MSE/Vo 07 (brutto)
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„Wir haben uns dieses Semester jetzt schon sehr lange mit Fragen der Antike und des Christentums beschäftigt. Das wird in dieser Vorlesung noch immer ein Thema sein, aber die Wende zur Gegenwart ist heute auch vorgesehen. Es wird insbesondere - um Ihnen das kurz vorzuskizzieren - zwei Bereiche geben, in denen ich diesen großen Sprung aus den Überlegungen aus der Zeit der Übergänge zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit in die Gegenwart skizzieren werde. Das eine ist ein Sprung, den Sie hier im Wiki bereits mit einem Personennamen signalisiert haben – das ist genau der Punkt, wo ich das letzte Mal aufgehört habe und das ist Jacques Derrida, auf den sich Walter Ong schon in einem frühen Zeitpunkt bezieht und der eine Zugangsweise zum Umgang mit Texten vorgeschlagen hat, die – wie man schon aus dieser sehr frühen, also das ist sozusagen das dritte Viertel des 20. Jahrhunderts – schon aus einer sehr frühen Bemerkung von Walter Ong erkennen kann, eine gewisse Irritation und einen gewissen Konfliktstoff bedeutet, nämlich die Grammatologie von Jacques Derrida. Was Jacques Derrida ganz unabhängig von dieser Tradition, die ich Ihnen bisher dargestellt habe, mit dem Verhältnis von Sprache und Schrift, also gesprochenes Wort und Schrift macht, das ist etwas, was die gegenwärtige Diskussion noch immer betrifft und ich werde diesen Verweis von Walter Ong eben als einen Sprungstein, ein Sprungbrett auch verwenden, in diese gegenwärtige Diskussion einzuführen. Das zweite aber, was in einem gewissen Sinn unbezogen auf diese Auseinandersetzung zwischen den Befürwortern, sagen wir es mal sehr oberflächlich, denen, die schätzen und denen, die herausarbeiten die besonderen Qualitäten der Mündlichkeit und denen, die gegen diese Privilegierung der Mündlichkeit einen Primat der Schriftlichkeit zu überlegen geben. Das ist die Ong – Derrida Diskussion sozusagen, eine zweite Sache, die an der Stelle parallel läuft und unabhängig davon diskutiert werden kann und muss, ist etwas, was man in Anschluss an Walter Ong genannt hat, nennen kann, die so genannte sekundäre Oralität. Es klingt ja wie ein schöner Fachausdruck, ist ja sehr was Einfaches, klingt sozusagen komplizierter als das, was Sie schon wissen. Walter Ong hat schon Ende des vergangenen Jahrhunderts eben seine Überlegungen, die ich noch nicht ganz fertig gemacht habe, die ich Ihnen darstellen werde, ergänzt durch einen Hinweis darauf, dass wir aus dem Zeitalter der Schriftlichkeit, der Gutenberg-Galaxis, wenn Sie das Schlagwort nehmen wollen, dabei sind uns zu entfernen, und der Hinweis von Walter Ong war: Massenmedien, Radio und Fernsehen. Insbesondere über Fernsehen hat er einen sehr interessanten und einsichtsreichen Beitrag geschrieben und hat darauf hingewiesen, dass die Rolle, die instantane, weltweit verteilte Massenkommunikation auf der Basis von Videoübertragungen, also Fernsehübertragungen, einen Zustand erzeugt im Bereich der Medien, der sich unterscheidet von dem Zustand der Bücher. Damit hat er schon eine kluge Voraussicht gemacht und was die Zwecke der Vorlesung jetzt hier betrifft, muss man dem, kann man dem noch einen weiteren Dreh geben. Und dieser weitere Dreh ist zu entnehmen aus dem Titel der Vorlesung elektronisch (mündlich, schriftlich, elektronisch) und besteht darin, dass wir heutzutage im Sinne der sekundären Oralität nicht nur gesprochenes, lebendiges Wort haben, das als gesprochenes Wort inklusive Ansichten die Kultur der Schriftübermittlung, die wir haben, sozusagen modifiziert und auch schon überlagert, sondern, und das ist ein Punkt, den Ong nicht gesehen hat und den man auch bei Derrida auf diese Weise nicht findet, den ich Ihnen hier kurz skizzenhaft sage, dass wir eine Mündlichkeit zweiter Stufe, eine Überlagerung der Schriftlichkeit heutzutage haben auf der Basis von digitaler Datenverteilung und Datenkommunikation, und dass die – um das sozusagen ganz gezielt zuzuspitzen – dass eine der faszinierendsten Situationen, die sich dadurch ergibt, die ist, dass diese quasi mündliche, also in dem Sinn von live Charakter Zugänglichkeit, Gegenwärtigkeit, Datenkommunikation, die wir haben, die also in den Eigenschaftsworten, die ich hier alle genannt habe, die Züge der Mündlichkeit trägt, dass die aufbaut auf Schriftlichkeit, nämlich auf den Internetprotokollen zum Beispiel. Also wenn Sie sich die Technik dessen, was das Internet heutzutage zum Laufen bringt, ansehen, dann sind das – einerseits digital, digital betrifft die Technik – aber das, was über die digitalisierten Kommunikationslinien transportiert wird, sind Kommandos, sind Texte, sind sozusagen nur im zweiten Fall, Sie haben natürlich auch Streaming, Videostreamings zum Beispiel oder so was sind natürlich keine Texte, aber die Basis von dem, was es ermöglicht, dass man auch Audios und Videos am Internet hat, ist Text. D.h., da gibt es eine Rolle von Text, die sehr anders aussieht als das, was Walter Ong im Auge hat und auch als das, was Derrida im Auge hat. Und auf diese Wende möchte ich Sie vorbereiten, das ist eine der Zielbestimmungen, auf die hin ich diese Vorlesung auch angelegt habe. Das wollte ich Ihnen als Beschreibung dessen, was Sie noch erwartet mal kurz sagen.
Und was ich heute tun werde, ist auf der einen Seite die (mehr oder weniger) Phänomenologie der Mündlichkeit/Schriftlichkeit von Walter Ong noch ein bisschen zu Ende zu führen, einen kurzen Hinweis darauf zu machen – weil ich das noch nicht gesagt habe, aber ich habe schon vieles vorweggenommen - inwiefern das einen interessanten Aspekt auf die Entwicklung des Christentums wirft, und dann etwas noch genauer hinein zu fokussieren auf das, was Walter Ong sagt über – ich sage es mal ganz platt – über Schriftlichkeit und Tod, Schriftlichkeit und Vergangenheit im Gegensatz zu Mündlichkeit und Leben.
Die Polemik, von der ich kurz gesprochen habe und die sich eben hier bei Walter Ong schon findet zu Derrida, sieht so aus, dass er sagt: Derrida hat darauf hingewiesen, dass es, bevor die Schrift realisiert wird, kein linguistisches Zeichen gibt. Dass man also die geredete Mitteilung nicht auf diese Art und Weise behandeln kann wie man gewohnt ist, in einem alphabetischen System Zeichen zu verwenden. Das hängt damit zusammen, dass die Entstehung der Rede - wie ich ja schon ein-, zweimal gesagt habe - in der menschlichen Entwicklung eine einigermaßen naturgegebene Affäre ist. Sozusagen: Kinder lernen reden, dazu müssen sie nicht in die Schule gehen, um das kurz zu sagen. Kinder lernen reden, so ähnlich wie sie lernen, dass sie sich nicht verbrennen sollen oder dass sie nicht einfach auf die Straße laufen dürfen. Das sind sozusagen Abläufe, die im menschlichen Organismus angelegt sind und über Jahrtausende stattfinden, ohne dass man besonders darauf achtet, welche Techniken es gibt. Darüber legt sich und das ist das, was angesprochen wird hier von Ong im Sinne von Lotmann, ein so genanntes sekundäres Modellierungssystem, eine zusätzliche Analyseebene. Diese zusätzliche Analyseebene besteht darin, dass man sagt, wir wollen jetzt nicht nur einfach sprechen, sondern wir wollen das, was im Sprechen geschieht, strukturell nach eigenen Gesetzlichkeiten analysieren, organisieren, verwalten und technisch entsprechend ausnützen. Und das klingt jetzt alles sozusagen sehr weitreichend und anspruchsvoll, ist es auch, besteht aber in nichts anderem als in diesem kleinen Schritt, der darin besteht, dass man in der Schule sitzt, und dann wird auf die Tafel geschrieben - heute wahrscheinlich nimmer mehr auf die Tafel, ich weiß es nicht – ABC, also die ABC-Schüler. Was steckt in diesem ABC? Das ABC ist eine Analyseform der gesprochenen Sprache, die sich dadurch ergibt, dass man aus den realisierten Kommunikationszusammenhängen bestimmte Features herausdestilliert, in der Volksschule sind es sozusagen Buchstaben, und aus den Buchstaben die Worte wieder zusammensetzt, von der sozusagen breiteren wissenschaftlichen Art und Weise sind das zunächst mal Phoneme. Es werden aus dem Soundevent, das uns umgibt, werden Phoneme gemacht. Phoneme unterscheiden sich von Krawall oder Vogelstimmen oder Presslufthämmern oder so was ähnliches, indem sie geregelte, wiederholbare, akustische, von Menschen erzeugte Ereignisse sind, die sich beschreiben lassen in einer Terminologie, die darauf zurückgreift, wie und wo diese Phoneme artikuliert sind, wo die entstehen. Also die Entstehungsorte der Phoneme werden herangezogen, um zu erklären, was Phoneme sind: P, T sind Plosivlaute zum Beispiel, Gutturallaute G, K, Dentallaute T. Die Beschreibung dieser akustischen Events geschieht aufgrund der Physiologie der menschlichen Wesen, die solche Laute produzieren und die gelernt haben, natürlich, das steckt dahinter, die gelernt haben, ihre Mundpartien als Artikulationsraum zu verwenden. So wird das sozusagen im ersten Zusammenhang mal wahrgenommen. Jetzt muss ich mal schauen, es gibt einen Unterschied, dass ich das nicht verwechsle, das eine sind die Phone und das andere sind die Phoneme. Ich glaube, ich habe das falsch dargestellt. Das eine ist das Phonische, diese Herstellung, die Phonetik und das andere ist die Phonologie. Was ich gerade gesagt habe, sind Phone, und die Lehre von den so erzeugten Lauten ist die Phonetik. Die Phonologie ist etwas darüber hinaus. Und die Phonologie hat einen zusätzlichen Aspekt, der darin besteht, dass man jetzt sagt, diese Phone, diese produzierten akustischen Events, die müssen irgendwie auch gesehen werden im Hinblick darauf, dass sie Bedeutung tragen, dass sie Bedeutung produzieren, dass sie etwas sagen. Dass Sie an der Stelle ein interessantes Problem haben, zeigt sich - und das ist der Anfang der linguistischen strukturalen Sprachwissenschaft, und das ist in der Philosophie mit großem Echo aufgenommen worden – es zeigt sich darin, wenn ich jetzt ein Beispiel nehme von einer phonetischen Produktion, und ich sage: Bund, Band, Bund, Band, Bund, Band oder so was ähnliches – das ist einmal das Beispiel - dann hören Sie, dass das B und das nd ungefähr gleich ist, aber dass da dazwischen was anderes ist. Das eine u, das andere a - warum ist das was anderes? Ich kann mich sozusagen vergnügen damit, ich kann mich spielen, ich kann lallen oder sonst was. Für die Zwecke der Phonologie ist es aber eine ganz besondere, markante Geschichte, das ist sozusagen ein Phonem – das, was zwischen dem B und dem nd ist, ist insofern ein Phonem, als es ein Phon ist, es sind zwei Phone und diese zwei Phone tragen aber eine Bedeutung, und das merkt man daran, dass es eine unterschiedliche Bedeutung sein kann. Dass zwischen Bund und Band inhaltlich ein Unterschied ist. Sie haben an der Stelle die Kreuzung zwischen körperlich erzeugten Lautereignissen und der Verwendung dieser körperlich erzeugten Lautereignisse für Unterschiede in einer Sprache. Der wichtigste anfängliche Unterschied einer Sprache, den Sie festmachen können, wenn Sie analysieren, wie das Ding funktioniert, ist, dass Sie ein so ein Lautereignis versuchsweise mal isolieren, und dieses Lautereignis austauschen für ein anderes Lautereignis, und dann herausfinden, da ist jetzt plötzlich eine andere inhaltliche Konnotation dabei, da funktioniert was anderes. Ein Sprachsystem mit Hilfe dieser Art von Analyse besteht darin, dass es ein Insgesamt, ein Spektrum von Unterscheidungen artikulatorischer Art gibt, aber diese Unterscheidungen artikulatorischer Art sind jetzt nicht nur einfach körperliche Unterscheidungen, sondern das sind Unterscheidungen in der Stimmproduktion, an die sich Unterscheidungen in dem, worüber gesprochen werden soll, festmachen, und das sind die Phoneme. Und wenn ich an der Stelle bin, dann habe ich Ihnen jetzt quasi einen kurzen Rückblick auf den analytischen Hintergrund dessen gebracht, was dann als Buchstabe auf der Tafel steht, weil diese Phoneme sind, was wir in Schriftzeichen in unserer Praxis niederlegen. Und diese Schriftzeichen stehen also als Kurznotationen für diese von mir eben beschriebene, durch eine analytische Betrachtungsweise erschlossene, elementare Gegebenheit von Sprechen. Wenn Sie einfach sprechen, brauchen Sie das nicht, merken Sie das nicht. Wenn Sie ein Alphabet lernen, müssen Sie aber implizit diese Form von Analyse mitvoraussetzen. Und das ist das, was man als sekundäres Modellierungssystem bezeichnen kann. Und dieses sekundäre Modellierungssystem ist nun, und das ist die Pointe im Zusammenhang mit der Mündlichkeits-/Schriftlichkeitsdiskussion, dieses sekundäre Modellierungssystem ist geradezu der Einstieg in die Textproduktion, und in die Produktion von Texten, weil, wenn Sie sich die simple Situation vorstellen, dass jemand redet und Sie sagen Nicht so schnell, ich möchte das mitschreiben oder ich sage sekundäre Oralität und Sie schreiben sozusagen schon mit. Sie können auch hin und wieder, und immer wieder bei der Transkription der Vorlesung feststellen, dass da sozusagen das Verschwimmen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit eine Rolle spielt, nämlich immer dann, wenn ich fremdartige Namen, die die transkribierende Person nicht kennt, ausspreche und das Problem entsteht, wie heißt denn der eigentlich oder wie heißt denn die eigentlich. Man kann nicht einfach davon [aus]gehen, dass man phonetisch mitschreibt, was man hört, sondern man ist angewiesen an der Stelle, beim Mitschreiben eine Regel zu befolgen, die korrekt ist, sonst wird man sozusagen nicht verständlich, sonst fehlt etwas an dieser Stelle, nämlich, es fehlt die korrekte Umsetzung der Soundevents in diese Vertextualisierung. Und an dem Beispiel merken Sie gut, dass diese Vertextualisierung eine zusätzliche Qualifikation ist und dass es etwas ist, was Ihnen zum Beispiel möglich macht, mit solchen Sachen Allgemeinheit zu erzeugen, in einem Wörterbuch nachzusehen. Ich weiß jetzt nicht, welcher Name es war, der mir aufgefallen ist bei der Rohtranskription, den ich ausgesprochen habe und der ganz einfach phonetisch und nicht korrekt transkribiert worden ist. Das Beispiel ist deswegen interessant, weil nach der nicht korrekten Transkription können Sie nicht im Wörterbuch schauen, da werden Sie nichts finden. Das ist genau ein schöner Hinweis auf das Problem, dass Sie auf der einen Seite zwar die Mühe auf sich nehmen müssen und gezwungen sind, eine korrekte Transkription zu machen, was nicht selbstverständlich ist, was nicht natürlich ist, weil es da viele Konventionen und so weiter gibt, dass aber die Belohnung, die Sie für diese Mühe bekommen, darin besteht, dass es eine Allgemeinheit erreicht, die Sie ausnützen können. Nehmen Sie nur die Vielzahl der österreichischen Dialekte, die dazu führen kann, dass bestimmte Vokale sehr unterschiedlich ausgesprochen werden, die wir mühelos verstehen, weil wir es sozusagen gelernt haben, die aber zu einem fürchterlichen Chaos führen würden, wenn wir die einfach phonetisch transkribieren, so als ob jemand, der über – sagen wir mal - Wittgenstein [ʃtaɪ̯n] redet, wenn er Engländer ist und Wittgenstin sagt, über eine andere Person reden würde. An der Stelle haben Sie sehr markant fixiert, dass wir ein großes Spektrum von Flexibilität haben in der Reaktion auf gesprochenes Material, zu verstehen, worum es da geht. Also Wittgenstein und Wittgens-tein und Wittgenstin, wenn ich das jemandem vorlege, der nichts weiß von diesem Philosophen, dann wird der sagen, sehr was anderes – Sie, weil Sie Philosophie studieren, normalisieren das ganz mühelos und diese Art von Normalisierung führt dazu, dass es eine internationale Wittgenstein-Forschung gibt, weil die zumindest entscheidend erschwert werden würde, wenn man dieses Regularisierungssystem nicht hat. Gut, lassen wir das und gehen mal hier weiter.
Derrida hat diesen Hinweis darauf, dass es kein so ein linguistisches Zeichen vor dem Schreiben gibt - den ich jetzt weitgehend erörtert habe - hat er darum gesetzt, weil es ihm wichtig ist, die Privilegierung der Sprache in Frage zu stellen und darauf hinzuweisen, auf viele, manche von den Effekten, die ich jetzt gerade erzählt habe, dass wir vieles von dem, was wir brauchen, müssen können, nur über Sprache als verschriftlichte Sprache heutzutage haben, dass wir noch nicht einmal von einem Zeichen reden können, wenn wir uns nur auf das Mündliche beziehen. Das ist für Ong quasi ein bisschen eine Provokation und ein Skandal: Dass sich Derrida als jemand, der von Saussure aus der linguistischen Inspiration des 20. Jahrhunderts kommt, dass der beginnt beim Zeichen, dass der beginnt bei einer Sprachphilosophie, die sich daran anknüpft, dass Sprache distinkte, in sich strukturell zusammenhängende Mitteilungsform ist, die ganze Basis, Voraussetzung des Strukturalismus - wenn Sie Anthropologie studieren, ist es Ihnen bekannt, wenn Sie über Strukturalismus, Post-Strukturalismus in der Sprachphilosophie studieren, ist es Ihnen bekannt. Entstanden ist der Strukturalismus Ende des 19. Jahrhunderts in der linguistischen Theorie auf der Basis der Erkenntnis, dass Sprache auf die Art und Weise mit bedeutungstragenden internen Differenzen wie Band und Bund sozusagen organisiert ist. Jemand, der wie Derrida aus dieser Tradition kommt, der sieht mit ein bisschen Skepsis auf jemanden, der sagt, wir wollen uns beschäftigen mit der Mündlichkeit und sagt, diese Mündlichkeit brauchen wir zwar, aber schließlich und endlich weise ich darauf hin: Solange wir uns mit Mündlichkeit beschäftigen, haben wir noch nicht einmal ein Zeichen. Warum? – Weil Zeichen so entstehen, wie ich es gerade beschrieben habe, aus dem Alphabet. Worauf Walter Ong repliziert, zu sagen, das stimmt zwar schon, aber es handelt sich um ein zweitstufiges Modellierungssystem but neither is there a linguistic sign after writing if the oral reference of the written text is adverted to. Das ist ein wichtiger Punkt, der so ein bisschen subtil ist. Er sagt: Ok, ich gebe zu, Zeichen sind Schriftzeichen und nicht Phone, und die Phoneme sind sozusagen auch von der Schrift inspiriert. Aber gesetzt, ich habe jetzt ein Schriftzeichen: Was mache ich mit dem Schriftzeichen? Wann ist das Schriftzeichen ein Schriftzeichen? Da sagt Walter Ong (das ist die Retourkutsche): Ein Zeichen ist ein Schriftzeichen, nur dann, wenn es als Aufzeichnung von Sprache wahrgenommen und umgesetzt wird. Wenn Sie auf der Wand hier eine Reihe von Zeichen [sehen] und hier gibt es eine Reihe von Zeichen: Das ist eine interessante Mitteilung aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert – werden Sie mir vielleicht nicht glauben. Wenn ich etwas tun sollte dafür, dass Sie mir das glauben, müsste ich das Folgende machen: Ich müsste hier mal sagen, was sind die Buchstaben, woraus setzt sich das zusammen – das ist doch einfach nur eine Schmiererei von einem Klebstoff. Was ist der Unterschied zwischen der Schmiererei von Klebstoff und dem, dass das eine Mitteilung aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert ist? Es ist zwar einerseits so, dem ist sozusagen zuzugestehen, dass es sich hier – wenn ich Ihnen das argumentieren möchte, dann muss ich Ihnen hier eine Schriftstruktur zeigen, dann muss ich Ihnen zeigen, dass es sich hier um Zeichen handelt, die sich separat identifizieren lassen und für die ich etwas angeben kann, nämlich eine Codierungsfunktion, eine Darstellungsfunktion im Hinblick auf ein Kommunikationssystem, das einmal sozusagen existiert hat. Aber damit habe ich jetzt schon im zweiten Schritt etwas gesagt, wo ich der Sprache nicht entkomme, nämlich der gesprochenen Sprache nicht entkomme, weil ich habe jetzt gesagt, ich muss das, was hier aufgezeichnet ist, strukturiert betrachten als Codierung eines Kommunikationssystems. Und wie komme ich zu dem Kommunikationssystem? Das erste, was sich an der Stelle anbietet als Frage natürlich ist: Welche Sprache ist denn das, die da codiert wird? Was war denn das, was die gesprochen haben?
- Morsezeichen – kurz, lang, lang, etc.
Zum Beispiel, wenn wir sagen es sind Morsezeichen, dann ist die nächste Frage – völlig richtig, Morsezeichen ist eine Form, wo man sagen könnte, ich weiß das Alphabet, das Alphabet ist ein Morse-Alphabet. Ein bisschen urtümlich vielleicht, aber es ist ein Morse-Alphabet. Die nächste Frage ist, welche Sprache ist denn da in ein Morse-Alphabet gebracht? Es hilft mir ja nicht, wenn ich einfach nur weiß kurz-kurz-lang-lang, ich muss auch wissen, welche Laute dieses kurz-kurz-lang-lang codiert, weil nur dann kann ich daran gehen, mir zu überlegen, welche menschliche Mitteilung, die sich zunächst einmal und primär auf Gesprochenes bezieht und die analysiert wird auf ihre Phoneme, welche Mitteilung steckt hinter dieser Art von Notation. Ich will Ong jetzt hier nur schnell interpretieren und sagen, es ist schon richtig, dass wir hier diese Art von schriftlicher Mitteilung haben, aber wenn wir das wirklich verstehen wollen, dann müssen wir erst zurückgreifen auf gesprochene Sprache, die da dahinter steht und nur dann – und das sagt er allerdings auch mit einem christlichen Touch, das ist einer der Gründe, warum ich es auch instruktiv finde, hier das Christliche so ein bisschen länger zu beschreiben. Er sagt, das lebendige Wort – es gibt das lebendige Wort. Das lebendige Wort ist das, was wir verstehen können. Und dann gibt es das niedergeschriebene Wort, das verschriftlichte Wort, das uns ungeahnte Analysemöglichkeiten erschließt, das aber, ohne dass da dahinter ein lebendiges Wort ist, letztlich ein totes Wort ist. Und das ist das Thema, das Sie natürlich kennen von Platon, habe ich Ihnen schon erzählt, mit der Elternlosigkeit der Schrift.
- Es gibt ja Menschen, die keine Laute verarbeiten können (Taubstumme), die aber trotzdem eine Zeichensprache entwickelt haben. Da überspringe ich dann praktisch diese Transformationsstufe?
Das würde ich jetzt nicht sagen, weil, was dazu notwendig ist – also ich kenne mich nicht aus in dem speziellen Bereich, aber meine Vermutung wäre die folgende: Dass beim Erlernen einer Zeichensprache ein ähnlicher Prozess stattfindet wie beim natürlichen Erlernen einer normalen Sprache, nur dass ich nicht die Stimmbänder, die Organe, die wir verwenden, verwende, sondern Gesten. Also die Art und Weise, eine Gestensprache, oder eine Sprache, die zumindest etwas mit Körper zu tun hat, denke ich, wird an der Stelle auch vorausgesetzt sein. Aber Ihr Hinweis ist deswegen wichtig, weil man an der Stelle sozusagen noch schärfer das folgende sieht: Die Frage ist ja, gehen wir aus von jemandem, der noch nichts von dem hat, also ein kleiner Gschropp, der nicht anfängt zu sprechen, wenn er zwei Tage alt ist oder so. Wie kommt diese Person dazu, zu sprechen? Es geht nur in einer Gesellschaft – und ich sehe jetzt mal ab von der Schriftlichkeit – in der Menschen in der Lage sind, mit Hilfe ihrer Körper genügend differenzierte Mitteilungen zu produzieren, sodass Sie sich mit anderen verständigen können über bestimmte Ereignisse. Das muss vorausgesetzt sein. Das ist sozusagen schon [mit verpackt], da kommt man in dem Sinn überhaupt nicht ran, indem man sagt, am Anfang des Menschengeschlechts sind die Leute in der Mittelschule gesessen oder in der Volksschule gesessen und haben sich sozusagen sagen lassen, welche Buchstaben es gibt, was die göttliche Sprache ist und worin die göttliche Sprache besteht, damit man das lernen kann – sondern, in der Herausbildung der menschlichen Gesellschaft ist es jeweils notwendig, dass Gruppen, die miteinander interagieren, die nötige Differenzierung der Artikulationssyteme lernen. Diese Differenzierung brauchen sie nicht zu analysieren, zunächst einmal, es reicht, wenn – fällt mir jetzt keine spezielles, sozusagen plastisches Beispiel ein – aber es reicht, wenn die Leute in der Lage sind, Unterschiede im Zeichensystem zu verwenden als Unterschiede in der inhaltlichen Kommunikation. Wenn sie das können, dann reicht das.
- Da gab es ja das Experiment von Friedrich II. von Hohenstaufen im 13. Jahrhundert, auf der Suche nach der Ursprache. Er hat Säuglinge den Eltern weggenommen und den Ammen, die sich um diese kümmern sollten, gesagt, sie dürften nicht mit ihnen sprechen, keine Liebkosungen, keine Streicheleinheiten. Es sind fast alle Kinder gestorben, weil die Affekte, die Zuneigung und Zärtlichkeiten gefehlt haben. Daran sieht man auch die Wichtigkeit von Kommunikation oder welcher Art von Kommunikation auch immer in der Gesellschaft.
Heutzutage würde man vermutlich sagen, die Neurophysiologie des menschlichen Wesens ist so, dass sie angelegt ist darauf, bestimmte Spronting, bestimmte Inputs zu bekommen, und mit Hilfe dieser Inputs werden Gehirnprozesse, werden sozusagen die Prozesse im Gehirn, die dazu führen, dass man Fähigkeiten zur Unterscheidung und zur Kommunikation hat, angeregt. Und es reicht an der Stelle natürlich nicht, dass man Finger hat, oder eine Zunge, sondern es muss den nötigen neurophysiologischen Apparat geben, der differenziert reagiert auf diese Dinge. In Ihrem Fall würde ich jetzt sagen: Ohne die Analyse gelingt das bei normalen Sprechprozessen und Leute, die die Instrumente nicht zur Verfügung, die die normalen zur Verfügung haben, können hoffentlich – in bestimmten Umständen – sich anderer solcher Mittel bedienen. Das ist zu unterschieden, dieser ganze Komplex ist zu unterscheiden von einem anderen, nämlich, dass man, gegeben ein solches differenziertes System, so etwas machen kann, wie ich Ihnen ansatzweise vorgesprochen habe, eine Analyse dieses differenzierten Systems im Hinblick auf eine Notation, ein schriftliches Verfahren, wo man die Sachen herausabstrahiert, die da geschehen und dass man dann mit Hilfe dieser Analyse auch viel bessere Möglichkeiten hat, allenfalls Störungen, z.B. Sprachhemmungen oder was immer, besser einzutrainieren, auch auf der körperlichen Ebene. De facto ist zusätzlich zu diesem globalen Kompetenzbereich des Sprechens, ist auch, wo man den Leuten sagen kann: Ihr lernt einfach sprechen, indem ihr mit uns gut sprecht - verfügen wir natürlich auch über die Kenntnis dieser raffinierteren Sprachstrukturen und der Schwierigkeiten der Sprache, und können das einsetzen auch in der Sprecherziehung wieder. Aber dieser Einsatz in der Sprecherziehung oder z.B. das Draufkommen, dass es Kommunikationssysteme gibt, die vielleicht bestimmte Schwierigkeiten nicht haben, die sich bei anderen ergeben, das ist dann ein sekundärer Effekt.
Wir sind jetzt dabei, um das zusammenzufassen, was Walter Ong an der Stelle sagt und was ich durch die Hinweise auf diesen Morsecode hier verdeutlicht habe. Für ein Script, für ein Schriftstück, ein Textfragment ist es unmöglich, dass es mehr ist als Zeichen auf einer Oberfläche – Zeichen ist auch schon zu viel eigentlich, Zeichen ist schon zweideutig, als Schwärzungen, als Einkerbungen auf einer Oberfläche, es sei denn, dass ein bewusstes menschliches Wesen diese Zeichen als Antrieb, als Ansatz für entweder reale oder vorgestellte gesprochene Worte nimmt, sei es direkt oder indirekt. D.h., der Bezug zu dieser gesprochenen Sprache, für die die Schriftsysteme eine sekundäre Modellierung sind, ist letztlich nicht wegzudenken.
Und jetzt ein bisschen mehr über das Lebendige und das Tote - diesbezüglich auch, das wird von Ong sozusagen so hergestellt, dieser Bezug, dass die Mündlichkeit, die Stimme eine Gegenwärtigkeit hat, die sich unterscheidet von der Gegebenheit, und sei es auch Gegenwärtigkeit der visuellen Zeichen, der visuell fixierten Zeichen, weil – wie ich Ihnen das letzte Mal schon gesagt habe, das habe ich ein bisschen vorhergenommen – das Ansehen, das Visuelle das Feld zerteilt und eine Form von Organisation und Differenzierung ist, die für sich bestehen kann, ohne dass es einen ständigen Akt der Realisierung braucht, wie bei der Stimme. Ich habe Ihnen das im Zusammenhang mit Chor, im Zusammenhang mit Alle-miteinander-reden [bereits vorgestellt] – das sollte ich vielleicht noch an der Stelle sagen, das habe ich glaube ich letztes Mal nicht gesagt: im Zusammenhang mit Kalender kann man es auch ganz schön sehen. Ein Kalender teilt die Zeit ein in eine Sequenz von Tagen, die sich durch das einfache Ablaufen der Zeit nicht ergibt. Man kann sagen, ein Kalender ist ein über die Zeit gelegtes, quasi-alphabetisches System. Wir machen Unterschiede, es zwingt uns niemand, die Unterschiede zu machen. Das ist analog zu dem, was ich Ihnen über Phonem und Phon gesagt habe. Niemand im Prinzip zwingt uns dazu, dass wir sagen, wenn es einmal dunkel und hell wird, dann ist das ein Tag. Und dann können wir das hinschreiben und können die Tage zählen. Das ist auch ein schöner Fall von sekundärem Modellierungssystem, mit einer Situation, die so ähnlich ist wie die Situation in der Schrift, nämlich dass wir den Gang der Zeit, das Leben der Zeit voraussetzen müssen, damit wir etwas anfangen können mit Kalendern, mit dieser Art von Modellierungssystem und mit dem zusätzlichen Bereich - den sagt jetzt Ong dazu - dass es uns im Zusammenhang mit visuellen Ereignissen viel leichter ist, diese Unterschiede festzuhalten und weiterzugeben, viel leichter als wenn wir einfach nur sitzen und etwas hören. Das ist der Grund, warum Sie mitschreiben, das muss ich nicht weiter erläutern.
Noch ein letzter Hinweis auf Ong zu Derrida: Derrida hat gänzlich recht - er bezieht sich da auf die Grammatologie von Derrida – wenn er sagt, dass Schrift nichts anderes ist als eine Beigabe zum gesprochenen Wort. Schrift ist mehr, darüber haben wir jetzt ja viel geredet, [b]ut to try to construct a logic of writing without investigation in depth of the orality out of which writing emerged and in which writing is permanently and ineluctably grounded [unvermeidlich fundiert] is to limit one’s understanding […]. D.h., man macht sich künstlich blind ein bisschen, wenn man diese wichtige Funktion der Mündlichkeit nicht mit rein nimmt. Und da wird Walter Ong, den ich nicht kenne, nicht gesehen habe, den ich mir als einen sehr höflichen und überlegten Gelehrten vorstelle, an der Stelle wird er ein bisschen spitz und sagt das Folgende: […] limit one’s understanding [man macht sich ein bisschen künstlich dumm], although it does produce at the same time effects that are brilliantly intriguing but also at times psychedelic, that is, due to sensory distortions. D.h., er hat schon in dem Jahre 1980 vielleicht darauf hingewiesen, dass Derrida ein Tendenz zu Psychedelik hat, die damit zusammenhängt, dass er Dinge aus dem Kontext nimmt und in eine unterschiedliche Verzerrung hineinbringt. Die Verzerrung, die er Derrida hier vorwirft, wir werden auf das zu sprechen kommen, die Verzerrung ist die, dass er die Schrift sozusagen herausprojiziert und wegblenden will, den Bereich der Mündlichkeit. Und dann sagt er noch mehr darüber, dann sagt er, er versteht eigentlich nicht, wieso – das sagt er nicht so, das interpretiere ich jetzt ein bisschen hinein – die Dekonstruktion hier (Dekonstruktion ist der Fachausdruck, den Derrida dann entwickelt hat zu einer Kritik unter anderem dieses Primats der Mündlichkeit, die bei ihm unter dem Titel Logozentrik funktioniert) - also Logozentrik ist dieser Primat der Mündlichkeit, um die es da geht und den soll man, muss man, kann man dekonstruieren. Ich habe Ihnen davon noch nicht erzählt und wir treffen das an der Stelle sozusagen das erste Mal bei der Kritik, aber behalten Sie es im Gedächtnis. Wenn es schon um Dekonstruktion geht, sagt Walter Ong, dann ist es viel schwieriger und viel wichtiger, zu dekonstruieren unsere Fixierung auf die Schriftsysteme, weil Sie uns den Blick verstellen dafür, dass Schriftsysteme unheimlich und sozusagen unermesslich wertvoll sind, aber als Schriftsysteme alleine nicht existieren können ohne die Hintergründe, von denen wir gesprochen haben. Ich übergehe jetzt die Sache, die er hier über Platon sagt, die hauptsächlich deswegen drinnen ist - von mir jetzt – weil er macht quasi einen netten Hinweis, der schon in den Bereich der Elektronik geht und sagt: Die Schwierigkeiten, die zu seinem Zeitpunkt Leute mit der Computer Literacy gehabt haben – Computer Literacy ist der Ausdruck, der Ihnen das sozusagen ganz aktuell macht, worum es da geht. Wir haben nicht nur eine Alphabetisierung (dt. für literacy: alphabetisiert; computer literacy ist das Alphabet des Computers beherrschen, kompetent zu sein im Ausdruckssystem des Computers). Menschen, sagt er hier, von heutzutage, die konfrontiert sind mit dem Computer, reagieren instinktiv auf eine ähnliche Weise wie die, von denen Platon berichtet, dass sie sich nämlich über die Schrift sozusagen beschweren. Platon sagt in diesem Mythos: Die Schrift ist eine so tolle Erfindung und die bringt so viele neue und interessante Dinge - und die Antwort darauf ist: Täusche dich nicht, du vergisst viel mehr, seitdem du die Schrift hast, die angeblich die Erinnerung aufhalten soll. Und so ähnlich ein Muster ergibt sich im Zusammenhang mit dem Computer, der wird sozusagen eingeführt als neues großartiges Instrument der Entlastung der menschlichen kognitiven Fähigkeiten und die Idee ist, Computer Literacy, also die Fähigkeit mit dem Computer richtig umzugehen, bringt Sie in eine neue Stufe der menschlichen Entwicklung und die Beschwerde dagegen ist, das mag dann zwar alles auf meiner Festplatte stehen, aber was habe ich davon, wenn es auf meiner Festplatte steht, ich muss es auch verwerten können. Also die allgemeine Situation, die manchen von Ihnen auch schon vielleicht bekannt ist, wenn Sie viele Musikstücke, Podcasts und Videos herunterladen, weil Sie in einer Situation sind, wo eine DVD oder eine Videokassette oder eine CD realisiert ist in einem physischen Ding, das Sie kaufen müssen, das Sie kaufen können und das Sie auch sammeln können, die aber voneinander alle unterschieden sind und von Ihnen gesammelt werden können, und sozusagen eine gewisse Ökonomie des Wunsches, der Gier, der Sammelleidenschaft, an dieser Stelle von Ihnen da ist, die im Prinzip dieselbe ist jetzt bei CDs, Video-DVDs oder so was, im Prinzip dieselbe Sammelleidenschaft wie von Büchern, die Sie sich sozusagen in die Bibliothek stellen, und die zwar immer ein bisschen zu viele sind, als dass Sie sie alle sehen oder lesen könnten. Haben Sie die Bücher alle gelesen, die da stehen? Das wird in der Regel nicht der Fall sein, aber es gibt ein Verhältnis zwischen den gesammelten Objekten und dem, wo Sie herkommen und so weiter. Dieses Verhältnis, das ist ein kleiner Exkurs, Sie merken es, aber dieses Verhältnis ist massiv erschüttert durch die gegenwärtige Situation, weil Sie Videos, Bücher, alles, was irgendwie digitalisierbar ist, mehr oder weniger grenzenlos auf eine Festplatte spannen können und dann einerseits noch immer so tun wollen oder müssen, als ob das die Einheiten wären, die es früher gewesen sind. Das sind noch immer Filme im Ausmaß von 45 bis 250 Minuten oder so was ähnliches, das sind noch immer Filme, aber das sind in einem gewissen Sinn auch keine Filme mehr, weil die Einordnung als ein Film für die Möglichkeit eines digitalen Reproduktionsprozesses, mit dem wir es hier zu tun haben, ganz einfach an der Stelle nicht mehr ganz zutrifft. Ende des Exkurses, der ging jetzt nur darauf, dass die Linie zwischen den Gefährdungen und den Möglichkeiten durch Verschriftlichung und unseren menschlichen Kapazitäten von Ong an der Stelle auch noch mal angesprochen wird. Er sagt, um das noch weiter kurz zu Ende zu führen, eine sehr markante Bemerkung, von der ich aber schon sozusagen genügend mitgeteilt habe: Im Unterschied zu natürlichem mündlichen Sprechen ist Schreiben komplett künstlich. Und darum ist wichtig zu sehen, dass das Schreiben eine Technologie ist und dass diese Technologie – womit er Derrida zustimmen würde – von hoher Wichtigkeit ist. Bei Derrida, wir werden das sehen, ist der Hinweis darauf, dass Schreiben eine Technologie ist, ist eine Gegenposition gegen einen gewissen Mystizismus, eine gewisse philosophisch zugespitzte Imagination und Spekulation, die etwas zu tun hat mit Leben und Seele und Unendlichkeit. Das werden wir sehen. Dagegen stellt Derrida die Wichtigkeit der Schrift als eines Mechanismus, einer Technologie und da würde Ong überhaupt nicht widersprechen. Er sagt: Selbstverständlich, das ist eine Technologie, und man muss dazu sagen, es ist eine Technologie, die uns in die Lage versetzt, um vieles mehr Mensch zu sein als wir bisher Mensch gewesen sind, weil – es ist ein Paradox, aber es ist so – Künstlichkeit ist dem menschlichen Wesen natürlich. Wir sind von der Art, dass wir uns der Technik und der Technologien bedienen, um unsere mitgebrachten, aus der Evolution für uns vorgesehenen Ziele zu erreichen. Das, was ich Ihnen alles erzählt habe über Schrift und Lernen und Artikulieren und Alphabet und so, das ist schon ein wunderschöner Fall davon, dass wir sagen, auf der einen Seite wird an der Stelle geschnitten, es wird sozusagen aus der Gegenwart rausgetreten, es werden Unterscheidungen gemacht, die nicht aus der Sinnlichkeit kommen, sondern aus der Vernunft. Und dieses Verfahren ist aber für Menschen ein gegebenes, ein richtiges Verfahren. Wir können, brauchen nicht zu leugnen, dass es wichtig ist – richtig und wichtig – dass es eine Technologie ist, aber das soll uns nicht vergessen lassen, dass diese Technologie einen Bezug hat, wie gesagt.
- Kann man nicht argumentieren, wenn man die Menschen in Beziehung setzt zu ihren vormenschlichen Vorfahren, dass nicht auch schon die Sprache eine Technologie ist, die entwickelt worden ist?
Auch schon die gesprochene Sprache? Ja-a-a [zögerlich]. Das hängt jetzt natürlich ein bisschen davon ab, wie scharf man die Unterscheidungen macht. Also, Feuer ist eine Technologie, wird man wohl sagen müssen. Steine zu verwenden, um irgendwas zuzuhauen, ist eine Technologie, und wenn das so ist, wird der Unterschied von lautlichen Äußerungen zu bestimmten Zwecken, Gesten, wird man auch sagen müssen, dass es eine Technologie ist – ja, glaube ich auch. Ich würde sagen Ja auf Ihre Frage und vielleicht noch dazu ergänzen, dass man an der Stelle schon sieht, dass Technologien so einen eskalierenden Charakter haben können, dass man sehr einfach anfängt, indem man sagt: Es fällt mir ein, ich komme auf die Idee, dass ich einen Stein dazu verwenden kann, ein Hindernis zu beseitigen oder so was ähnliches. Oder, was ich vor kurzem gelesen habe, das ist offenbar ein echtes Beispiel aus 4000 v.Chr. in Mesopotamien, als die Menschen auf die Idee gekommen sind, Gazellenherden, die auf der Migration waren, von Süden nach Norden oder so was, durch geeignet aufgebaute Mauern in eine Ecke laufen zu lassen und dort abzuschlachten – sozusagen nicht durchlaufen zu lassen, sondern irgendwo in eine Sackgasse rein und dann waren sie gefangen, hat man zugemacht und dann hat man die Gazellen gehabt. In dem Moment, in dem man auf solche Ideen kommt, die relativ mit einfachen Mitteln zu realisieren sind, stellt man sich der Natur entgegen, wie man auch sagen würde. Man stellt sich der Natur entgegen, aber gleichzeitig gibt es auch gute Motive zu sagen, das heißt nicht, dass der Mensch extraterrestrisch ist. Das ist etwas, das in der Natur ausgebildet worden ist, als eine Fähigkeit und was natürlich, wenn man sich an der Stelle besser ernähren kann, weitere Konsequenzen dafür hat, weil wenn man sich besser ernähren kann, fallt einem auch wieder mehr ein und so kann das Schritt für Schritt gehen. Ich werde mich jetzt hier nicht weiter aufhalten.
Einen kleinen Hinweis auf diese Christentums-Geschichte will ich noch machen, um das zum Abschluss zu bringen. Ich habe Ihnen aus dem Semeia-Band vor vierzehn Tagen etwas erzählt über das Verhältnis von Jesus zu den Umständen, in denen er gelebt hat. Eine interessante Überlegung, die ich Ihnen sozusagen empfehle, auf den Weg mitgebe, ist die, unter diesen medial-theoretischen Voraussetzungen, dass man sich fragen kann: Gibt es einen Unterschied, zwischen dem, was die Christen gemacht haben, so um die Zeit von Christus, und dem, was die Juden gemacht haben? Die Christen waren ja Juden, also die jüdische Sekte der Christen und der Rest der jüdischen Bevölkerung. Gibt es da etwas, was man identifizieren kann und das mit Medialität zu tun hat? Und da kann man argumentieren, da kann man eine ziemlich interessante Bemerkung machen und das ist die folgende, und die hat zu tun mit Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Ich weise Sie da nur kurz darauf hin, ich habe Ihnen ein paar Wikipedia-Verweise dafür gegeben, die gut weiterhelfen. Wenn man jetzt ausgeht davon, dass die Christen einfach eine Gruppe aus der jüdischen Tradition waren, dann muss man dazu sagen, in der jüdischen Tradition gibt es das jüdische Gesetz, die jüdische Bibel und die jüdische Bibel, das habe ich schon kurz gesagt, ist geschrieben, sind sozusagen Gesetzestafeln. Da ist Schriftlichkeit, das sind Moses von Gott gegebene Gesetze, die Bücher Moses sind wirkliche Bücher Moses, das sind sozusagen heilige Schriften, die aus der Tradition von Gott gekommen sind – die Thora. Zweitens aber gibt es nicht nur die schriftliche Thora, sondern die mündliche Thora. In der jüdischen Tradition ist die Verleihung der Gesetzestafel und des Gesetzes Moses an das jüdische Volk begleitet gewesen, immer schon, mit einer mündlichen Überlieferung. Und wir können gut verstehen, warum sich das sehr naheliegt, weil, was mache ich mit ein paar Tafeln, wenn mir nicht jemand sagt, was ich mit den Tafeln machen soll. Und wenn die Tafeln von Gott sind, dann ist es relativ sinnvoll, sich die Sache so vorzustellen, dass Gott uns auch gesagt hat, was wir mit den Tafeln machen sollen, weil was hätte das sonst für einen Zweck - wir können ohne dass Gott zu uns spricht, das folgt aus dem, was ich gerade gesagt habe, ohne dass Gott auch irgendwie zu uns spricht, können wir nicht beanspruchen, dass wir mit diesen Tafeln, die er uns gegeben hat, auch was Vernünftiges anfangen, weil mit den Tafeln, die uns Gott gegeben hat, kann man viel anfangen. Wenn man das für einen religiösen Zweck, für diese Art von Identität in der Überlieferung durch den alten Bund nehmen soll, dann müssen wir mit der schriftlichen belegbaren Überlieferung, müssen wir eine mündliche Überlieferung annehmen – Fachausdruck dafür: die doppelte Thora, die mündliche und die schriftliche Thora. Und an der Stelle, die besondere Gegebenheit, dass die Heilige Schrift so privilegiert ist auch, dass man nicht darüber schreibt, dass man nicht über das schreibt, was Gott geschrieben hat, über das schreibt, drüberschreibt oder so was ähnliches, sondern dass man das Verhalten entsprechend diesen Schriften mündlich weitergibt, wo man es kontrollieren kann. Das sind die Schulen natürlich, das sind, was wir jetzt noch immer haben, sozusagen Schulen der Ausbildung des Umgangs mit heiligen Texten. Und um die jüdische Situation weiter zu schreiben: Die Mischna ist nun, vom Jüdischen her gesehen, eine Verschriftlichung von mündlicher Überlieferung und diese Verschriftlichung von mündlicher Überlieferung beginnt aber erst quasi Ende des ersten, Anfang des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts. An der Stelle haben die Rabbiner begonnen niederzuschreiben, was die mündliche Vorgangsweise, die mündliche Überlieferung mit der Thora war und der Grund dafür war der, dass 70 n.Chr. die Römer den zweiten Tempel zerstört haben in Jerusalem, dass bedeutende Bestände der jüdischen Bevölkerung vertrieben worden sind, in die Diaspora gegangen sind, und man an der Stelle gefürchtet hat, dass die Einheit der mündlichen Überlieferung, diese Art sozusagen von lokalisierter Kompetenz im Umgang mit dem Gottesgesetz, dass die verloren geht, weil man keine Kontrolle mehr hat über die Schulen, die darüber reden. Darum haben die Rabbis begonnen, diese Überlieferung aufzuzeichnen in der Mischna und diese Überlieferung aber ist geblieben, in der jüdischen Tradition ist das geblieben in den jeweiligen Gemeinden, also was man heute Kultusgemeinde nennen würde, die in der Diaspora sich erhalten und etabliert haben und die dann quasi mit Hilfe der Mischna auch zurückverwiesen worden sind auf die talmudischen Gegebenheiten, aber mit einem nach wie vor wichtigen bestehenden Akzent auf die Schulsituation, auf das Bibellesen, auf die rabbinische persönliche Unterweisung. Im Gegensatz dazu, das ist zumindest sozusagen ein interessanter Aspekt, den ich Ihnen vorstellen möchte, kann man sagen, kann man feststellen, dass die eine jüdische Gruppe, nämlich die Christen, eine sehr andere Medienstrategie verfolgt haben, indem sie nämlich nicht gewartet haben auf die Diaspora, um in der Diaspora dann diese Schriftlichkeit irgendwie herzustellen, sondern die haben Briefe geschrieben an christliche Gemeinden, das ist ein großer Teil des neuen Testamentes, die haben Biographien Jesu geschrieben und diese Geschichten sind zirkuliert, in relativ rascher Folge verteilt worden, zirkuliert worden und die waren als Schriften übertragbar und entsprechend kommunizierbar, und die waren von vornherein in Griechisch geschrieben und haben also auf die Art und Weise von der Verteilung und von der Sprache her einen Multiplikationseffekt gehabt, der in eine ganz andere Richtung gegangen ist, in eine, wenn man es heute sagen wollte, in eine eher kosmopolitische Dimension hinein, wo es Menschen, die nicht in den Schulen ausgebildet worden sind, sondern die es überall sozusagen gegeben hat, in Gruppen, natürlich ist das auch dort vorgelesen worden, aber sozusagen der Primat der Aufsicht und der Kompetenz über die Lehre ist im Christentum anders organisiert worden. Es hat sich dann die Kirche organisiert als eine Instanz, die dafür sozusagen steht und verantwortlich ist dafür, welche Schriften kanonisierte Schriften sind. Das gibt es im Christentum eben auch, aber die Liberalität, mit der die Inhalte an der Stelle verhandelt worden sind und vor allem, und das kann man über die Schriftlichkeit sehr gut sehen, der beinahe von Anfang an einsetzende Diskurs mit der heidnischen und griechischen, hellenistischen Tradition, der dazu führt, dass diese Juden und gemischte Gesellschaft darüber hinaus sich eingelassen haben mit dem gesamten Gedankengut, dass da sonst noch in der Gegend herumgeschwirrt ist, also sprich: platonisches, aristotelisches, epikureisches, heidnisches Gedankengut und Streitschriften darüber geschrieben haben. Das war sicherlich kein Medieneffekt, aber dass sozusagen die christliche Tradition sich in diese Richtung von vornherein organisiert hat, ist ein wichtiger Punkt für das, was dann ihr Erfolg, wenn man so sagen will, gewesen ist. Lasse ich mal dabei und komme auf das Todesmoment noch.
- Warum haben die das in Griechisch und nicht Hebräisch verfasst?
Wahrscheinlich ist die Sprache Christi vermutlich Aramäisch, Paulus war Grieche, das ist ein ganz entscheidender Punkt. Es sind die Evangelien, man streitet sich darüber, die Evangelien dürften noch in Aramäisch verfasst worden sein zum Teil, aber es haben sich am Anfang des christlichen Impulses schon relativ rasch Griechisch sprechende Leute gefunden, die zweisprachig waren oder so was ähnliches, mehr oder weniger zweisprachig, und die wirksam gewesen sind zunächst einmal in der jüdischen Diaspora, also der erste Schritt der Ausbreitung war von den Juden vor Ort zu Juden schon damals in Alexandria, in Korinth und solchen Dingen. Die haben aber dort gelebt in griechischen Städten und konnten an der Stelle auch ansprechen die dort lokalen Griechisch sprechenden Leute. Und wie gesagt, Paulus war an der Stelle ein entscheidender Transmissionsriemen. Es gibt auch, das sollte man vielleicht noch dazu sagen, weil ich damit auch begonnen habe, die Septuaginta, Sie erinnern sich an die Jesaia-Sachen vom Anfang, von der ersten Seite: Die Septuaginta ist eine Übersetzung des jüdischen Testamentes ins Griechische, aus vorchristlicher Zeit, nach der Sage von 70 Weisen geschaffen, d.h. es hat, ganz abgesehen vom Christentum, schon eine Übersetzung ins Griechische der jüdischen Traditionsbücher gegeben, aber die Kontrolle, quasi die doktrinäre und theologisch-religiöse Kontrolle über den Inhalt, um den es da geht, ist sozusagen verblieben beim Tempel, im Jerusalemer Tempel und in der dort etablierten Pharisäerkultur, die Schriftgelehrtenkultur.
In einem gewissen Sinn habe ich ja vieles von dem schon vorweggenommen. Aber ich muss es jetzt trotzdem sagen, gerade auch um den Effekt zu machen. Was Ong sagt, ist: Jeder Text gehört zur Vergangenheit. Das habe ich in der Weise, so deutlich vielleicht noch nicht gesagt. Texte gehören zur Vergangenheit, weil sie sind geschrieben bevor sie Ihnen überreicht worden sind. Er sagt, die einfache Geschichte, im Prinzip ist es möglich, wenn Sie einen Text betrachten, wenn der Text zu Ihnen kommt, ist die Autorin schon gestorben. Und wenn die Autorin Ihnen schreibt, ist es im Prinzip möglich, dass Sie schon gestorben sind, bevor der Text zu Ihnen kommt, d.h. da gibt es einen Bruch in der Zeit, der damit zusammenhängt, ganz allgemein gesprochen, dass jemand in einem Text etwas festlegt, worin er dann nicht mehr präsent sein muss. Es ist nicht selbstverständlich und nicht etwas, was in der Mündlichkeit möglich ist. Wenn wir etwas lesen, ist vieles, was wir lesen von jemand geschrieben, den es nicht mehr gibt und was wir schreiben, wird an Leute gehen, die das lesen können, wenn es uns nicht mehr gibt. Und diese Form der Todesnähe hat man immer wieder sehr klassisch und sozusagen sehr paradigmatisch im Zusammenhang mit Büchern beobachtet und beschrieben. A text as such is so much a thing of the past that it carries with it necessarily an aura of accomplished death. Also, zu Ende sein, zu Ende sein mit etwas, da geht es nicht mehr weiter. Ich muss das glaube ich nicht allzu deutlich jetzt noch machen. Er sagt sozusagen etwas sehr Schönes: Wenn wir Dinge erzählen, eine Narration haben, dann haben wir mit Hilfe der Narration, einer Geschichte und insbesondere, wenn es eine niedergeschriebene Geschichte ist, haben wir in einem gewissen Sinn die Zeit schon abgeschlossen. Wir sind konfrontiert mit einem Textstück, das in sich einen Verlauf in der Zeit hat. Wenn es eine Erzählung ist und solange es eine Erzählung ist, entwickelt es sich, entwickelt sich etwas in der Zeit aus einer Vergangenheit in die Zukunft. Und diese Zukunft, in die sich etwas in der Erzählung, in einem Text entwickelt ist aber in dem Moment, in dem sie bei uns ankommt, schon eine Vergangenheit. Wir schauen auf eine Erzählung als etwas Vollendetes zurück. Wir sind heutzutage natürlich schon raffinierter auch und können auch umgehen damit, dass ein Film aufhört am Anfang oder aufhört dort, wo er hergekommen ist oder gar nicht aufhört oder nur aufhört ohne dass wir wissen, wo das jetzt eigentlich hingeführt hat. Das wissen wir, damit kann man heutzutage schon umgehen. Aber diese Form der erzählerischen Geschlossenheit, die sich mit Schriftstücken und Texten verbindet, ist etwas, was mit Tod zu tun hat. Ich gehe da jetzt nicht genauer rein – und das ist jetzt das letzte Christliche, wovon ich sprechen werde: Ong verbindet das ebenso mit Auferstehung. So wie Auferstehung im theologischen Bereich jetzt eine Transformation dessen, was schon gestorben ist wieder in ein Leben bedeutet, kann man sagen, Texte haben diese wunderschöne und faszinierende Eigenschaft, dass etwas zu Ende gekommen ist, niedergelegt worden ist, tot ist und dann nehme ich es in die Hand und es beginnt wieder zu leben, ein neues Leben, eine neue Realisierung dessen, was sozusagen hier schon einmal zu Ende gewesen ist, in neuen Kontexten, von neuen Menschen, auf eine Art und Weise, wie sie sozusagen in der Mündlichkeit nicht möglich ist. Es ist ganz simpel, es ist wirklich total banal, wenn an einem Landstrich, in einer Kultur ohne Schrift für fünf Jahre keine Menschen sind, dann gibt es für die nächsten Menschen diese Vergangenheit nicht mehr. Wenn man wohin kommt und da waren fünf Jahre keine Menschen, aber die haben eine Bibliothek hinterlassen, dann gibt es die Vergangenheit und diese Vergangenheit kann wiederbelebt werden, kann neu belebt werden. Das ist eines der wichtigen Motive der deletia memoria, aus dem frühen Kontext: Wenn du die schriftliche Dokumentation, dass es jemanden gegeben hat, auslöscht, den Namen auslöscht, die Schriftstücke auslöscht, die mit dieser Person zu tun haben, dann geht sie ins Nichts hin. Das ist sozusagen wirklich tot, wenn niemand mehr sich auf sie beziehen kann, wenn in einer oralen Situation dieses Missing Link, diese mündliche Überlieferungskette unterbrochen wird. Das ist etwas, was sie als Chance in der Schrift haben, dass so etwas wieder neu anfangen kann.
So, das reicht jetzt hiermit aber und anfangen möchte ich nochmal ganz kurz jetzt mit dem Kontrast hier und der Kontrast, er ist der, dass sehr viel von dem, was ich Ihnen jetzt mühsam und plastisch versucht habe klarzumachen, als Charakteristika von Schriftlichkeit einfach nicht mehr funktioniert in dem Moment, in dem wir elektronisch unterwegs sind. Nehmen Sie die absolut einfachste Form eines Chats. In dem Moment, in dem Sie da jetzt mit Ihren kleinen Netbooks chatten, schreiben Sie so schnell wie Sie reden und machen auch die nötigen Fehler, so wie Sie sich versprechen und das, was Sie reden oder schreiben, sehen andere Leute genauso zum selben Zeitpunkt wie Sie es schreiben. Das ist auch ein ganz genau gleiches Durcheinander, wenn Sie es einmal ausprobieren, das hat mich immer an der Stelle sehr fasziniert. Ein Chat ist nicht mehr ganz gebräuchlich, aber vor 10, 15 Jahren war ich noch sehr begeistert davon, eben aus solchen Gründen. Wenn Sie sich so in einen unregulierten Chatraum setzen und den Leuten sagen: Ok, jetzt tut’s mal was – dann entsteht genau der Effekt, der dann besteht, wenn alle Leute durcheinander reden. Das ist aber absolut genau der Effekt und das fand ich immer deswegen faszinierend, weil es mich schon darauf hingewiesen hat, dass abgesehen von der sprachlichen Artikulation von Sinnmomenten in einem solchen Zusammenhang ganz offensichtlich körperliche, soziale Hinweise geregelt sind, die es uns ermöglichen, wenn wir hier sitzen, durch einen kurzen Blick auf die Seite oder durch eine höfliche Geste oder so was, eine Ordnung in das hineinzubringen, dass wir hier jetzt reden. Also wenn Sie eine Frage stellen wollen, wenn drei Leute eine Frage stellen wollen, dann fangen Sie nicht gleichzeitig zu reden an, sondern geben ein Signal und wir können das aufgrund unserer Körperlichkeit korrigieren. Wenn Sie von dem abstrahieren und in den Chat hineinkommen, dann haben Sie eine Gegenwärtigkeit der Schrift, die nicht reguliert und sogar weltweit verteilt ist, aber in jedem Fall sozusagen in einer Spontaneität des Schreibens von all den involvierten Menschen liegt, aufgrund derer man nun schlicht und einfach, die erste Beobachtung, nicht sagen kann, Schrift ist etwas Totes. Schrift funktioniert an der Stelle ganz genauso wie Gesprochenes. D.h., es funktioniert, habe ich gesagt, Sie müssen natürlich schreiben können, Sie müssen in irgendeiner Art und Weise dieses System beherrschen. Und ich habe einige Anregungen darüber gegeben zu sagen: Natürlich ist das nicht. Das ist in einer Weise nicht so natürlich wie eine natürliche Sprache, aber es ist ein wunderschönes Beispiel für sekundäre Oralität, nämlich dass etwas durch die Schrift hindurchgehend, durch das System der Schrift hindurchgehend heutzutage so funktioniert, wie wenn es mündlich wäre. Der zweite Punkt, überlegen Sie sich, was ist eine URL? Eine URL ist auf der einen Seite eine Adresse, so ähnlich wie Ihnen jemand eine Visitenkarte überreicht, eine geschriebene Adresse in einem Schriftsystem, aber auf der anderen Seite ist es, wie es so schön heißt, ein Aufruf. Es ist ein Aufruf, Sie rufen eine Webseite auf, Sie schreiben Sie nicht an, Sie versuchen keine Email-Kommunikation mit der Webseite. Sie sagen nicht: Bitte, kann ich mal das haben? – sondern Sie rufen das auf. Und die Pointe und der Witz ist jetzt der, damit höre ich wirklich auf, was Sie wirklich tun, wenn Sie eine URL aufrufen, Sie schicken dort einen Schriftbefehl und sagen: Bitte schickt mir das – nennt sich GET, ein http-Code dafür, dass Sie eine Webseite kriegen, ist das Schriftsignal GET soundso an den Webserver, d.h. Sie schreiben den wirklich an, aber in einer Weise schreiben Sie den Webserver an, der Effekt, der rüberkommt, ist aber der eines Aufrufs. Also, so viel zu den neuen Konstellationen, mit denen wir uns beschäftigen werden.“