Liebrucks

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Vorerst letzter Beitrag aus der Sekundärliteratur zum hegelschen Wahrheitsbegriff (UK 04.04.04):

In Anknüpfung an die in der letzten Seminararbeit gefallene Bemerkung von H.H. über den (verunglückten) Dialog der Bewußtseine innerhalb der !PhdG:

"Ist es (= das Bewußtsein, Anm. UK) also die unberührbare Einheit der Wahrheit zwischen beiden Sätzen, so wird es mit jeder Erfahrung, die es als bewegte Sichselbstgleichheit macht, eine neue Bestimmung erfahren, die seine eigene ist und in der Form zweier einander widersprechender Sätze auftritt. In diesem Sinn ist Bewußt-Sein Gespräch." (Liebrucks, Bruno, Sprache und Bewußtsein, Frankfurt/Main, 1970, Bd 5, S.4)


Ein Selbstgespräch! (h.h.)

Exakt. Ein Selbstgespräch - ein Gepräch des Selbst. Was dies in hegel´schem Sinn bedeuten könnte, dazu vgl.auch: Dieter Henrich, Formen der Negation in Hegels Logik,II.:Anderssein und das Andere seiner selbst.(UK,o7.o4.2004)

Textauszug von: Bruno LIEBRUCKS, Sprache und Bewußtsein, Frankfurt/Main, 1970, Bd 5, S.1 - 4:


Einleitung

Die Sprachlichkeit des Denkens innerhalb der Dialektik von HEGELS »Phänomenologie des Geistes«

Die Grenze zum dialektischen Denken ist überschritten. Nach der in Bd. 3 von »Sprache und Bewußtsein« gegebenen Einführung in dialektische Grundbegriffe soll die Sprachlichkeit des dialektischen Denkens auf dem Rücken der Errungenschaften KANTS im sphärenmischenden Komponieren von Kommentar und Kritik an der »Phänomenologie des Geistes« aufgezeigt werden (vgl. Vorrede zu Bd. z-6 S. 37).

Die Sprachlichkeit des dialektischen Denkens kann jetzt in ihrer Verwandtschaft zu Humboldt und in ihrem Abstand von KANT verdeutlicht werden. Die Bestimmung der logischen Form zu urteilen war insofern transzendental, als KANT alle Erkenntnis »transzendental« nannte, »die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, insofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt« (Kr. d. r. V. B 25). Die transzendentallogische »Erörterung«, also Ortsbestimmung oder Topologie, bestand in der transzendentalen Reflexion am Schluß des ersten Teiles der »Kritik der reinen Vernunft«. Eine solche Erörterung sollte zeigen, »woraus die Möglichkeit anderer synthetischer Erkenntnisse a priori eingesehen werden kann« (B 40). Dazu mußte unsere Erkenntnisart von Gegenständen selbst zum Gegenstand gemacht werden, was nur dadurch gelang, daß die Erörterungen bereits unter der Botmäßigkeit der Kategorie der Zweckmäßigkeit stattfanden. Die synthetische Einheit der transzendentalen Apperzeption stand noch unter der systematischen Einheit der Vernunft, letzten Endes der Lehre vom höchsten Gut. Die transzendentalen Beweise, auf die KANT besonders in der zweiten Auflage immer mehr rekurrierte, erwiesen sich als dialektisch, weil in ihnen gezeigt werden sollte, wie ihr Beweisgrund, die Erfahrung, selbst möglich sein sollte. Der Beweis hätte die Möglichkeit der Möglichkeit der Erfahrung zeigen müssen. Diese zweite Möglichkeit ist die Erfahrung des Bewußtseins, von der jetzt die »Wissenschaft« gegeben wird.

HEGEL fragt nicht, wie Bewußtsein verstanden werden müsse, wenn es wissenschaftlich genannt werden können soll, sondern gibt die Wissenschaft von dieser Möglichkeit. Es ist die Wissenschaft von der Erfahrung des Bewußtseins, die nur durch das Bewußtsein selbst erstellt werden kann. Das scheint in Analogie zum Verfahren der »Kritik der reinen Vernunft« zu stehen, das auch eine Kritik der Vernunftvermögen war, sofern diese in steigendem Maß unter den höchsten Forderungen der Vernunft selbst erstellt wurde. Vernunft ermöglichte die Objektivierung der Erkenntnisvermögen in der transzendentalen Reflexion. Diese Objektivierung war schon metaphysisch. Die Einheit der transzendentalen Apperzeption war in ihr nur noch Moment, wobei doch angenommen werden mußte, daß sie noch hinter der Reflexion stehen müßte, was doch wieder unmöglich war, weil es sich hier nicht mehr um die Versammlung von Anschauungsmannigfaltigkeiten in der Synthesis und unter dem Prinzip der Einheit der transzendentalen Apperzeption handelte.

Ich habe die Problematik des Ganzen so weit entwickelt, daß das Verfahren HEGELS davon abgehoben werden kann. Dabei stellt sich heraus, daß bei ihm nicht mehr von einem unmittelbaren Verfahren gesprochen werden kann. Hegel geht insofern sprachlich vor, als er von vornherein nicht in der Subjekt-Objektrelation denkt, sondern in der Subjekt-Subjekt-Objektrelation. Wenn ich eine Wissenschaft von der Erfahrung des ,Bewußtseins, eine Wissenschaft davon geben will, wie das Bewußtsein seine Gegenstände erfährt und wie es sich darin selbst erfährt, so kann ich nicht mehr das transzendentallogische Verfahren üben, in dem »Erkenntnis von Gegenständen« selbst zum Gegenstand gemacht wird. Ich muß vielmehr dem Bewußtsein in seinen Erfahrungen zusehen. Ich muß mir von ihm auch dann noch sagen lassen, wie es seine Erfahrungen macht, wenn diese Erfahrungen die von einem anderen Bewußtsein sein werden. Bewußtsein ist hier Denken. Es ist die Exposition davon, wie Denken als die Erstellung des Unterschiedes von Denkendem und Gedachtem, von Subjekt und Objekt, zugleich die Erstellung des Unterschiedes von Denkinhalt und Denkgegenstand ist. Da das nach KANT nicht möglich ist, weil Selbstbewußtsein niemals Selbsterkenntnis sein kann, kann hier Denken nicht mehr der reine Verstandesbegriff oder der reine Vernunftbegriff KANTS sein. Das ganze Verhältnis von Denken und Anschauung muß eine Verkehrung erfahren. Das Denken der vorkantischen Metaphysik hielt sich für reines Denken, war aber nicht rein, weil es innerhalb seiner selbst seine Genese an den Erfahrungs-gegenständen hatte. HEGEL scheint also hinter KANT zurückzugehen.

Es ist zu zeigen, daß er nicht zur alten Metaphysik zurückkehrt, sondern sie selbst innerhalb seiner Philosophie versammelt. Das gelingt dadurch, daß sein Denken die Konsequenz aus der Konsequenz KANTS zieht. Dazu scheint Sprachlichkeit noch nicht erforderlich. Es ist daher zu zeigen, daß der Weg zur Sprachlichkeit des Denkens die Konsequenz der Konsequenz KANTS ist. Wir haben von der ersten Zeile des Werkes an nicht nur ein Bewußtsein, sondern deren zwei. Das eine vollzieht seine Erfahrungen, das andere schaut diesem Bewußtsein zu, indem es in sich nicht die gleichen, sondern die der jeweiligen Stufe des Bewußtseins entsprechenden Erfahrungen vollzieht. Das erste Bewußtsein macht wirkliche Erfahrungen und vollzieht dabei zugleich immer die Reflexion auf ihre Möglichkeit. Diese Tätigkeiten scheinen an zwei Bewußtseinsweisen verteilt. Dann hätte das erste Bewußtsein im Bathos seiner Erfahrungen keine Entwicklung. Es könnte immer nur Erfahrungen, auf welchen Gebieten auch immer, machen und dann in einem zweiten Reflexionsakt nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit fragen. Daß aber die Erfahrung und die Reflexion auf sie eodem actu vollziehbar ist, daß z. B. die Vergleichung zweier Erkenntnisformen wirklich stattfindet, zeigt hier die Erfahrung vom ersten Augenblick an als vernünftige Erfahrung. Vernunft hat hier eine andere Bedeutung als bei KANT. Das gilt für sämtliche Kategorien, die wir bei HEGEL antreffen werden. Er läßt das erfahrende Bewußtsein damit Ernst machen, daß wir die Totalität der Bedingungen, die bei KANT aufgegeben war, niemals erreichen können. Dieses Bewußtsein arbeitet nicht als Knecht unter den Totalitätsforderungen der Vernunft, sondern hat diese in sich selbst als Forderungen im Bewußtsein. Auch Totalität wird bei HEGEL eine andere Bedeutung haben als bei KANT. Deshalb ist, bevor wir unmittelbar in die unterste Stufe des Bewußtseins einsteigen und die Reflexion ihrer Erfahrung durch sprachliche Versetzungsschritte mitvollziehen, eine Bemerkung darüber zu machen, weshalb hier Philosophie nicht in der Form von Grundsätzen auftritt. Während bei KANT die Bestimmtheit der Urteile durch die Annahme der Totalität der Bedingungen im regulativen Vernunftgebrauch erstellt wurde, weiß dieses Bewußtsein von vornherein um die Unwahrheit dieses Vorgehens. Denn wenn die Totalität aufgegeben bleibt, dann bleibt auch die Bestimmtheit der Urteile Aufgabe. Sie ist also prinzipiell niemals erstellbar. Die Annahme ihrer Erstellbarkeit war die Errichtung der Welt der Positivität. Die Grenzüberschreitung, die jetzt vorgenommen wird, ist zunächst die Reflexion darauf, daß auch noch die Grundsätze erschlichen waren, wenn sie doch am regulativen, von KANT allerdings innerhalb der Welt der Positivität mit Recht legitim genannten Vernunftgebrauch hingen. Nicht die einzelnen Erkenntnisse innerhalb der Welt der Positivität waren erschlichen, sondern diese als Ganze. KANT hat das gewußt. Deshalb stellte er sie unter das Pauschalurteil, daß wir innerhalb ihrer selbst nur Erscheinungen erkennen könnten. Das haben wir niemals bestritten. Dann aber muß die Definition des Urteils außer-halb der Welt der Positivität, wenn seine absolute Gültigkeit nicht erschlichen sein soll, aufgegeben werden. Wenn eingesehen ist, daß kein einziges Urteil im vollen Sinne des Wortes wahr sein kann, da seine Bestimmtheit an den nur regulativen Prinzipien der Vernunft hängt, besteht die Kritik der »Kritik der reinen Vernunft« darin, daß wir uns dazu bequemen, dem Stand unserer Unwissenheit Rechnung zu tragen. Das Wissen davon, daß wir in keinem Urteil nur wissen, sondern in jedem genauso nicht wissen, ist immer von der Einsicht begleitet, daß zu jedem Urteil über jeden vorkommenden Sachverhalt die Totalität aller übrigen Urteile gehörte, die über diesen Sachverhalt gefällt werden müßten. Sofort bemerken wir, daß wir diese Totalität nicht haben und niemals erstellen können. In dieser Lage äußersten kritischen Bewußtseins greift Dialektik zu einem Hilfsmittel, das nicht als Regel an die Hand gegeben werden kann, sondern in der jeweiligen konkreten Lage am konkreten Gegenstand gefunden werden muß. Sie bildet einen Satz, von dessen Wahrheit sie zunächst überzeugt ist, dessen prinzipiell mitlaufende Unwahrheit sie aber durch die nicht mehr transzendentale, sondern dialektische Reflexion a priori kennt. Daher wird sie als die Minimalforderung bei der Aufstellung von Sätzen, die sie um der Unterscheidung von den Kantischen Urteilen willen nicht mehr Urteile nennt, verlangen, daß jeder Satz sich nicht selbst widerspreche. Sie wird zugleich verlangen, daß jedem Satz sein Gegensatz hinzugefügt werde, der sich gleichfalls nicht widersprechen darf. Die beiden Sätze müssen einander widersprechen. Der Satz ist dabei im Bild des Halbkreises vorzustellen, der ihm widersprechende im Bilde des zu ihm passenden anderen Halbkreises. Beide erstellen die Definition der unberührbaren Einheit der Wahrheit der »Sache«. Hierbei kommt es darauf an, daß dieses Verfahren nicht formal ist. Es ist keine Regel, unter der ich nur die Gegensätze zu bilden habe, um wenigstens den Umriß des Ganzen zu erhalten. Der Gegensatz des Satzes muß vielmehr aus der Bewegung der Erfahrung des Bewußtseins selbst hervorgehen. Beide Sätze opponieren einander, aber sie opponieren als Gleichberechtigte. Sie stehen nicht mehr im Herrschaft-Knechtschaftsverhältnis, in dem bei KANT Vernunft und Verstand, Verstand und Sinnlichkeit zueinander standen. Ferner ist - analog zu Kant - als systematischer Hintergrund - eine Sittlichkeit schon innerhalb des erkennenden Bewußtseins vorausgesetzt, wie bei Kant die Moralität innerhalb des Geschäfts der Erkenntniserstellung der Welt der Positivität federführend war. Drittens kommt alles darauf an, daß an dem - gegenüber Kant - gesteigerten Grad von Kritik festgehalten wird, der schon in der Forderung besteht, daß kein Satz ohne seinen Gegensatz Gültigkeit hat. So ist Bewußtsein niemals nur identisch mit sich selbst, wenn es so etwas wie eine Synthesis zustande bringen können soll. Es ist gleichfalls niemals nur nicht identisch mit sich selbst, wenn es als Bewußtsein nicht verloren gehen soll. Ist es also die unberührbare Einheit der Wahrheit zwischen beiden Sätzen, so wird es mit jeder Erfahrung, die es als bewegte Sichselbstgleichheit macht, eine neue Bestimmung erfahren, die seine eigene ist und in der Form zweier einander widersprechender Sätze auftritt. In diesem Sinn ist Bewußt-Sein Gespräch. Wie das Gewissen des Menschen das Gebirge ist, auf dem sich die einzelnen Berge erheben, so ist das Bewußt-Sein das Gespräch, auf dem sich die einzelnen Sprachen erheben. Eine dieser Sprachen ist die der exakten Wissenschaften und die des technisch-praktischen Weltumgangs. Wir werden ihr immer wieder begegnen. Aber es wird sich die Toleranz zwischen den Bewußtseinsweisen ergeben, die aus dem Wissen resultiert, daß keine absolut ist. Dennoch bilden sie kein Durcheinander. Sie vermitteln sich zum absoluten Wissen und zur Idee. Sie hängen aber nicht an ihnen, weil sie noch leben und daher solcher Galgen entbehren müssen. So haben auch "absolutes Wissen« und »Idee« bei Hegel nicht die Bedeutung, die sie in der abendländischen Philosophie vor ihm innehatten. Wir befinden uns in einer verkehrten Welt, in der jede Kategorie erst auf ihre Bedeutung hin zu befragen ist. Jede Kategorie erhält die Bedeutung aus der Bewegung auf das absolute Wissen, auf die Idee, zu. In dieser Bewegung liegt das höchste Glück des Menschen, sowohl als Organismus als seiner unterbewußten Bewußtseins- und Sprachlage, wie in allen seinen Bewußtseins- und Sprachlagen. Das Glück besteht darin, daß das Denken des Menschen sich selbst auf sein Ziel zu bewegt und nicht nur an ihm hängt.



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