Freud: Die Übertragung (Vorlesung)

Aus Philo Wiki
Wechseln zu:Navigation, Suche

Worauf wir uns stützen

Noch einmal zu Maine de Biran, dem französische Philosoph, der in der Genealogie der Psychoanalyse nicht übergangen werden sollte: Uns ist er als Vertreter eines Ich-will begegnet, das dem cartesianischen Ich-denke vorausliegt oder das mit diesem Ich-denke im Hinblick auf die Konstitution des Ichs als eines Subjekts konkurriert. Woher beziehen wir unsere Selbstgewissheit? Ist es, wie Descartes sagt, unser Denken, das uns vor dem Verlorengehen schützt? Oder sind es andere Kräfte, etwa ein Ich-will oder ein Ich-kann? Die Psychoanalyse fragt zwar nicht, wovon wir ausgehen sollen, was wir als Fundament des Subjekts ansehen können. So wird auf dem Feld der Philosophie gefragt. Aber die Psychoanalyse gibt implizit Antworten auch auf nicht gestellte Fragen. Und solche Antworten verdanken sich zum Beispiel Einflüssen wie jenen von Maine de Biran.


Zwischen Charcot und Bernheim

Freud war sich zunächst nicht sicher über den Weg, auf dem er Heilung bewirken könne bei oder in seinen HysterikerInnen. Der Mesmerismus, das Konzept des Ausgleichs magnetischer Kräfte durch Einwirkung auf das Fluidum, wurde bereits vor Freuds Geburt, nämlich 1851, widerlegt oder ersetzt. James Braid gilt als Erfinder der Hypnose. Und mit der Hypnose hält die Suggestion als heilendes Agens Einzug in die europäische Medizin. Freud hat Hyppolite Bernheim besucht, jenen französischen Psychiater, welcher die Hypnose nicht nur auf HysterikerInnen beschränkt sah, sondern sie auch bei Gesunden anwendete. Freud hat ihn befragt zum Phänomen der posthypnotischen Suggestion. Außerdem hat Freud Bernheims Buch über Die Suggestion übersetzt und mit einer Vorrede versehen.

In einem Brief an Wilhelm Fließ distanziert sich Freud allerdings von Bernheim. Denn Freuds Vorbild heißt Charcot. Freud steht gleichsam zwischen zwei verschiedenen Schulen: der Schule von Nancy und der Schule der Salpetriere, die damals von Charcot bestimmt war. Neyraut meint, dass Freud inhaltlich trotzdem mehr von Bernheim als von Charcot übernommen hat. Und Neyraut sieht darin ein Übertragungsphänomen: Freud war von Charcot als Mensch so viel mehr beeindruckt als von Bernheim, sodass er die inhaltlichen Unterschiede beiseite lassen konnte: „wir gewinnen daraus die durch die analytische Praxis täglich neu bestätigte Vorstellung, daß man die Rufe des Unbewußten leichter auf Menschen als auf Ideen überträgt“ (Neyraut 1976, 127).

Bernheim, der in Nancy lehrte, betonte die psychische Seite der Hypnose. Freud gibt sich damals mehr an der physischen interessiert. Er wolle nicht irgendeinem Hypnotisierten eine beliebige Symptomatik aufdrängen, sondern in der Hypnose sei er bestrebt, Erscheinungsreihen sichtbar zu machen, welche im Nervensystem des Hypnotisierten bestehen. Anders gesagt: das Gehirn der Hysterikerinnen ist die Basis ihrer Reaktionsmöglichkeiten. Seinen eigenen Grundsätzen bleibt Freud in der Folge nicht ganz treu. In den Studien über Hysterie finden sich durchaus Passagen, in welchen Freud der Hypnotisierten eine mehr oder minder beliebige Symptomatologie aufdrängt. Das zeigt sich etwa in seinem Fallbericht über Frau Emmy v. N. (Freud 1895, 66-124).


Druck, Selbstzweck, Gegenübertragung

Drei Bemerkungen zum Bericht über Emmy v. N.:

1) Auffallend sind die manuellen Tätigkeiten, mit denen Freud seinen Suggestionen Nachdruck verleiht. Zwar bedient er sich bei Emmy v. N. nicht des Drucks auf die Stirn, jenes Kunstgriffs, den er erst später bei Miss Lucy und bei Fräulein Elisabeth v. R. einsetzt, aber er ist bemüht, mittels Massagen, Streichbewegungen und dem Wischen über die Augen direkt auf das Subjekt einzuwirken. Wir treffen hier noch einmal auf Maine de Biran. Rolf Kühn, der in Maine de Biran einen speziellen Verankerungspunkt für eine Theorie einer Selbstmanifestations des Erscheinen sucht, macht auf eine Geschichte der Berührung aufmerksam, die sich bei Maine de Biran findet. Berührung hat stets auch etwas mit Ausschließlichkeit zu tun. Dort, wo sich die Finger einer Hand befinden, kann sich keine andere Hand aufhalten. Aber das ist nicht das einzige, was die Berührung zu einer besonderen Art der Wahrnehmung macht. Auf Berührung sind wir in besonderer Weise angewiesen. Wir brauchen gar nicht auf das bekannte Spitzsche Phänomen des Hospitalismus zu verweisen. Es gibt keine Lebewesen ohne Berührungssinn, wiewohl es Tiere ohne Seh- oder/und ohne Gehörsinn sehr wohl gibt. Dass die Psychoanalyse auf diesen Sinn verzichtet, obwohl Freud am Anfang so sehr und so fest auf ihn gesetzt hat, lässt sich kaum damit erklären, dass auch Blicke berühren können. Denn die optische Modalität fehlt in Analysen ebenso wie die haptische.

2) Freud hält sich keineswegs immer an seine eigene, in Zusammenhang mit dem Vorwort zu Bernheims Buch schon erwähnte Vorgabe, dass die Hypnose nicht zum Selbstzweck zu erfolgen habe. Als Emmy v. N. Zweifel an ihrer eigenen Folgsamkeit äußert, entwickelt Freud folgendes Szenario: Er schreibt einige Worte auf einen Zettel, reicht ihn seiner Patientin und sagt ihr unter Hypnose, dass sie ihm heute nachmittag ein Glas Rotwein einschenken werde. Wenn er davon zu trinken beginne, werde sie, die Antialkoholikerin ist, ihn auch um ein Glas bitten, ihn dann aber doch ersuchen, ihr nichts einzuschenken. Dann werde sie in ihre Tasche greifen und den Zettel, den er ihr gerade gegeben habe, darin finden. Stolz berichtet Freud weiter unten im Text, dass sich in der Folge alles so zugetragen hat, wie er es in der Hypnose festgelegt hat.

3) Freud spricht im Text von Übertragung und zwar in einer nicht ganz klaren Weise: Emmy v. N. beendet die Behandlung nach sieben Wochen und begibt sich zurück an die Ostsee. Dort erkrankt ihre Tochter, und Emmy v. N. macht in der Folge Freud und den behandelnden Arzt der Tochter verantwortlich dafür, dass es dieser schlecht geht. Sie hob, so Freud, „gewissermaßen durch einen Willensakt (vgl. Maine de Biran!) die Wirkung [s]einer Behandlung auf und verfiel alsbald wieder in dieselben Zustände, von denen [er] sie befreit hatte“ (Freud 1895, 96). Breuer versucht die Patientin zu beruhigen. Aber sie lässt sich nicht bewegen, zu Freud zurück zu kehren. Breuer schickt sie zu einem anderen Arzt in Norddeutschland. Doch: „Dieser Versuch einer Übertragung mißlang ganz gründlich. Sie scheint sich von Anfang an mit dem Arzte nicht verstanden zu haben“ (ebd., 97).

Übertragung kann hier heißen: Es wird ein Behandlungsauftrag übertragen von Freud auf den Kollegen. Es kann sich die Übertragung aber auch beziehen auf die positive Affektion auf seiten der Patientin, welche notwendig ist, damit die Hypnose erfolgreich sein kann. Diese positive Affektion nennt Freud auch im abschließenden Kapitel zur Psychotherapie der Hysterie als Bedingung der Überwindung der Widerstände: „ein affektives Moment, die persönliche Geltung des Arztes, [wird man] selten entbehren können, und in einer Anzahl von Fällen wird letzteres allein imstand sein, den Widerstand zu beheben“ (ebd., 300). Wenig vorher im Text spricht er von der Bedingung, die aufseiten des Arztes erfüllt sein muss, damit eine Behandlung gelingen kann: Es muss ein Maß von Sympathie vorhanden sein. Wir können dieses Maß von Sympathie als einen Bestandteil der Gegenübertragung auffassen. Das würde bedeuten, dass nicht die Übertragung das erste ist, sondern die Gegenübertragung. Michel Neyraut beginnt in seiner Untersuchung zur Übertragung bei der Gegenübertragung. Er hält sie für vorrangig. Sie bildet den Bezugsrahmen, in welchem sich die Übertragung des Patienten überhaupt erst entwickelt. Was ist gemeint mit Gegenübertragung? Das Ensemble von Leidenschaft und Passion, welches sich aufseiten der/des Analytikerin/s zeigt, sagt Neyraut. Leidenschaft und Passion klingen ähnlich. Eine Passion ist eine Leidenschaft. Aber Passion hat auch etwas zu tun mit Erdulden, Erleiden. Neyraut versucht mit dem Hinweis auf Leidenschaft und Passion ein aktives und ein passives Moment in der Gegenübertragung zu erfassen.

Die Definition der Gegenübertragung ist in der Psychoanalyse ebenso umstritten wie ihre Bedeutung. Laplanche und Pontalis bezeichnen als Gegenübertragung bei Freud die Gesamtheit der unbewussten Reaktionen des Analytikers auf die Person des Analysanden und insbesondere auf seine Übertragung. So lässt sich Gegenübertragung auch definieren. Aber Neyraut hält sich nicht an diese Definition, wenn er schreibt, dass es lange vor der Reaktion auf eine spezifische analytische Situation eine Reihe von Attitüden, Verhaltensweisen, Einstellungen, Empfindungen, eben Leidenschaften gibt, die im Vorhinein prägend für eine spätere einzelne analytische Situation sind: die Lehranalyse, die Ausbildungssituation, orthodoxe Positionen, mit denen sich AnalytikerInnen auseinanderzusetzen haben. All dies bestimmt den Rahmen. Neyraut macht damit auf zwei Momente aufmerksam: die Gegenübertragung ist für ihn so etwas wie Voraussetzung der Übertragung. Und die Gegenübertragung ist ein affektives Geschehen mit aktiven wie mit passiven Momenten.

Eine Vorgängigkeit der Gegenübertragung konstatiert Neyraut auch in der Entwicklung von Freuds Theorie: Der Entwurf einer Psychologie und viele Arbeiten vor dem Fall Dora zeigen Freuds Widerstand, die Übertragung zum Thema zu machen (Neyraut 1976, 22). Auch die Gegenübertragung wird in dieser Phase nur selten explizit genannt. Sie wird von Freud insgesamt noch viel weniger behandelt als die Übertragung. Aber im Sinne Neyrauts, dass nämlich die Gegenübertragung der Übertragung vorausgeht, dass ein Rahmen gebildet wird, innerhalb dessen sich die Übertragung manifestieren kann, spielt die Gegenübertragung von Anfang an eine prominente Rolle bei Freud. Die Schwierigkeiten mit der Terminologie, das Jonglieren mit den eigenen Fachausdrücken führt zu Missverständnissen, die vermeidbar sind: Neyraut versteht unter Gegenübertragung etwas anderes als Lacan, Lacan etwas anderes als Freud. Lacan bezieht sich zunächst positiv auf die Gegenübertragung ...

Ein erster Begriff der Übertragung

Es ist also am Ende der Studien über Hysterie ein erster Begriff der Übertragung gewonnen. Er betrifft die Beziehung zwischen Arzt und Patient und wird als ein falscher Bezug, als eine Messaliance angesehen. Es kommt, so Freud, in Analysen regelmäßig vor, dass peinliche Vorstellungen auf den Arzt übertragen werden. Dabei handelt es sich gewissermaßen um einen Irrtum. „Die Übertragung auf den Arzt geschieht durch falsche Verknüpfung“ (Freud 1895, 319). Auftauchende Assoziationen werden mit der Person des Arztes verknüpft, was zum Auftauchen der Affekte führt, die zum Zeitpunkt der Verdrängung eines Wunsches bestanden haben. Dieses Auftauchen ermöglicht die Bearbeitung des Konflikts. Und die „Kranken lernten auch allmählich einsehen, daß es sich bei solchen Übertragungen auf die Person des Arztes um einen Zwang und um eine Täuschung handle, die mit der Beendigung der Analyse zerfließe“ (Freud 1895, 321).

Nach den Studien über Hysterie ist es Doras Fallgeschichte, welche von der Übertragung handelt, wenngleich Freud die Übertragungskonstellation von Dora falsch aufgefasst hat. Neyraut betont, dass Freud eigentlich mit Dora erst beginnt, eine Theorie der Übertragung auszuarbeiten (Neyraut 1976, 142). In der Traumdeutung kann die Übertragung an zwei Begriffen festgemacht werden, an der Verdichtung und an der Verschiebung. Aus einer energetischen Perspektive ist die Übertragung eher eine Verschiebung: Es werden Besetzungsenergien, Affektbeträge von einer Vorstellung auf die andere verschoben. Aus linguistischer Sicht wäre eher von Verdichtung zu sprechen. Denn Übertragung ist die deutsche Übersetzung des griechischen Wortes Metapher. Und die Verdichtung, so wie sie Freud in der Traumdeutung als einen Mechanismus der Traumarbeit im Dienste der Traumzensur beschreibt, trägt Züge einer Metapher: „Erwähnenswert ist noch der Fall, daß im Traum ein an sich nicht bedeutungsloses Wort erscheint, das aber, seiner eigentlichen Bedeutung entfremdet, verschiedene andere Bedeutungen zusammenfaßt, zu denen es sich wie ein „sinnloses“ Wort verhält“ (Freud 1900, 304). Verdichtung und Verschiebung, Metapher und Metonymie, stehen in engem Zusammenhang, lassen sich oftmals auch schwer voneinander unterscheiden. Zur Zeit der Studien über Hysterie trägt Freuds Übertragung deutlich Züge einer Metonymie. Die Traumdeutung lässt auch eine andere Lesart zu.


Lit.:

Breuer, Josef / Sigmund Freud (1895): Studien über Hysterie, Frankfurt/M.: 1991.

Freud, Sigmund (1900): Die Traumdeutung, in: ders.: Studienausgabe Bd. II, Frankfurt/M.: Fischer 2000 ff.

Kühn, Rolf (2006): Pierre Maine de Biran – Ichgefühl und Selbstapperzeption. Ein Vordenker konkreter Transzendentalität in der Phänomenologie, Hildesheim, Zürich, New York: Olms.

Neyraut, Michel (1976): Die Übertragung. Literatur der Psychoanalyse (orig. franz. ders.: Le Transfer, Etude psychanalytique, Paris: Presse Universitaire de France 1974), Frankfurt: Suhrkamp.



Felder der Übertragung