine Reflexion von Formen ist, die unserer Sinnlichkeit, unabhängig von unserer Fähigkeit, Gegenstände zu begreifen, schlicht als factum brutum zukommen - Formen, die, wie Hegel vielleicht sagen würde, unsere Sinnlichkeit unmittelbar hat. Diese Gegenstände »phänomenal« zu nennen, muss nicht abschätzig klingen, als sagte man »bloß phänomenal, nicht genuin real«. Die Vorstellung, dass unsere Sinnlichkeit ihre eigenen Formen hat, muss nicht zu dem »wissenschaftlichen Realismus« passen, der Sellars die Wirklichkeit gewöhnlich wahrnehmbarer Gegenstände leugnen lässt.
Kant mit Hilfe Hegels
Kants offizielle Lehre von den Dingen an sich liegt sowieso nicht auf einer Linie mit Sellars' dem »wissenschaftlichen Realismus« gemäßen Lesart. Die offizielle Lehre ist, dass die Dinge, die sich uns in der Erfahrung darbieten, genau diejenigen sind, die auch als Dinge an sich begriffen werden können, indem man von der Vorstellung über unsere Fähigkeiten, Wissen über Gegenstände zu erlangen, abstrahiert (vgl. KrV, B xxvii). Die Formulierungen »Dinge an sich« und »Dinge, wie sie sich in der Erfahrung darbieten», bringen zwei verschiedene Weisen, dieselben Dinge zu begreifen, zum Ausdruck. Dies ist eindeutig nicht mit Sellars' These vereinbar, dass die Dinge, wie sie sich in der Erfahrung darbieten, unwirklich sind, das heißt Erscheinungen von Dingen an sich, die als Konstituenten des wissenschaftlichen Weltbildes begriffen werden.
Wir müssen Kant aber nicht diese These aufbürden, um Teile seiner Behandlung von Räumlichkeit und Zeitlichkeit in ähnlicher Weise unbefriedigend zu finden. Obwohl er nicht nahe legt, dass phänomenale Dinge unwirklich sind, wie Sellars dies tut, suggeriert Kant uns offenbar etwas Derartiges in Bezug auf die Merkmale, wie sie uns erscheinen, die er auf die Art und Weise zurückführt, wie unsere Sinnlichkeit an ihrem Erscheinen beteiligt ist. Er scheint uns nahe zu legen, dass jene Merkmale - die räumliche und zeitliche Ordnung der Welt, wie wir sie erfahren - bloße Reflexionen der Formen unserer Sinnlichkeit sind und, soweit wir wissen, keine Merkmale von Dingen an sich oder - noch schlimmer - ganz gewiss keine Merkmale von Dingen an sich. Das spricht für eine Schwäche in dem Sinn, in dem der Zugang zu Gegenständen mittels Anschauungen, wie er ihn begreift, als subjektive Auseinandersetzung mit dem genuin Objektiven erkannt werden kann. Dies führt jedoch zu einer Schwächung von Kants Vorstellung über unseren Zugang zu Objekten vermittels Anschauungen als einer Weise, in der Subjektivität etwas genuin Objektivem begegnet.
Wenn er aber den Schritt macht, dem Hegel in der Bemerkung über die B-Deduktion beipflichtet, und die synthetische Einheit der Apperzeption als das Prinzip nicht weniger der Formen der Anschauung als das der reinen Verstandesbegriffe (wie Hegel es ausdrückt) darstellt, dann macht Kant diesen Teil seines Denkens selbst überflüssig. Nun sollte es nicht länger so aussehen, als wären die Formen unserer Sinnlichkeit bloße Tatsachen über die Gestalt unserer Subjektivität mit der Folge, dass die Merkmale unserer Weltsicht, die von der Rolle dieser Formen in der Erfahrung herrühren, als bloße Reflexionen oder Projektionen unserer Subjektivität erscheinen. Zweifellos ist die Hauptidee einer Form endlicher oder menschlicher Kognition für sich genommen die Vorstellung von etwas, das eine bestimmte Art von Subjektivität charakterisiert. Aber ebenso wie die Vorstellung von einer Form der Kognition sollte sie gleichermaßen die Vorstellung von etwas Objektivem sein. Viel von dem, was Kant über die Formen unserer Sinnlichkeit sagt, erweckt den Eindruck, als ob wir in ihrem Fall diesen zweiseitigen Charakter der Vorstellung von Formen der Kognition nicht wirklich verwerten könnten. Wenn Kant es so darstellt, als seien die Formen unserer Sinnlichkeit bloße facta bruta unserer Subjektivität, dann wird es schwierig, sie ebenso als Formen zu sehen, durch die sich uns etwas genuin Objektives erschließt. Wenn Kant aber an der von Hegel mit Beifall bedachten Stelle die Formen der Sinnlichkeit mit den Kategorien auf eine Stufe stellt, dann macht er einen Schritt auf die Möglichkeit zu, die Formen unserer Subjektivität - ebenso wie die Kategorien - als genuine Formen der Kognition zu sehen - als Formen der subjektiven Aktivität und Formen genuiner Objektivität zugleich, auf die sich diese Aktivität bezieht (Es bedürfte natürlich eingehender Analysen, um diesen Hinweis auszubuchstabieren.)
Wenn man sie in diesem Sinne neu fasst, dann kombiniert eine kantische Anschauungskonzeption subjektive Selbstbestimmung mit objektiver Beschränkung, jetzt aber in einer Weise, die es nicht erforderlich macht, den Sinn zu relativieren, in dem das Beschränkende objektive Realität ist. Dieser Deutung zufolge können wir im Kontext empirischer Kognition der Hegel'schen Rede von der Befreiung von der Entgegensetzung des Bewusstseins Sinn geben. Die Gegenstände der Anschauung werden jetzt als vollständig objektiv begriffen, auch im Hinblick auf ihre räumliche und zeitliche Organisation. Aber ihre Andersheit gegenüber dem Bewusstsein, jedenfalls gegenüber dem Wahrnehmungsbewusstsein, ist aufgehoben, nicht abgeschafft, sondern einbezogen in eine größere Geschichte, so dass sie die selbstbestimmende Rationalität des Subjekts nicht länger zu gefährden scheint.
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