Islamische Symbole und die Trennung von Staat und Kirche

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letzter Abschnitt: Die »Affaire du foulard« und liberale Toleranz

Artikelhauptseite: Anna E. Galleotti: Neubegründung liberaler Toleranz

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Die neutralistische Lesart des Liberalismus legt ein anderes entschei­dendes Argument gegen Schleier an Schulen nahe. Diese Variante des Li­beralismus beruht auf einer strikten Trennung zwischen privaten und öf­fentlichen Fragen. In Kurzform lautet das neutralistische Argument für Toleranz wie folgt. Einerseits müssen wir die schlichte Tatsache von Un­terschieden zur Kenntnis nehmen, die sich auf Individuen zurückführen lassen, andererseits gibt es das moralische Prinzip der individuellen Sou­veränität über die eigenen Präferenzen und Entscheidungen – ein Prinzip, das die negative Form der Abwehr fremder Einwirkungen oder die posi­tive Gestalt der personalen Autonomie annehmen kann. Unter der zweifachen Voraussetzung einer Konsenstheorie der politischen Verpflichtung und der Schwierigkeit, auf vielen Gebieten und in vielen Fragen zu einer allgemeinen Übereinstimmung zu gelangen, besteht die liberale Lösung in einer Begrenzung des Politischen auf eine bestimmte Sphäre, die den Gegenstand legitimer politischer Entscheidungen und Eingriffe bildet. Diese Lösung trennt den politischen von anderen gesellschaftlichen Bereichen, die sie als privat (oder nichtpolitisch) kennzeichnet, als politisch neutral anerkennt und folglich allein der individuellen Entscheidungsfrei­heit überantwortet (immer vorausgesetzt, die Grenzen der Freiheit werden wechselseitig beachtet). Diese privaten Gesellschaftsbereiche bilden den eigentlichen Gegenstandsbereich der politischen Toleranz. Zusam­mengefaßt ergibt sich aus den individualistischen Voraussetzungen des li­beralen Modells, was als strikt privat hinzunehmen ist und was dem öf­fentlichen Raum angehört, in dem die gleichen Regeln für alle gelten. Toleranz bezieht sich demnach auf all jene Fragen, die erklärtermaßen mit keinen relevanten öffentlichen Folgen verknüpft sind, so daß sich das Po­litische ihnen gegenüber neutral verhalten kann. Die politische Sphäre hingegen wird vom Grundsatz der Neutralität angeleitet, der eine öffent­liche »Blindheit« gegenüber religiösen, ethischen, kulturellen und die Le­bensweise betreffenden Differenzen gebietet. Während sich folglich in der privaten Sphäre alle möglichen Arten von Unterscheidungen entfalten dürfen, sollen die Akteure in der öffentlichen Sphären von solchen Unter­scheidungen gerade absehen und sich auf das konzentrieren, was zumin­dest potentiell allen gemeinsam ist.

Auf den ersten Blick scheint es so, daß der Grundsatz der liberalen Neutralität ganz selbstverständlich die Hinnahme der islamischen Schlei­er verlangt, denn er erlaubt keine Einwirkung des Staates auf individuelle Entscheidungen, die Konzeptionen des Guten betreffen (und das Tragen eines Kopftuches gehört eindeutig in diesen Bereich). Diese Überlegung geht jedoch daran vorbei, wie sich die für das Neutralitätsprinzip zentrale Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Angelegenheiten im Lichte einer starken Lesart des laizistischen Staates ausnimmt. Staatliche Neutralität impliziert demnach, daß die politisch Verantwortlichen hinsichtlich der vielen verschiedenen Konzeptionen des Guten in der bürgerlichen Gesellschaft tolerant zu sein haben; im öffentlichen Raum hingegen sollen sie sich zu den diversen Unterschieden blind und indifferent verhalten, um dem Grundsatz der Gleichbehandlung zu genügen. Am öffentlichen Raum nämlich nehmen alle in ihrer Eigenschaft als Angehö­rige der politischen Gemeinschaft teil, und in dieser Rolle ist jeder einzel­ne ein Bürger wie alle anderen auch. Die Gleichheit von Bürgern qua Bür­gerstatus bildet die Grundlage für die öffentliche Gleichbehandlung und den liberalen Schutz vor Diskriminierung. Folglich genießen die Bürger die volle Freiheit zur Orientierung an ihren eigenen Idealen und zur Ent­faltung ihrer Kultur und Religion im Rahmen der bürgerlichen Gesell­schaft, während sie im öffentlichen Raum des säkularen Staates von ihren besonderen und partikularen Zugehörigkeiten abzusehen haben, um ein­ander als »reine Bürger« auf gleichem Fuße begegnen zu können. Die Grenzen des öffentlichen Raumes sind die Grenzen der politischen Ver­pflichtung, und sie sollen die Loyalität der Bürger vor dem Andrang aller anderen, partikularen Loyalitäten abschirmen.

  • Rauchen: privat erlaubt, aber nicht im öffentlichen Raum
  • Iran: öffentliche Kleiderordnung, anders als im Familienzusammenhang
  • Hochsprache und Dialekt

Im kontinentalen Europa ist die Unterscheidung zwischen Privatem und Öffentlichem besonders tief verankert; sie ist eingebettet in eine bis zum römischen Recht zurückreichende Rechtstradition, die sich um eben dieses Begriffspaar dreht. In Frankreich kommt hinzu, daß die Neutrali­tät der öffentlichen Sphäre ihren geschichtlichen Ausdruck im Ideal des säkularen Staates findet, in welchem die Wahlakte und Handlungen des Citoyens als Bestandteile des allgemeinen Willens gelten, die den partiku­laristischen, eigeninteressierten Entscheidungen des Bourgeois entgegenstehen. Der historische Hintergrund dieser Konzeption ist wohlbekannt: Er umfaßt die Aufklärung, Rousseau und die Erneuerung der republika­nischen Tradition im jakobinischen Staat. Ungeachtet der Frage, wie unrealistisch und fehlerhaft sich dieses Verständnis von Neutralität im Lich­te seiner Verwirklichung ausnehmen mag: Es trägt zum Verständnis des Deutungsrahmens bei, in dem die Kopftuch-Affäre von den öffentlichen Autoritäten in Frankreich gedanklich angesiedelt und praktisch angegan­gen wurde. Diesem Verständnis zufolge gehört das öffentliche Erzie­hungswesen zur öffentlichen Sphäre: Die Schule ist ein Instrument des säkularen Staates zur Erziehung künftiger Bürger. Sie verbannt alle reli­giösen Symbole aus ihrem Binnenraum und vermittelt den Geist des öf­fentlichen Lebens. In diesem Bild erscheint das ursprüngliche Verbot des Kopftuches als ein Versuch, die Grenzen der säkularisierten Öffentlich­keit gegen religiöse Einmischungen abzudichten. Dabei ist zu betonen, daß die Verbannung der Schleier vom Schulhof nach dieser Maßgabe nicht als intolerant aufgefaßt wird; vielmehr soll sie als legitime Begrenzung li­beraler Toleranz die Neutralität des öffentlichen Schulwesens und die Gleichheit der Schüler als künftige Bürger, neben und über ihre(n) parti­kularen Mitgliedschaften in anderen Gemeinschaften hinaus bewahren. Das Ziel der Gleichheit unter den Schülern bezeugt nicht einfach die hart­näckige Weigerung, der Differenz ihr Recht zu geben, sollte es doch ge­schichtlich der Diskriminierung entgegenwirken: Die Lehrerinnen und Lehrer hatten über alle Unterschiede hinwegzusehen, die nichts mit per­sönlichem Verdienst zu tun hatten, doch bei diesem Bemühen um Unpar­teilichkeit sollte ihnen der Umstand einer tatsächlichen Verminderung von Differenzen entgegenkommen.

Das in einer Verteidigung des säkularen Staates gründende Argument gegen das Tragen des Kopftuches an Schulen war das am weitesten ver­breitete in der Debatte; zugleich war es das tückischste, da es die gewohn­te Zuordnung zu linken oder rechten politischen Positionen durchkreuz­te. Problematisch ist es vor allem deshalb, weil die Entscheidung, was als unbefugter Eingriff in die öffentliche Sphäre zu gelten habe, umstritten ist. Immerhin baten die drei Mädchen nicht um islamischen Religionsun­terricht an einer öffentlichen Schule, an der ein Religionsunterricht auch sonst nicht angeboten wurde; sie kleideten sich schlicht mit einem Sym­bol ihres Glaubens. Auch war dieses Symbol keine Sache der »Indiffe­renz« – um auf eine klassische Unterscheidung anzuspielen –, sondern es betraf die Integrität und die Identität der gläubigen Mädchen. Unter diesem Gesichtspunkt hätte es sich für den säkularen Staat als ehrenhafte Lösung angeboten, den Schleier als Fall der Weigerung aus Gewissensgründen zuzulassen.

An dieser Stelle drängt sich eine weitere Frage auf: Ist es wirklich wahr, daß sämtliche religiösen Symbole an französischen Schulen verboten wur­den? Genießen nicht vielmehr einige Symbole einen privilegierten Status? Allem Anschein nach haben Halsketten mit christlichen Kreuzen noch keine vergleichbaren Probleme aufgeworfen; sie werden ganz selbstver­ständlich hingenommen. Ehe die Kopftuch-Affäre die Runde machte, war sich niemand auch nur bewußt, daß die öffentlichen Schulen von religiö­sen Symbolen bevölkert sind. Dieser Sachverhalt mag eine Folgerung na­helegen, zu der Kritiker des Liberalismus gelangen: Die Neutralität ist gar nicht so neutral, und der säkulare Staat ist keineswegs völlig säkularisiert.

Ehe wir aber zu dem Schluß kommen, daß öffentliche Autoritäten in Frankreich das liberale Modell der Toleranz nur vorschützten, während sie in Wirklichkeit moslemische Schülerinnen diskriminierten, sollte ein Unterschied zwischen Kreuzen und Schleiern hervorgehoben werden, der im Kontext der französischen Kultur eine Rolle spielt. Im allgemeinen ist ein Kreuz nicht sonderlich sichtbar. Als quasi-unsichtbares Symbol eig­net es sich nicht für eine öffentliche Demonstration religiösen Glaubens, welche die Grenzen des öffentlichen Raumes verletzen würde. Hätte es so gesehen auch dann Probleme gegeben, wenn die Mädchen schlichte Ket­ten mit Halbmonden getragen hätten? Das scheint mir keineswegs klar. Andererseits trugen die Mädchen keine Tschadors im engeren Sinne, son­dern lediglich Kopftücher, und wenn sich auch die Sichtbarkeit des Kreu­zes und diejenige des Tschadors erheblich unterscheiden, so vermindert sich dieser Unterschied doch merklich im Falle des Kopftuches. Für die Frage der Sichtbarkeit ist allerdings zweierlei relevant. Zum einen geht es nicht einfach um einen abstrakten Vergleich zwischen Graden der Sichtbarkeit; im französischen Kontext, in dem sich die säkulare politische Kultur auf die ursprüngliche Tradition des Katholizismus eingestellt hat, hat vielmehr ein Kreuz seine Sichtbarkeit in ähnlicher Weise verloren, wie wir die grauen Hosen eines Mannes kaum mehr wahrnehmen. Umgekehrt erregt eine Frau, die den Raum mit Kopftuch betritt, heute ähnliches Aufsehen wie in den frühen sechziger Jahren die ersten Trägerinnen von Mi­niröcken. Was das Kreuz quasi unsichtbar macht und das Kopftuch heraushebt, ist folglich die Tatsache, daß sich die Franzosen an das erste, aber nicht an das zweite gewöhnt haben. Zum anderen, dies ist der wichtigere Punkt, trugen die Schülerinnen ihre Kopftücher im Zusammenhang mit der Weigerung, am Sport- und Biologieunterricht teilzunehmen, und das, obwohl das Schulsystem keine optionalen Klassen kennt und für alle Schülerinnen und Schüler die gleichen Kurse vorsieht. Alles in allem war somit ihr Verhalten nicht nur sehr viel auffälliger, als es ein Schulbesuch mit Halbmond gewesen wäre, sondern es zwang die Schulleitung aus­drücklich zur Entscheidung über die Teilnahme oder Nichtteilnahme an einigen Kursen. Zweifellos zielten die Mädchen nicht lediglich auf eine stillschweigende Hinnahme oder Indifferenz gegenüber ihrer besonderen religiösen und kulturellen Identität, sondern auf tatsächliche Anerken­nung.

So gesehen war die Unterscheidung, die zunächst der Conseil d'Etat und danach, in expliziterer Form, der Erziehungsminister getroffen ha­ben, nicht völlig willkürlich. Es ist wahr, daß das Kreuz in Frankreich ein »diskretes« Symbol ist und der islamische Schleier ein auffälliges und aufdringliches (während es sich in Saudi Arabien umgekehrt verhalten mag), und aus eben diesem Grund impliziert der Schleier eine öffentliche Stel­lungnahme. Ungerechtfertigt ist hingegen die weitere Annahme, daß der Schleier dazu diene, andere Schülerinnen zu bekehren. Dies mag auf Vorurteile hindeuten und die unbegründete Neigung zu erkennen geben, alle Muslime als Fundamentalisten hinzustellen, die es darauf abgesehen hät­ten, die demokratischen Institutionen zu beherrschen. Doch die Frage des Fundamentalismus soll uns später beschäftigen. Wenn wir sie für einen Moment außer acht lassen, so ist die kontextbezogene Unterscheidung zwischen »diskreten« und »auffälligen« Symbolen nicht völlig unberech­tigt, und dies ungeachtet der tatsächlichen Motive der öffentlichen Auto­ritäten. Dennoch halte ich daran fest, daß das Verbot des Schleiers aus einer solchen Unterscheidung nicht einfach abgeleitet werden kann; es ist eine Sache zu argumentieren, daß der islamische Schleier eine öffentliche Stellungnahme darstellt — dem stimme ich zu —, und eine ganz andere Sache zu fordern, daß die öffentliche Bekundung bestimmter Unterschiede von öffentlichen Schulen ferngehalten werden sollte.

Die Begründung für einen Ausschluß von öffentlichen Bekundungen religiöser, ethischer und sonstiger Besonderheiten wohnt angeblich der Idee des säkularen Staates und der neutralen Öffentlichkeit als solcher inne. Zugelassen sind allein strikt persönliche Unterschiede, die sich für öffentliche und politische Angelegenheiten als irrelevant und »indifferent« erweisen und darum weder politische Fragen aufwerfen noch die öffentli­che Ordnung untergraben können. Doch dieses Argument, das niemals klar und deutlich formuliert worden ist, ist anfällig für zwei Kritiken. Erstens kann gefragt werden, wie eigentlich die politisch Verantwortli­chen die Linie zwischen öffentlichen Stellungnahmen und privaten Wer­ten festlegen wollen, wenn sie doch gleichzeitig neutral und differenz­blind zu sein haben. Neutrale Autoritäten können eine solche Unterschei­dung legitimerweise allein auf der Grundlage eines unabhängigen Nachweises von Konsequenzen für die Ordnung und die Sicherheit anderer treffen. Eine inhaltliche Bewertung von Differenzen scheint der Grundsatz der Neutralität nicht zu gestatten. So gesehen sollten sich dif­ferenzblinde Autoritäten mit der Frage, ob ein Kreuz sichtbarer oder weniger sichtbar sei als ein Kopftuch, gar nicht erst abgeben. Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit, Aufdringlichkeit oder Diskretheit von Symbolen können für den sozialen Umgang relevant werden, doch im öffentlich-politischen Bereich sollten sie strenggenommen keine Rolle spielen. Daraus folgt, daß ein Verbot des Kopftuches im Namen der Neutralität aus einem Argument abgeleitet wäre, welches gerade den Grundsatz der Neu­tralität verletzte. Zweitens erfährt nicht jedes Verhalten, das als öffentli­che Äußerung gelten kann, die gleiche Behandlung. Hier brauchen wir nur an den Punk-Stil zu denken, der unter französischen Schülern recht verbreitet ist und, wenn auch vielleicht zähneknirschend, so doch ohne offensichtliche Probleme an französischen Schulen hingenommen wird. Nun mag man einwenden, daß der Punk ja nur eine Modeerscheinung, der Schleier hingegen ein religiöses Symbol sei. Unter diesem Gesichts­punkt verläuft der relevante Unterschied zwischen Religion auf der einen und Moden und Lebensstilen auf der anderen Seite: Auf der Basis einer Trennung von Staat und Kirche könnten religiöse Bekundungen allein als Privatangelegenheit toleriert werden, während der Punk-Stil auch dann hinzunehmen sei, wenn er eine öffentliche Äußerung darstellen soll. Wie dem auch sei, die ohnehin in manchen Hinsichten schwierige Unterschei­dung zwischen Mode und Religion geht die politisch Verantwortlichen nichts an. Wenn sich andererseits die Unterscheidung zwischen diskreten und aufdringlichen Merkmalen auf ein objektives Kriterium stützen soll, dann bietet sich allein die jeweilige Zuschreibung zu majoritären oder minoritären Gruppen an. Die Eigentümlichkeiten der Mehrheit gelten in der Tat nicht als »anders«, sondern als gewöhnliche Merkmale und Op­tionen von Bürgern. So gesehen sind die normalen Besonderheiten von vorneherein diskret. Die Eigenarten von Minderheiten sind im Gegensatz dazu eben das, was von der »Normalität« der jeweiligen Gesellschaft abweicht und daher aufdringlich, sichtbar und schockierend erscheint. In keiner Weise können sich diese zuletzt genannten Differenzen als diskre­te Ausdrucksformen der eigenen Religion und Kultur tarnen. Im gewöhn­lichen Deutungsrahmen der Neutralität jedenfalls ergibt die Unterschei­dung zwischen diskreten Symbolen und öffentlichen Stellungnahmen, wie auch immer man sie betrachten mag, keinen Sinn.

Zusammengefaßt: Das Argument, das den Standpunkt des säkularen Staates wiedergibt, trifft zwar den Kern der Kontroverse, da es den zu­grundeliegenden Konflikt zwischen dem liberalen säkularen Staat und dem Anspruch auf öffentliche Sichtbarkeit von »aufdringlichen« religiö­sen Symbolen verständlich macht; doch es liefert keine überzeugenden Gründe für das geforderte Verbot. Dieses Argument impliziert, daß die besonderen Merkmale minoritärer Gruppen von sich aus aufdringlich und auffällig seien und daher keinen Zugang zur öffentlichen Sphäre finden sollten, während die gewöhnlichen Eigenschaften und Optionen der Mehrheit aufgrund ihrer diskreten Normalität freie Verbreitung finden dürften. Ganz unabhängig von den Absichten der politisch Verantwortli­chen und der Mehrheit stellt somit der öffentliche Ausschluß des islami­schen Schleiers eine objektive Diskriminierung dar.

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An dieser Stelle läßt sich jedoch ein letztes liberales Argument zugun­sten eines Verbotes anführen; es bezieht sich auf das Recht der liberalen Institutionen zur Selbstverteidigung gegen das Eindringen von partikula­ren und potentiell illiberalen Identitäten, Loyalitäten und Gemeinschaf­ten. Die Gefahr mag zum einen darin bestehen, daß Gruppenloyalitäten auf öffentliche Entscheidungen übergreifen und zu politischen Konflik­ten zwischen verschiedenen Gruppen und Kulturen führen. Zum anderen mag sich die liberale Ordnung den Angriffen fundamentalistischer Grup­pen ausgesetzt sehen. Angesichts dieser Möglichkeiten sollte der Grund­satz einer neutralen öffentlichen Sphäre, der jeder allein als Bürger ange­hört, nicht einmal auf der symbolischen Ebene aufs Spiel gesetzt werden. Tatsächlich sind hier zwei Argumente miteinander verwoben: Das eine steht relativ zu dem Risiko, daß besondere Zugehörigkeiten und Loyali­täten die Allgemeinheit und Unabhängigkeit der Bürgerrolle bedrohen, das andere betrifft die fundamentalistische Gefährdung einer liberalen Ordnung.

Dem ersten Argument kann man mit dem Hinweis begegnen, daß die liberale Öffentlichkeit schon immer für einige kollektive Identitäten durchlässig war, namentlich für diejenige des weißen christlichen Man­nes. Ihm nämlich verlangt die Unterscheidung zwischen Privatem und Öffentlichem keinen Wechsel der Kleidung, des Erscheinungsbildes, des Verhaltens und der Gewohnheiten in bezug auf das religiöse oder das alltägliche Leben ab. Alles, was sie ihm zumutet, ist, daß sich seine Ver­pflichtungen und ihr jeweiliger Vorrang in den beiden Bereichen unterscheiden. Genauer gesagt: Die öffentliche Sphäre fordert keine Auflösung persönlicher überzeugungen oder Bindungen, sondern lediglich die Aus­wahl von Argumenten und Gründen nach Maßgabe ihrer Relevanz, An­gemessenheit und Offenheit für allgemeine Diskussionen und Kritiken. Ob die liberale Praxis diesem Erfordernis genügt, steht auf einem anderen Blatt, doch menschliche Unvollkommenheiten dieser Art, wie sie in der politischen Debatte immer wieder bemerkt und diskutiert werden, galten niemals als Gefährdung des Prinzips der bürgerschaftlichen Pflichten. Im Falle des weißen männlichen Christen hat die persönliche Identität die verantwortliche Wahrnehmung der Bürgerrolle offensichtlich nicht dra­matisch beeinträchtigt. Weil seine öffentlichen Pflichten mit seinen per­sönlichen überzeugungen und seinem Glauben vereinbar zu sein schie­nen, die mit öffentlichen Gründen vertreten werden konnten, tat sich hier zwischen privatem und öffentlichem Selbst kein Spalt auf. Der Ausschluß anderer Identitäten von der öffentlichen Sphäre ist demnach ungerechtfertigt, oder diese Rechtfertigung muß sich auf besondere Gründe stüt­zen. Wenn alle bürgerschaftlichen Pflichten auf das Vorbringen von relevanten und angemessenen Argumenten abzielen, dann können allein die öffentliche Diskussion und eine freie Presse über die richtige Nutzung des öffentlichen Raumes entscheiden und nicht dessen fiktionale Reprä­sentation als homogener Raum.

Gleichwohl mag sich eine besondere Rechtfertigung für die Verban­nung aller Zeichen islamischer Identität ins Feld führen lassen, und dafür eignet sich die unterstellte fundamentalistische Durchdringung liberaler Politiken. Theorie und politische Praxis des Liberalismus gaben stets zu erkennen, daß sich die Toleranz nicht auf die Intoleranten erstrecken darf, wenn denn die tolerante Gesellschaft Bestand haben soll. Aus diesem allgemein geteilten Grundsatz, wie ihn bereits John Locke formuliert hat, läßt sich eine spezifische und starke Begründung dafür ableiten, daß der Schleier (als fundamentalistisches Symbol) von der öffentlichen Toleranz ausgenommen werden sollte. Doch so einfach ist die Sache auch wieder nicht: Während das Prinzip der Selbstverteidigung klar und einwandfrei ist, gibt seine Anwendung unweigerlich Anlaß zu Kontroversen.

Was ist zunächst unter einer Bedrohung der liberalen Ordnung und ihrer Institutionen zu verstehen: eine Untergrabung der ethischen Integrität li­beraler Demokratien und der loyalen Zustimmung ihrer Bürger oder erst die akute Gefahr von Gewalt, Terrorismus und sozialem Zerfall? Obwohl zwischen einer Abwendung von liberalen Institutionen und einem Entzug der Zustimmung auf der einen und einer aktuellen Gefährdung des Fortbe­standes liberaler Gesellschaften auf der anderen Seite eine mögliche Verbin­dung besteht, sollten diese beiden Risiken für die Zwecke der gegenwärti­gen Diskussion auseinandergehalten werden. Es ist tatsächlich zweierlei, die Grenzen der Toleranz auf die Bewahrung des »physischen« Bestandes einer liberalen Ordnung abzustimmen oder die ethische Integrität und die loyale Zustimmung zu liberalen Institutionen bewahren zu wollen. Bislang ist die fundamentalistische Herausforderung von liberalen Theorien ledig­lich unter dem zweiten Gesichtspunkt gesehen worden (und dies nahelie­genderweise, denn eine liberale Theorie kann lediglich allgemeine theoreti­sche Probleme aufgreifen, während sie auf besondere Krisen und konkrete Notlagen keine brauchbaren Antworten zu geben vermag). Die Anhänger einer perfektionistischen Lesart der liberalen Theorie mögen befürchten, daß das Ausgesetztsein und die Offenheit liberaler Gesellschaften gegenüber nicht-liberalen Kulturen den ethischen Kern dieser Gesellschaften unterminieren könnte. Folglich mißtrauen sie der Toleranz im Falle von Differenzen, die liberalen Prinzipien wie Autonomie, Selbständigkeit und Gedankenfreiheit entgegenstehen. Doch solche Zweifel lassen sich, wie liberale Perfektionisten ausdrücklich anerkennen, nicht auf direktem Wege in ein Verbot der betreffenden Praktiken übersetzen, denn gegen eine Pra­xis der Intoleranz können viele pragmatische und prudentielle Überlegun­gen sprechen. Außerdem heben einige Perfektionisten mittlerweile hervor, daß Autonomie, der Schlüsselwert in einer liberalen Theorie des Gu­ten, eine Funktion intakter kultureller Identitäten ist; folglich neigen sie zu einer Öffnung der liberalen Gesellschaft für unterschiedliche Kulturen und zur Verteidigung eines Rechts auf kulturelle Zugehörigkeit.

Liberale Neutralisten teilen ein solches Anliegen nicht, denn sie schlie­ßen aus ihren politischen Betrachtungen über die angemessenen sozialen Verhältnisse die Verwirklichung liberaler Werte aus. Gleichwohl wird die fundamentalistische Herausforderung von einer neutralistischen libera­len Theorie ernstgenommen, wenn diese fragt, ob die politische Legitimi­tät einer liberalen Gesellschaft auch von Anhängern einer nichtliberalen Weltsicht eingesehen werden könnte. Liberale Neutralisten sorgen sich mit anderen Worten um die Möglichkeit einer loyalen Zustimmung zu liberalen Institutionen unter der Voraussetzung, daß die Bürger weder eine dicke noch eine dünne Konzeption des Guten miteinander teilen. Die Antwort ist sehr umstritten, und der Fundamentalismus bezeichnet inzwischen die theoretische wie praktische Grenze des gegenwärtigen Liberalismus. Die grundlegende Frage, ob die liberalen Institutionen auch für den Fundamentalisten als gerechtfertigt und akzeptabel gelten dürfen, spielt jedoch im Umgang mit dem Kopftuch – das vielen in der westlichen Kultur als fundamentalistisches Symbol gilt – keine wesentliche Rolle. Eine Toleranz gegenüber dem hijab folgt nicht aus dem Nachweis, daß selbst ein Fundamentalist einer liberalen Ordnung mit Gründen zustim­men könnte. Denn wenn es um Fragen der Toleranz geht, ist eine Recht­fertigung einer konkreten Grenzziehung vonnöten. Auch wenn sich ar­gumentativ belegen ließe, daß die Angehörigen illiberaler Kulturen prin­zipiell gute Gründe haben, loyale Bürger zu sein, mag solchen Gründen doch in der Praxis keine handlungsleitende Bedeutung zukommen.

Wir sehen uns somit auf die Ausgangsfrage zurückgeworfen: Was darf plausiblerweise als tatsächliche Bedrohung einer liberalen Ordnung gel­ten? Eine Religion, die von vielen Gemeinschaften und Sekten geteilt, aber unterschiedlich ausgelegt wird, von einigen eher säkular, von anderen eher orthodox und von wieder anderen fundamentalistisch? Es bereitet keine Schwierigkeiten, ein Verbot fanatischer Gruppen zu rechtfertigen, die zu terroristischen Akten gewillt und befähigt sind. Doch wie verhält es sich mit einer Gruppe, die revolutionären oder anti-institutionalistischen Sichtweisen anhängt, jedoch erst dann zur Tat zu schreiten beabsichtigt, wenn sie sehr viel mehr Anhänger gewonnen haben wird, weshalb sie sich einstweilen mit revolutionärer Propaganda begnügt? Sollten die Flugblät­ter und Pamphlete einer `solchen Gruppe zensiert werden, soweit sie auf die Gewinnung von Anhängern für einen Umsturz der bestehenden Ord­nung abzielen? Und sollte jeder derartige Zusammenschluß gesetzlich verboten werden? Diese Fragen lassen sich nur schwer in abstrakten Begriffen beantworten und geben in jedem Fall Anlaß zu endlosen Ausein­andersetzungen. Unter dem Eindruck der terroristischen Welle in Italien, von der Mitte der siebziger bis zu Beginn der achziger Jahre, sind weder revolutionäre Veröffentlichungen noch außerparlamentarische Gruppen mit revolutionärer Ideologie verboten worden. Obgleich tatsächlich eine Notlage bestand, wurden die Anti-Terror-Gesetze breit debattiert und von einer liberalen öffentlichen Meinung abgelehnt. Dieses Beispiel soll lediglich unterstreichen, daß jede Anwendung des Grundsatzes der Selbst­verteidigung stark unterbestimmt und leicht bestreitbar ist. Demzufolge erscheint die Behauptung, daß die Bekämpfung des islamischen Funda­mentalismus ein Verbot der Verschleierung an Schulen gebiete, bei nähe­rem Hinsehen äußerst fragwürdig. Ja mehr noch, hätten wir es wirklich mit einer fundamentalistischen Gefahr zu tun, dann sollten die Kopftü­cher nicht lediglich an Schulen, sondern an jedem Ort verboten werden. Würde der Islam (fälschlicherweise) als fundamentalistische Religion angesehen, von der eine regelrechte Bedrohung des toleranten demokrati­schen Staates, der gesellschaftlichen Ordnung und des Lebens unschuldi­ger Bürger ausgeht, so leuchtete mir nicht ein, warum man allein religiöse Symbole, und diese allein an Schulen, verbieten wollte und nicht die isla­mische Religion als solche. Folglich muß sich die Forderung nach einem Verbot entweder auf die symbolische Bedeutung des Kopftuches stützen, und dann kann man sich nicht auf den Grundsatz der Selbstverteidigung berufen (Tschadors können die liberale Ordnung nicht mehr gefährden als revolutionäre Literatur, die durchaus innerhalb der Toleranzgrenzen verbleibt), oder man muß argumentieren, daß die islamische Religion eine akute Gefahr darstellt. In diesem zweiten Fall aber ergäbe es keinen Sinn, ein Verbot auf Kopftücher im öffentlichen Raum zu beschränken. Einer näheren Betrachtung hält somit das Argument der Selbstverteidigung in unserem Fall nicht stand.

Obgleich, so läßt sich zusammenfassen, der Standpunkt der neutrali­stischen Liberalen zu unserem Verständnis für die politische Bedeutung der affaire foulard beiträgt, lassen sich ihm keine haltbaren Argumente für ein Verbot abgewinnen. Alle Argumente für ein Verbot, die wir soeben betrachtet haben, implizieren irgendeine Form der Exklusion (oder der ungleichen Einbeziehung) der islamischen Schülerinnen im Verhältnis zur übrigen Schulklasse. Während christliche Symbole als normal hinge­nommen werden, sind Symbole islamischer Religiosität umstritten, weil sie als provokativ gelten. Der Punk wiederum wird akzeptiert, obwohl er provokativ und aufdringlich ist, denn Punks sind keine fundamentalisti­sche religiöse Gruppierung, von der eine Gefährdung der demokratischen Institutionen ausgeht. Das Prinzip der Selbstverteidigung aber stand selbst einer Veröffentlichung revolutionären Materials nicht im Weg, auch dann nicht, als der Terrorismus eine akute Gefahr in europäischen Staaten darstellte. Gerade Frankreich hat sich stets ausgesprochen tolerant etwa ge­genüber terroristischen Flüchtlingen aus Italien verhalten, und französi­sche Intellektuelle, die nunmehr die Verschleierung so kritisch beurteilen, haben seinerzeit die italienischen Anti-Terror-Gesetze scharf kritisiert. Im Lichte dieses Vergleichs mit dem (heimischen) Terrorismus mag demnach auch das Argument der Selbstverteidigung eine Form der Diskriminie­rung moslemischer Schüler zu erkennen geben.

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