Polyzentrismus und Standpunkte

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„Gesetzt, Herkunft und Überzeugung jeder Person seien prinzipiell relativierbar. Dann fehlt die theoretische Basis des Hegemonieanspruches; Toleranz ist die plausible Konsequenz. Aber diese Voraussetzung ist fragwürdig. Der gewünschte Effekt wird teuer bezahlt. Wenn alles gleich gut ist, fehlt überall ein Schwerpunkt.“

Eine Bemerkung dazu: Ist diese Voraussetzung tatsächlich so fragwürdig? Relativieren sich „Herkunft und Überzeugung“ prinzipiell nicht andauernd im sozialen Kontakt, insofern wir ständig auf ebensolche Determinanten anderer Menschen stoßen und damit unsere gegenüber den ihrigen relativ sind (das muß zunächst nicht mehr bedeuten, als daß wir sie als solche wahrnehmen und damit schon in Beziehung zu den unsrigen gesetzt haben)? Vielleicht fehlt die „theoretische Basis des Hegemonieanspruches“ – Überzeugungen, die als solche dienen, lassen sich argumentativ doch zumeist relativ leicht in einen Regreß treiben und somit als letztendlich nicht fundiert erweisen. Dennoch weichen deren Vertreter deshalb selten schon von ihrer Überzeugung ab. Möglicherweise geht die einfache Gleichung von Relativität und Toleranz als „plausible[r] Konsequenz“ daraus an einem entscheidenden Motiv vorbei, nämlich dem „Trotzdem“, mit dem ungeachtet aller Einsicht in die Relativität einer Überzeugung diese weiterhin mit – im Maximalfall – absolutem Anspruch vertreten wird? Ist das eigentliche Problem nicht vielleicht, daß obwohl „alles gleich gut ist“, überall Schwerpunkte beansprucht werden, und müßte nicht folglich nach den Möglichkeitsbedingungen dieser Konstellation gefragt werden? --Jakob 8:55, 26.10.05

Sicher: es ist ganz unvermeidlich, dass sich in der Welt, die wir kennen, Herkunft und Überzeugung ständig als relativ erweisen. Man kann daraus schließen, dass niemand ein Recht auf Ansprüche gegen Andersdenkende hat und sich darüber wundern, warum es dennoch so viele "Besserwisserinnen (m/w)" gibt. Doch das trifft das Problem nicht. Ich stimme Jakob zu: es geht um die Frage dieses "trotzdem". Der Dokumentarfilm "Operation Spring" zeigt, wie das österreichische Justizsystem Schwarzafrikaner in hohem Mass diskriminiert. Eine Reaktion könnte sein "Na was erwartest Du Dir denn von dieser Partie?" Lennart Binder, der Verteidiger eines Beschuldigten, ist nicht so tolerant gegen die Justiz. Er vertritt einen "Hegemonieanspruch" der Gerechtigkeit - wie er sie sieht. Der knifflige Punkt ist tatsächlich, das Verhältnis zwischen flexiblen Lern- und Verständigungsprozessen und der Erfahrung, dass sie auf Grenzen stossen, die in ihnen nicht zu fassen sind.

Man kann das an Beispielen wie Franz Jägerstätter und Nelson Mandela, oder auch im Zusammenhang des Muslim Brotherhood diskutieren. --anna 09:12, 27. Okt 2005 (CEST)

Mir scheint, wird Lennart Binder als intolerant gegenüber dem Richter (der Justiz) begriffen, gibt es eine Tendenz, Toleranz - überspitzt formuliert - als ein "Ich lasse mir alles von allen gefallen, denn ich bin gegenüber von mir so empfundenem, eventuell an mir verübtem Unrecht tolerant!" zu begreifen. Ist nicht vielmehr (oder zumindest auch) der Richter intolerant, der auf den Wunsch des Anwalts nach Umdrehen des Fernsehers nicht eingeht!? Aus meiner Formulierung "ist nicht VIELMEHR..." und der damit verbundenen Wertung folgt die Frage, ob eine Gesellschaft auskommt, ohne Werte zu entwickeln und zu vertreten, die Toleranz gegenüber bestimmten Haltungen, Verhaltensweisen , etc. verbieten.--Sophie 12:00, 18. Nov 2005 (CET) (Könntest Du das bitte deutlicher formulieren? Ich verstehe den Satz nicht.-- anna 10:41, 29. Okt 2005 (CEST)) Der Satz ist so gemeint: Eine Gesellschaft versucht ihr Fortbestehen zu sichern, indem sie auf verschiedenen Ebenen für ihr Überleben sorgt: Auf physischen, psychischen, kulturellen Ebenen etc. Daher scheint es Konsens zu sein, gewisse in diesem Sinn destruktive Verhaltensweisen ("Verbrechen"), aber auch Geiseteshaltungen zu tabuisieren bzw. zu verbieten. Als Beispiel dafür sehe ich Rassismus: Es ist für eine Gesellschaft wohl destruktiv, wenn sie Rassismus (offen) toleriert! Meine Frage zielt daher darauf ab, ob es nicht für eine Gesellschaft notwendig ist, Rassismus oder noch fundamentaler z.B. Morde zu verbieten, diesen gegenüber "intolerant" zu sein. Zur Veranschaulichung: Ein Spruch der Österreichischen Sozialistischen Jugend lautet "Rassismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen!" Ist das nun Intoleranz oder die Abwehr von Intoleranz anderer oder beides? Ist dies ein Beispiel dafür, Intoleranz mit Intoleranz zu bekämpfen? Schließlich fällt mir auf, dass ich selbst und wohl auch die Lehrveranstaltung verschiedene Toleranzbegriffe vermischen/ nicht klar unterscheiden: Toleranz im grundsätzlicheren Sinn als Akzeptanz anderer Standpunkte, Lebensweisen, etc. und Toleranz als normatives, für eine Gesellschaft wünschenswertes Konzept, das als solches dann nicht Wünschenswertes ausschließen müsste.--Sophie 12:00, 18. Nov 2005 (CET)

letzterer zugang kann freilich nicht mehr als tolerant durchgehen. aber – muss er das?
alain badiou, französischer kommunist und direktor des institutes für philosophie an der école normale supérieure, gab in einem interview (2001) zu thema „das böse“ folgenden kommentar ab:
„I must particularly insist that the formula "respect for the Other" has nothing to do with any serious definition of Good and Evil. What does "respect for the Other" mean when one is at war against an enemy, when one is brutally left by a woman for someone else, when one must judge the works of a mediocre "artist," when science is faced with obscurantist sects, etc.? Very often, it is the "respect for Others" that is injurious, that is Evil.“
die bewährungsprobe für politische (?) entwürfe wie multikulturalismus, pazifismus und political correctness oder den infrage stehenden standpunkte-konstruktivismus kann aufrichtigerweise nur anhand prekärer fragen wie fundamentalismus und terrorismus, widerstand und emanzipatorischer gewalt, kultureller differenz und dergleichen erfolgen. lessings schmucke kontroverse taugt wahrscheinlich nicht, die problematik auf ein realistisches niveau zu brechen.
angesichts der ausschwitz-lüge geriete ein meta-ethischer toleranzdiskurs zur unentschuldbaren kollaboration - „dass auschwitz sich nicht wiederhole“ (adorno) ist nicht zufällig ein standpunkthafter imperativ mit dezitiertem ausschlusscharakter.

lukas 18:55, 01. November 2005

Du bist hier gerade eifrig bei der Dekonstruktion des normativen Konzepts "Toleranz". Mir drängt sich da die Frage auf: Wenn Toleranz mit die "positive Forderung der Anerkennung auch fremdartiger Verhaltensweisen" bedeutet, wie "anna" unten ausführt, könnte dann nicht auch in den Bereich toleranten Agierens fallen, Menschen/ Verhaltensweisen/ Diskurse, die fremdartige Verhaltensweisen etc. nicht tolerieren, abzulehnen? Dann wären wir allerdings bei dem Schluss: Toleranz kann bedeuten, Intoleranz gegenüber intolerant zu sein. Hier beginnt sich die Argumentation aber wohl im Kreis zu drehen. Allerdings macht die These "Toleranz kann bedeuten, Intoleranz gegenüber intolerant zu sein" sehr deutlich, wie eng doch eine real gelebte, "realistische" Toleranz an spezifische Werte und Normen gebunden ist. Wäre damit in der Praxis auch eine "kulturspezifische" Toleranz, die diesen Namen verdient, vorstellbar??--Sophie 12:00, 18. Nov 2005 (CET)

Weiter unten habe ich schon einmal damit begonnen, 2 Toleranzbegriffe zu unterscheiden. Das werde ich noch weiter ausbauen. Ich habe in meinem Beispiel aber tatsächlich zwei Aspekte rhetorisch vermischt. Einerseits Toleranz als Entscheidungsschwäche, die aus der Relativierung kommt. Das Moment der "Vertagung" führt dazu, dass man anderen schwer widersprechen kann. Und andererseits Toleranz als positive Forderung der Anerkennung auch fremdartiger Verhaltensweisen. Also die Toleranz, auf die Lennart Binder sich beruft, wenn er "intolerant" (= aggressiv gegen das laissez faire) reagiert. --anna 10:40, 29. Okt 2005 (CEST)

Mir scheint diese Unterscheidung zwar naheliegend, aber trotzdem nicht ganz unproblematisch zu sein. Kann der Aspekt bzw. Begriff der Toleranz als „positive Forderung der Anerkennung auch fremdartiger Verhaltensweisen“ unabhängig von jenem der „Entscheidungsschwäche“ überhaupt als Toleranz verstanden werden? (Ich halte das Wort „Entscheidungsschwäche“ für etwas ungünstig, da es die Unterscheidung suggestiv begünstigt, weil es in meinen Augen nicht ganz das trifft, was wir als „Toleranz“ ansprechen. Ich würde vorschlagen, den „negativen“ Aspekt der Toleranz als reflektierte Zurückhaltung des eigenen Anspruchs in Auseinandersetzung mit anderen Ansprüchen zu verstehen. Vielleicht können wir von einer Bereitschaft zur Anspruchsrelativierung sprechen? Oder habe ich falsch verstanden, was Sie mit „Entscheidungsschwäche“ meinen?) Wenn wir etwa das Binder-Beispiel als einen Fall verstehen wollen, bei dem in der Haltung gegenüber dem Richter „positive Toleranz“ (als Forderung von Fairneß usw.), nicht aber „negative Toleranz“ (als Billigung der richterlichen Verhaltensweise) exerziert wurde, so sehe ich folgende Schwierigkeit: Wenn die „positive Toleranz“ nicht in die Bestimmungslosigkeit eines beliebigen normativen Anspruchs (dies gefällt mir, jenes gefällt mir nicht, dieses billige ich, jenes nicht), d.h. in eine von einem oder mehreren Individuen vertretene dogmatische Einstellung zurückfallen soll, muß – so scheint mir wenigstens – die „negative Toleranz“ für die Bestimmung der „positiven“ wenigstens mitkonstitutiv sein. Ob man so weit gehen kann, zu sagen, daß die „negative Toleranz“ jene Verhaltensweise ist, die die „positive Toleranz“ fordert, ist eine andere Frage. Jedenfalls scheitere ich aber momentan daran, mir die Forderung der „positiven Toleranz“ unabhängig von der „negativen Toleranz“ verständlich zu machen und habe deshalb meine Zweifel, ob sich seine saubere Trennung hier wirklich durchführen läßt. Freilich: Gelänge solch eine saubere Trennung, so könnte man vielleicht dem drohenden Regreß entgehen, daß die „positive Toleranz“ als Anspruch der „negativen“ als Anspruchsrelativierung widerspricht. So sehe ich allerdings offengestanden momentan immer noch das Problem des drohenden Widerspruchs zwischen Toleranz und Dogmatismus bzw. die gleichermaßen unattraktiven Optionen, Toleranz entweder als Anspruch der allgemeinen Anspruchsrelativierung oder aber als Anspruch der selektiven Anspruchsrelativierung (d.h. diese Ansprüche sind zu relativieren, jene nicht – damit wären wir bei einem einfachen moralischen Dogmatismus unter anderen) zu verstehen. --Jakob 16:06, 2. Nov 2005 (CET)

Interessante Links zu Beiträgen über die "Operation Spring" von der ZARA (Verein für Zivilcourage und Antirassismus- Arbeit)- Homepage siehe Aktuell:Operation Spring--Sophie 12:00, 18. Nov 2005 (CET)

  • "Entscheidungsschwäche" spielt auf den - siehe, besser gesagt höre G. Polt - Umstand an, dass Toleranz in der öffentlichen Wahrnehmung auch als Mangel an Entschiedenheit und "Führungsqualität" gesehen wird.
  • Die interne Abhängigkeit verschiedener Aspekte des Toleranzbegriffs ist tatsächlich entscheidend. Wechselseitige Anerkennung allein hat nichts mit Toleranz zu tun. Eine eigentümliche Schwierigkeit liegt gerade darin, dass die Geschichte von "Toleranz" sich von Duldung zur Anerkennung entwickelt hat, sodass man sagen konnte (David Heyd), der Begriff sein überholt und würde von Gerechtigkeit abgelöst.
  • "Bereitschaft zur Anspruchsrelativierung" und Bereitschaft zur Anerkennung des Falschen/Fremden, beides wird zur Beschreibung des Begriffs benötigt. (Falsch nicht relativiert auf eine übergeordnete Instanz!)
  • Die Dialektik zwischen "negativer" und "positiver" Toleranz sehe ich so nicht. Zwischen der "Erlaubniskonzeption" und der "Wertschätzungskonzeption" (R. Forst) besteht der Zusammenhang, dass beide das Andere nicht als wahrheitsgemäß auffassen. Wenn das in eine wechselseitige Anerkennung umschlägt, ist der Boden des Toleranzbegriffes verlassen. Das Thema "selektive Anspruchsrelativierung" würde ich nicht mit moralischem Dogmatismus verbinden. Wem gegenüber jemand tolerant ist, unterscheidet sich davon, was jemand (allenfalls unbedingt) für richtig hält. Es kommt auf die Bedingungen an, denen diese Unbedingtheit selber unterliegt. (Das ist nur scheinbar paradox.)

--anna 11:06, 3. Nov 2005 (CET)

Ihrer Argumentation bezüglich positiver und negativer Toleranz kann ich offengestanden trotz Lektüre der Forst-Passagen nicht ganz folgen. Vielleicht habe ich mich schlecht ausgedrückt, aber mir ging es eigentlich nicht um eine Anerkennung der anderen Position als wahrheitsgemäß (denn damit ist, wie Sie richtig sagen, keine Toleranz mehr erforderlich). Danke für den Hinweis bezüglich der Bedeutungsverschiebung von Duldung zu Anerkennung. --Jakob 21:59, 3. Nov 2005 (CET)

Damit, daß es bei der selektiven Anspruchsrelativierung auf die Bedingungen der Selektion bzw. die Selektionskriterien ankommt, haben Sie natürlich Recht. Wohl sind diese Bedingungen auch von dem zu unterscheiden, „was man für richtig hält“. Nur: Wie sieht es mit den Bedingungen dieser Bedingungen aus? Ich sehe hier – vielleicht kurzsichtig – nur von neuem den obig skizzierten Zwiespalt (zwischen allgemeiner Toleranz und subjektivem Für-Wahr-Halten) auf einer neuen Ebene. --Jakob 21:59, 3. Nov 2005 (CET)

Meine Beiträge zu diesem Punkt sind wirklich nicht sehr klar. Wir haben, glaube ich, den größeren Zusammenhang etwas aus dem Auge verloren. Die Schwierigkeit liegt für mich gerade in der Gegenüberstellung von "allgemeiner Toleranz und subjektivem Für-Wahr-Halten". Diesen Rahmen würde ich weder für das Thema Wahrheit, noch für Toleranz akzeptieren. Um es mal plakativ zu sagen, ist das die Alternative zwischen weiser Enthaltsamkeit und ortsgebundenem Engagement. Mein Motiv: weder ist Toleranz eine Art welt-entrücktes Verhalten, noch beschränkt sich Wahrheit auf Perspektiven. Das sind aber - zugegeben - einstweilen nur Absichterklärungen. --anna 09:00, 4. Nov 2005 (CET)




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