Joseph Ratzinger: Unterscheidung des Christlichen

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Josph Ratzinger: Glaube, Wahrheit, Toleranz. Das Christentum und die Weltreligionen. Freiburg, Basel, Wien 2005

S. 83 f

Ratzinger schreibt über das interreligiöse Gebet

Unterscheidung des Christlichen

Aber von solchen Argumentationsproblemen abgesehen geht es im Text um Grundlegenderes, nämlich um die Frage: Wer oder was ist Gott? Wie antworten wir auf ihn? Kennt er uns? Der Bangalore-Text sagt dazu, das interreligiöse Gebet stelle einige wichtige theologische Motive zur Diskussion, »zum Beispiel, was heißt es, wenn wir sagen Gott ist einer? Beten wir alle zu ein und demselben Gott, auch wenn unsere Bilder und unsere Auffassungen (understandings) von Gott verschieden und unterschiedlich sind? Wie wägen wir unsere Lehre von Gott in nichttheistischen Konstellationen?« Wir müssen, so sagt der Text, neue Wege finden, um unseren Glauben im Blick auf den Platz der Religionen in der Heilsökonornie zu artikulieren und über die Kategorien von Exklusivismus, Inklusivismus und Personalismus hinauskommen, kreative Wege finden, um theologisch das Wirken des Geistes in anderen Religionen zu sehen. Zugegeben - hier werden keine Thesen, sondern nur Fragen vorgelegt. Aber diese Fragen insinuieren doch, daß die Grenzen zwischen Gott und den Göttern, zwischen personalem und impersonalem Gottesverständnis nicht letztlich unterscheidend sein müssen - daß dahinter doch von allen letztlich das Gleiche gemeint sei.

Wir sollen denken, daß der Unterschied zwischen Gott und Göttern, zwischen personalem Gottesbild und impersonaler Identitätsmystik ein Unterschied zwischen Bild- und Begriffsgestalten sei, also ein Unterschied im Vorletzten, der das Eigentliche nicht berührt, weil alle Begriffe und Bilder hinter der unaussprechlichen Wirklichkeit des Absoluten zurückbleiben. Der eigentliche Unterschied - so könnte man schlußfolgern - sei gar nicht derjenige zwischen diesen unterschiedenen Verstehensformen und Bildern, sondern zwischen allem wie auch gearteten menschlichen Reden von Gott und der dabei letztlich stets nur von fern in verschiedenen Annäherungen berührten Wirklichkeit des Unbekannten jenseits der Worte. Diese Auffassung hat gerade für den Menschen von heute etwas Faszinierendes an sich; sie scheint auch die größere Ehrfurcht vor dem Geheimnis Gottes auszudrücken, die größere Demut des Menschen vor dem Absoluten zu sein und in ihrer alles verbindenden Toleranz sowohl religiös wie denkerisch größer als das Beharren auf der Personalität Gottes als einer unverzichtbaren, aus der Offenbarung kommenden Gabe. Es ist unbestreitbar, daß sich diese Vorstellungen inzwischen, gerade unter Christen, ausbreiten und im »interreligiösen Gebet« zur Praxis werden.

Ist diese Auffassung wirklich »frömmer« und vor allem: ist sie wahrer? Fragen wir praktisch: Was ändert sich dabei? Was geschieht mit unserem Glauben und Beten? Zunächst einmal: wenn personale und impersonale Gottesvorstellung gleichrangig sind, austauschbar, dann wird das Gebet zur Fiktion, denn wenn Gott kein sehender und hörender Gott ist, wenn er nicht erkennt und nicht mir gegenübersteht, dann geht das Gebet ins Leere. Dann ist es nur eine Form der Selbstbesinnung, des Umgangs mit sich selber, kein Dialog. Es mag dann Einübung ins Absolute, versuchtes Aussteigen aus dem Getrenntsein des Ich in ein Unendliches sein, mit dem ich im Tiefsten identisch bin und in dem ich versinken will. Aber es hat keinen Bezugspunkt, der mir Maß ist und von dem ich in irgendeiner Weise Antwort erwarten dürfte. Mehr noch: wenn ich den Glauben an Gott als »Person« hinter mir lassen darf, als eine mögliche Vorstellungsgestalt neben der impersonalen, dann ist dieser Gott nicht nur kein erkennender, hörender, redender Gott (Logos) - dann hat er erst recht auch keinen Willen. Erkennen und Wollen sind die beiden wesentlichen Inhalte des Begriffs Person. Dann gibt es keinen Willen Gottes. Dann gibt es auch keinen letzten Unterschied zwischen gut und böse: Gut und böse ist dann - wie wir schon sahen - kein Widerspruch mehr, sondern nur noch Gegensatz, in dem beides komplementär zueinander steht. Dann ist das eine wie das andere Wellenschlag des Seins, dann stehe ich unter keinem Maß. Dann aber ist nicht nur irgendein Bild oder ein Begriffsschema geändert, sondern dann ist im Tiefsten alles anders.

Über den "letzten Unterschied" und "im Tiefsten" greift die katholische Lehre auf ethische Begriffe (gut/böse, Person) zu.

S.88

1. Solches multireligiöses Beten kann nicht der Normalfall des religiösen Lebens sein, sondern nur als Zeichen in außergewöhnlichen Situationen bestehen, in denen gleichsam ein gemeinsamer Notschrei aufsteigt, der die Herzen der Menschen aufrüttelt und zugleich am Herzen Gottes rütteln soll.

2. Ein solcher Vorgang verführt fast zwangsläufig zu falschen Interpretationen, zur Gleichgültigkeit gegenüber dem Inhalt des Geglaubten oder nicht Geglaubten und damit zur Auflösung wirklichen Glaubens. Deswegen müssen - wie unter 1 gesagt - solche Vorgänge Ausnahmen bleiben, deswegen ist vor allem eine sorgsame Klärung dessen, was hier geschieht und nicht geschieht, von höchster Wichtigkeit. Diese Klärung, in der deutlich werden muß, daß es »die Religionen« überhaupt nicht gibt, daß es den gemeinsamen Gottesgedanken und -glauben nicht gibt, daß der Unterschied nicht bloß den Bereich der wechselnden Bilder und Begriffsgestalten, sondern die Letztentscheidungen selbst berührt - diese Klärung ist wichtig, nicht nur für die Teilnehmer des Geschehens selbst, sondern für alle, die Zeugen davon werden oder sonstwie darüber Informationen erhalten. Das Geschehen muß so klar in sich und vor der Welt stehen, daß es nicht zur Demonstration des Relativismus wird, durch den es sich in seinem Sinn selber aufheben würde.

Geschichtlichkeit gegen Abstraktion, Lokalaugenschein gegen Globalisierung.

Während beim multireligiösen Gebet zwar im gleichen Kontext, aber doch getrennt gebetet wird, bedeutet interreligiöses Gebet ein Miteinanderbeten von Personen oder Gruppen mit verschieden er Religionszugehörigkeit. Ist das überhaupt in aller Wahrheit und Redlichkeit möglich? Ich bezweifle es. Jedenfalls müssen drei elementare Bedingungen gestellt werden, ohne deren Beachtung solches Beten zur Glaubensverleugnung würde:

1. Miteinander beten kann man nur, wenn Einmütigkeit darüber besteht, wer oder was Gott ist und darum auch grundsätzlich Einmütigkeit darüber vorliegt, was Beten heißt: ein dialogischer Vorgang, in dem ich zu einem Gott rede, der zu hören und zu erhören vermag. Anders gesagt: Gemeinsames Beten setzt voraus, daß der Adressat und damit auch der auf ihn bezogene innere Akt grundsätzlich gemeinsam verstanden wird. ... Es muß also klar sein, daß Gott »Person« ist, das heißt erkennen und lieben kann; daß er Macht hat, mich zu hören und zu antworten; daß er gut und der Maßstab des Guten ist und das Böse keinen Anteil an ihm hat. Jede Vermischung von personalem und impersonalem Verständnis, zwischen Gott und den Göttern muß ausgeschlossen sein. Das erste Gebot gilt gerade auch im eventuellen interreligiösen Gebet.

2. Es muß aber - vom Gottesbegriff her - auch ein grundlegendes Einverständnis darüber bestehen, was gebetswürdig ist und was Inhalt von Gebet werden kann. Als Maßstab dessen, was wir rechtens von Gott erbitten dürfen, um gotteswürdig zu beten, sehe ich die Bitten des Vaterunser an: In ihnen wird sichtbar, wer und wie Gott ist und wer wir selber sind. Sie reinigen unser Wollen und zeigen, mit welcher Art von Wollen wir auf dem Weg zu Gott sind und welche Art von Wünschen uns von Gott entfernt, uns gegen ihn stellen würde. Bitten, die gegen die Richtung der Vaterunser-Bitten stehen, können für einen Christen nicht Gegenstand interreligiösen Betens, überhaupt keiner Art von Beten sein.

3. Das Ganze muß so erfolgen, daß die relativistische Mißdeutung von Glaube und Gebet darin keinerlei Anhalt findet. Dieses Kriterium bezieht sich nicht mir auf die Christen, die nicht irregeführt werden dürfen, sondern genauso auch auf die Nichtchristen, für die nicht der Eindruck einer Austauschbarkeit von »Religionen«, einer vorletzten und daher ersetzbaren Bedeutung etwa des christlichen Grundbekenntnisses entstehen darf.


S. 94-95

Relativismus - die herrschende Philosophie

So ist in der Tat der Relativismus zum zentralen Problem für den Glauben in unserer Stunde geworden. Er erscheint freilich keineswegs nur als Resignation vor der Unermeßlichkeit der Wahrheit, sondern definiert sich auch positiv von den Begriffen der Toleranz, der dialogischen Erkenntnis und der Freiheit her, die durch die Behauptung einer für alle gültigen Wahrheit eingeschränkt würde. Relativismus erscheint so zugleich als die philosophische Grundlage der Demokratie, die eben darauf beruhe, daß niemand in Anspruch nehmen dürfe, den richtigen Weg zu kennen; sie lebe davon, daß alle Wege einander als Bruchstücke des Versuchs zum Besseren hin anerkennen und im Dialog nach Gemeinsamkeit suchen, zu der aber auch der Wettbewerb der letztlich nicht in eine gemeinsame Form zu bringenden Erkenntnisse gehöre. Ein System der Freiheit müsse seinem Wesen nach ein System sich verständigender relativer Positionen sein, die überdies von geschichtlichen Konstellationen abhängen und neuen Entwicklungen offenstehen müssen. Eine freiheitliche Gesellschaft sei eine relativistische Gesellschaft; nur unter dieser Voraussetzung könne sie frei und nach vorne hin offen bleiben.

Im politischen Bereich hat diese Konzeption weitgehend recht. Die einzig richtige politische Option gibt es nicht. Das Relative, die Konstruktion des freiheitlich geordneten Zusammenlebens der Menschen, kann nicht absolut sein - das zu meinen, war gerade der Irrtum des Marxismus und der politischen Theologien. Freilich kommt man auch im politischen Bereich mit dem totalen Relativismus nicht zu Rande: Es gibt Unrecht, das nie Recht werden kann (zum Beispiel Unschuldige zu töten; einzelnen oder Gruppen das Recht auf ihre Menschenwürde und auf entsprechende Verhältnisse zu versagen); es gibt Recht, das nie Unrecht werden kann. Man kann demnach im politisch-gesellschaftlichen Bereich dem Relativismus ein gewisses Recht nicht absprechen. Das Problem beruht darauf, daß er sich selbst grenzenlos setzt. Er wird nun ganz bewußt gerade auch auf das Feld der Religion und der Ethik angewendet.

In der Vorlesung ist darauf hingewiesen worden, dass die Rede von dem Relativismus ähnlich pauschal ist, wie von der Religion, gegen die sich Ratzinger weiter oben wehrt. Im Blick auf Kelsen muss man allerdings zugeben, dass Ratzinger nur die Kehrseite von dessen Relativismus/Absolutismus-Disjunktion vertritt - und sie für den politischen Bereich sogar akzeptiert. Das ist allerdings ein Vorspiel für sein Gegenargument, dass sich der "Relativismus" nicht selber absolut setzen kann.
Es empfiehlt sich, diese Themenkreise zu unterscheiden:
  1. Entscheidungsverfahren (logisch, persönlich, wissenschaftlich, ästhetisch, gesellschaftlich)
  2. Rangordnungen (wie oben)
  3. die Lebensform: alles inklusive
Die Erstellung von Wertordnungen und die Wahl zwischen ihnen ist ein vielgestaltiges Problem, das eine große Anzahl von Lösungen zuläßt. Durch die Forderungen von (3) wird es zugespitzt und es trifft zu, dass die demokratische Verfahrensweise (und ihr Rechtssystem) nicht unbedingt den geeigneten Rahmen für das Selbstverständnis der christlichen Religionen darstellt. (Obwohl man auch da verschiedener Meinungen sein kann.) Die Schlüssigkeit des formalen Argumentes gegen den absolut gesetzten Relativismus gilt nicht so einfach für die komplizierten Verhältnisse zwischen (1), (2) und (3). --anna 14:24, 13. Nov 2005 (CET)




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