Kurzbeschreibung Früchtl
Josef Früchtl: "Die Möglichkeiten einer ästhetischen Ethik der Natur", in: Jörg Zimmermann, (Ed.): Ästhetik der Naturerfahrung, (Stuttgart: Fromann-Holzboog, 1996), S. 59-76. [Es handelt sich hierbei um eine gekürzte Fassung eines Kapitels seiner Habilitationsschrift Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil. Eine Rehabilitierung. (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1996)]
Zum Autor:
Josef Früchtl ist derzeit Professor für Philosophie der Kunst und Kultur an der Universität von Amsterdam. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Philosophie als Kulturwissenschaft, Ästhetik und Kunstphilosophie, Kritische Theorie, Theorie der Moderne und Philosophie des Films. Er dissertierte bei Habermas.
Zum Inhalt:
Ästhetik erfahre seit Ende der 1970er Jahre einen neuen Aufschwung, den sie zuletzt mit dem deutschen Idealismus vor 200 Jahren erfahren habe.
Früchtels Aufsatz dreht sich um das Thema Ästhetik und Naturerfahrung und um das Problem einer Ethik der Natur. Um einer gängigen Entdifferenzierungswelle entgegenzuwirken, differenziert er fünf Möglichkeiten des Verhältnisses von Ästhetik und Ethik, insbesondere aber von Ästhetik der Natur und Ethik der Natur. Wichtig ist ihm festzuhalten, dass eine ästhetische Ethik der Natur nur eine Möglichkeit einer ästhetischen Ethik allgemein sei. Alles im Folgenden über das Verhältnis einer Ästhetik der Natur und einer Ethik der Natur ausgesagte, gelte somit auch für das Verhältnis von Ästhetik und Ethik allgemein, es hätte den selben Rahmen.
"Das Verhältnis von Ästhetik und Ethik differenziert sich also nach folgenden Möglichkeiten: der Ästhetik wird entweder jeder Beitrag zur Ethik abgestritten, oder er wird nicht abgestritten. Die erste Position in dieser grundsätzlichen Alternative ist die einer antiästhetischen Ethik, die zweite Position, diejenige, die die Ästhetik als Bestandteil der Ethik anerkennt, kann man eine partialästhetische Ethik nenne." (60) Je nach der Größe des ästhetischen Bestandteils der Ethik gäbe es vier weitere Möglichkeiten letztere weiter zu differenzieren: Eine fundamentalästhetische Ethik, die die Ästhetik zum Fundament der Ethik erklärt, eine marginalästhetische Ethik, die der Ästhetik nur einen marginalen ethischen Stellenwert einräumt, einer paritätsästhetische Ethik , die der Ästhetik eine gleichberechtigte Rolle im Zusammenspiel mit der Ethik zuspricht, und eine perfektionsästhetische Ethik, die in der Ästhetik zwar nicht die Grundlage, wohl aber die Vollendung der Ethik sieht.
"Es gibt also grundsätzlich zwei Möglichkeiten, eine positive und eine negative, das Verhältnis von Ästhetik und Ethik zu bestimmen, und die positive Möglichkeit erlaubt wiederum vier Differenzierungen, so daß am Ende fünf Möglichkeiten stehen." (60)
- antiästhetischen Ethik
- partialästhetische Ethik
- fundamentalästhetische Ethik
- marginalästhetische Ethik
- paritätsästhetische Ethik
- perfektionsästhetische Ethik
Im folgenden geht Früchtel auf jede einzelne davon ein und bringt beispielhafte Vertreter für das jeweilige Verhältnis von Ästhetik und Ethik.
Im Falle der antiästhetischen Ethik wäre dies Hans Jonas mit seinem Prinzip Verantwortung. Sein Entwurf einer Verantwortungsethik für eine technologische Zivilisation nimmt auf die Ästhetik keinen Bezug.
Als Vertreter einer fundamentalästhetische Ethik der Natur zieht er Rudolf zur Lippe und Gernot Böhme heran.
Zur Lippe versteht unter dem Ästhetischen das Sinnenbewußtsein und geht in Sinnenbewußtsein. Grundlegung einer anthropologischen Ästhetik davon aus, dass der Ästhetik heute eine normative Aufgabe zufalle. Sie müsse Normen und Bedingungen der Erhaltung und der Entfaltung des Lebens aufzeigen, womit ihr eine Entscheidungskompetenz zufalle, deren Kriterien Früchtl genauer untersucht. Die Ästhetik könne keine Antworten auf konkrete Problemsituationen geben, ihre letzte Rechtfertigung könne nur ein Gespür oder eine Gewißheit sein. Somit könne sie keinerlei materielle Kriterien zur Entscheidung ethischer Probleme liefern, biete aber das formale Kriterium des Lebens bzw. der Einheit zwischen Mensch und Natur, von zur Lippe auch als Gleichgewicht begriffen, an. Auch mit diesem Kriterium ergäben sich Schwierigkeiten, die Früchtl in einer perfektionsästhetische Ethik gelöst sähe.
Auch Gernot Böhme sei an einer anthropologischen Ästhetik interessiert und reduziere die ästhetische Erfahrung auf das Moment der Sinnlichkeit, Anschauung oder Kontemplation. Er begründet eine für Früchtl nicht unproblematische Atmosphärenästhetik (mehr dazu in den Referaten zu Gernot Böhme!). Böhme argumentiere aber nicht nur fundamentalästhetisch, sondern tendiere auch zu einer paritätsästhetischen Ethik der Natur. "Was schön ist an der Natur, muß nicht auch gleich gut sein, aber was gut ist an ihr, muß auch schön sein." (71)
Für eine paritätsästhetische Ethik stünde am ehesten Martin Seel, aber auch Karl Heinz Bohrer.
Diese würden zwar diametral gegenüberstehende ästhetische Positionen einnehmen, allerdings würde sich Bohrers puristische Position nolens volens zu einer integrativen ästhetischen Position ähnlich der Seels machen. Puristisch sei eine Ästhetik zu nennen, "die die ästhetische Erfahrung von allen nicht-ästhetischen Erfahrungs- und Urteilsformen, [...] kognitiven, moralischen und hedonistischen Elementen [...] rein halten will." (71f) Oder ihnen, wie bei Bohrer, keine Dominanz erlaube. Bohrer präsentiere ein eigenwilliges Doppel aus antiethischer Ästhetik und ästhetischer Ethik. "Es ist demnach kein Widerspruch, die Ästhetik von ethischen Ansprüchen rein zu halten, die Ethik aber umgekehrt durchaus ästhetischen Ansprüchen auszusetzen." (71)
Martin Seel, für dessen Ästhetik der Natur Früchtl voll Lob ist (siehe auch hierzu die anderen Referate!) vertrete einen integrativen ästhetischen Ansatz, der ästhetische Erfahrung durch die Einheit der drei Aspekte Kontemplation, Korrespondenz und Imagination erklärt. Hier gehöre ästhetische Erfahrung zu einem ethisch guten Leben, ein Leben ohne ästhetische Einstellung (zur Natur) könne nicht als gelungen bezeichnet werden. Ausserdem berge jeder Aspekt der ästhetischen Erfahrung auch eine Lebensmöglichkeit in sich. Dennoch müsse Seel eingestehen, dass die Ästhetik keinesfalls eine Ethik des guten Lebens oder gar eine Theorie der Gerechtigkeit ersetzen könne. Früchtl sieht auch bei Seel marginalästhetische und perfektionsästhetische Anknüpfungspunkte.
"Für die marginalästhetische Ethik (der Natur) sind artikulierte ästhetische Erfahrungen weder hinreichend noch notwendig, um generell eine ethische Einstellung (zur Natur) oder in konkreten Situationen Entscheidungen zu begründen. Für das generelle Problem stützt sie sich auf ein Prinzip, und bei konkreten Problemen gewichtet sie wissenschaftliche, ökologische, ökonomische und lebenspraktische Argumente stärker." (75)
Bekommen ästhetische Argumente einen luxuriösen Status, so hätten wir es mit einer perfektionsästhetische Ethik (der Natur) zu tun. Für sie hätten ästhetische Argumente einen Stellenwert, auf den man zwar verzichten könne, aber nicht verzichten solle, "weil er den krönenden Schlußstein auf das Gebäude der Ethik setzt." (76) Die perfektionsästhetische Ethik hätte laut Früchtl noch keine Verfechter gefunden, allerdings plädiere er selbst letztlich zu solch einer Ethik der Natur.