Ethische Toleranzbegründung

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Eine Bemerkung zum juristischen Paradigma: Ich weiß nicht, ob ein „Gesellschaftsvertrag“ dafür zwangsläufig die Voraussetzung ist. Die Naturrechtsperspektive wäre eine weitere Möglichkeit, ist aber natürlich – keine Frage – ebensowenig neutral.--Jakob 08:05, 4. Nov 2005 (CET)

Ich denke, dass man an einer gesellschaftlichen Vertragstheorie als notwendige (wenn auch nicht hinreichende) Bedingung für einen universalen Toleranzbegriff nicht herumkommt. Will man verhindern, dass Toleranz zu einem Spielball individueller Argumentationmuster verkommt, so muss es durch eine gemeinsame Basis universeller Werte abgesichert werden. Nur so läßt sich deren "mißbräuchliche" Vereinnahmung durch eine individuelle Auslegung verhindern.

Diese Basis ist zunächst scheinbar kulturabhängig und orientiert sich an den unterschiedlichen, gesellschaftlichen Übereinkünften, also den jeweiligen Normen und Werten, welche aus unterschiedlichen Erfahrungs- und Entwicklungsmustern entstanden.

Ein global gültiger Toleranzbegriff (und ich gehe davon aus, dass dies das Ziel unserer Überlegungen sein muss) bedarf daher einer analogen, universalen Wertebasis. Dass dies keine utopische Forderung ist, sondern durchaus realistisch sein kann, zeigen zB diesbezügliche Überlegungen im Rahmen des Weltethos Projektes [1] (dazu gibt es auch eine RingVL an der Uni). Dabei wird einleuchtend dargelegt, dass es tatsächlich eine Basis gibt, auf der sich alle Kulturen verständigen können, nämlich jene der (im Deutschen sehr kindlich formulierten) Goldenen Regel: "Was du nicht willst das man dir tut, das füge auch keinem anderen zu".

So betrachtet könnte man den Begriff Toleranz lediglich als eine Ausformung eines viel tiefer liegenden allgemein gültigen ethischen Prinzips verstehen, auf welches sich (so scheint es) alle Gesellschaften berufen, und welches erst eine funktionierende Gesellschaft ermöglicht. Was Hobbes in seiner Vertragstheorie forderte und Kant für die westliche Denktradition transzendental begründete entpuppt sich somit als Basis eines (meiner Meinung nach abgesicherten) Minimalkonsenses, der es der Toleranz erst ermöglicht seine brückenschlagende Wirkung zu entfalten, ohne dabei Gefahr zu laufen, sich in der Beliebigkeit kulturell bedingter unterschiedlicher Interpretationen zu verlaufen.

Was die andere Diskussion zum Thema: "Toleranz nur gegenüber den Toleranten" betrifft, so teile ich Gregs Meinung, dass das sehr schnell gefährlich werden kann. Ich möchte hier nur an den folgenden, schönen und zugleich mahnenden Spruch erinnern: "Eine Politik, die auf dem Prinzip Auge um Auge, Zahn um Zahn basiert, führt letztlich nur zu einer Gesellschaft ohne Augen und ohne Zähne." (New York Times, 1993)

Spitzl 23:13, 4. Nov 2005 (CET)


Da habe ich Bedenken.

  • "Vertragstheorie" und eine "gemeinsame Basis universeller Werte" liegen weit auseinander
  • das Problem der Toleranz als "Spielball" entsteht durch die "persönlichen Toleranzauffassungen" und hier ist zu unterscheiden:
    • unterschiedliche Begriffsformen
    • unterschiedliche Auffassungen über die Verwirklichung des Begriffes
  • das ethische Prinzip der Gegenseitigkeit unterscheidet sich vom Thema Toleranz an dem entscheidenden Punkt, dass es dabei nicht primär um Wahrheit geht, während bei Toleranz die Anerkennung einer abgelehnten Position den Ausschlag gibt. --anna 13:20, 5. Nov 2005 (CET)

Ich denke, dass die von dir wahrscheinlich gemeinten Charakteristika von Gesellschaft (gemeinsame Wertebasis)nichts mit einem Gesellschaftsvertrag im Hobbes´schen Sinn zu tun haben: Hobbes beschreibt doch in diesem Zusammenhang meines Wissens den Tausch Unfreiheit (des Volkes gegenüber dem Staat) gegen Sicherheit (die der Staat dem Volk bietet). Meiner Meinung nach ist eine Vertragstheorie nicht nötig (oder auch nur dienlich), um gemeinsame Werte innerhalb unterschiedlicher Gesellschaften (bzw. besser: diese übergreifend) zu beschreiben!--Sophie 12:02, 18. Nov 2005 (CET)

Ich teile natürlich die Meinung, dass "Vertragstheorie" und "gemeinsame Basis universeller Werte" nicht das Gleiche sind. Doch bin ich der Meinung das ein Gesellschaftsvertrag ohne gemeinsame Werte hohl bleiben muss. Ein ethischer Unterbau könnte hier Abhilfe schaffen. Die Goldene Regel brachte ich deshalb ins Spiel, weil es sich dabei um einen Wert zu handeln scheint, der von allen Kulturen geteilt wird. Warum das so ist, kann ich mir nur dadurch erklären, dass die Gesellschaften im Laufe ihrer geschichtlichen Entwicklung scheinbar ein ähnliches Lösungsschema zur Konfliktentschärfung entwickelten.

Ob es sich dabei um eine Wahrheit handelt oder nicht, ist meines Erachtens irrelevant und wäre auch nicht zu beantworten. Es geht um eine praktikable Basis für das Zusammenleben von Individuen trotz unterschiedlicher Ansichten und Verhaltensweisen. Ist Toleranz die Anerkennung einer abgelehnten Position, so ist eine durch gemeinsame Basiswerte abgesicherte Vertragstheorie so etwas wie ein Mindeststandard, unter dem individuelle Toleranzauffassungen zum Zwecke des Allgemeinwohls ihre Wirkungen verlieren.

John Rawls schlägt in seiner "Theory of Justice" [2] einen Gesellschaftsvertrag vor, dessen Vertragspartner zunächst nicht wissen, in welcher gesellschaftlichen Position sie sich wiederfinden werden. Damit bleibt den Beteiligten bei der Vertragsausarbeitung nur der Rückgriff auf die Goldene Regel. Denn, wenn ich mir nicht sicher bin, in welcher Situation ich mich befinden werde, so werde ich tunlichst danach trachten für alle erdenklichen Positionen eine tolerierbare Lösung zu finden, mit der ich auch selbst (gleich welchem Toleranzverständnis ich anhänge) zufrieden wäre. Dies schließt auch die Toleranz gegenüber abgelehnten Positionen ein, da ich ja damit rechnen muss, dass ich mich (nachdem sich nach Vertragsunterzeichnung der Schleier lichtet und die gesellschaftlichen Positionen zutage treten) auf der "anderen" Seite wiederfinde.

Spitzl 18:14, 5. Nov 2005 (CET)


Ich habe auch Bedenken.

1. Die Goldene Regel geht von symmetrischen Interessen oder Vorlieben aus. Das muss nicht immer zutreffen. Plumpes Beispiel: sexuelle Belästigung. Oder wenn ein Hundebesitzer seinen Hund auf den Gehsteig scheißen lässt und ich erinnere ihn an die Goldene Regel, also dass er sicher auch nicht wollte, dass ich meinen Hund auf den Gehsteig scheißen ließe, würde er vielleicht antworten: "Es wurd mi ned stärn." Da ich aber gar keinen Hund habe und auch wenn ich einen hätte jedenfalls kein Interesse daran, ihn auf den Gehsteig scheißen zu lassen, nützt mir die Toleranz dieses Hundebesitzers nichts.

2. Ich denke, der Begriff Toleranz bleibt hohl, wenn Toleranz nicht gerade erst da gefordert ist, wenn (mir) jemand etwas tut, von dem ich nicht will, dass er es (mir) tut. Wenn z. B. Leute ihre Hunde auf den Gehsteig scheißen lassen, dann will ich nicht, dass sie (mir) das tun, aber ich kann es tolerieren.

Wir können die Goldene Regel direkt auf die Toleranz anwenden im Sinn von: Wenn du tolerierst, dass ich meinen Hund auf den Gehsteig scheißen lasse, dann toleriere ich dafür, wenn du...(was auch immer). Darin würde ich aber eher einen Kuhhandel als Toleranz sehen.

An dem Beispiel wirft sich auch die Frage auf, warum man überhaupt etwas tolerieren sollte, was man völlig falsch findet, was einen stört und wo man nichts davon hat, wenn man es toleriert.--Anton 18:35, 5. Nov 2005 (CET)

Und eine weitere: Ist es dafür, daß der Duldungsakt Toleranz heißen kann, wichtig oder gar wesentlich, daß „man nichts davon hat“? (man denke an Kant, den guten Willen, pflichtgemäßes Handeln, Handeln aus Pflicht usw.)--Jakob 14:01, 6. Nov 2005 (CET)

Es ist insofern wesentlich, als es sonst wahrscheinlich eher ein Thema der Spieltheorie als der Philosophie ist. Wenn der Duldungsakt einem Eigennutz dient, dann ist es einfach ein Deal und man kann spieltheoritisch überlegen: Unter welchen Bedingungen ist es rational den Deal einzugehen und sich daran zu halten? Vielleicht ist das ja die adäquate Annäherung an das Thema Toleranz. Vielleicht steckt hinter Toleranz nie mehr als (aufgeklärter) Eigennutz?--Anton 21:48, 6. Nov 2005 (CET)


Um auf die Kritik von Anton zu antworten: Es stimmt schon, dass es dem Hundebesitzer ziemlich egal sein wird, was der Köter vor meiner Haustür macht. Wenn man das Beispiel eines Mannes nimmt, der eine Frau sexuell belästigt ist es sogar noch schlimmer. Womöglich träumt der noch davon, dass sie dasselbe mit ihm macht. Doch so eng würde ich die Symmetrie nicht auslegen. Weiter gefasst hat jeder Mensch ein Interesse daran, dass seine individuelle Persönlichkeit, samt eigenem Willen respektiert werden. Und aus eben dem Grund sollte es auch nicht schwer fallen, den anderen in seinem Anderssein ebenfalls zu respektieren.

Ich sehe keinen Widerspruch darin, dass Toleranz einerseits selbstlos sein muss, damit man überhaupt davon sprechen kann und auf der anderen Seite dann doch auch Eigennutzen dahintersteht. So ist die Toleranz z.B. in einem konkreten Konfliktfall dadurch bestimmt, dass ich ein Verhalten toleriere, obwohl es mir eigentlich nicht passt. Dennoch kann diese Toleranz in einem größeren Zusammenhang durchaus in meinem Interesse sein. Etwa wenn man Toleranz als ein positives Signal an die Welt versteht, das zwar keine unmittelbare direkte Gegenleistung verlangt, aber doch mit einer gewissen Hoffnung verbunden ist, dass es einem andere gleich tun. Gelingt das, so steigt die Chance, dass sich in der Zukunft Menschen auch mir gegenüber tolerant(er) verhalten werden.

So gesehen würde ich Anton's Meinung teilen, dass sich hinter Toleranz ein gutes Stück aufgeklärter Eigennutz verbirgt.

Spitzl 13:15, 7. Nov 2005 (CET)


Ich bin sowieso der Meinung, dass sich hinter jedem Handeln, egal ob tolerant oder nicht, der Eigennutz versteckt. Egoismus ist Voraussetzung für (Über-)Leben. Das wiederum lässt die Frage aufkommen, ob es altruistisches Handeln überhaupt gibt, denn selbst wenn ich monatlich z.B. für "Vier Pfoten", "Amnesty International" etc. spende oder sogar unentgeltlich ein Projekt für Blinde in der 3.Welt ins Leben rufe, tue ich dies schlussendlich, weil ich mich danach besser fühle und diese Tat mein Gewissen besänftigt. Auch ein Gutes Gewissen, also ein gutes Gefühl in mir ist wesentlich für meine persönliche Lebensqualität, also war meine "gute Tat" schließlich (zumindest unter anderem) egoistischer Natur. (Andererseits weiche ich damit wahrscheinlich gerade viel zu weit vom eigentlichen Thema ab...!?) Was wesentlich für diese Diskussion ist, ist, so glaube ich, zu erkennen, dass Toleranz niemals ihren Ausgangspunkt bei der Goldenen Regel ("Ich bahandle dich so, wie ich auch von dir behandelt werden will")haben kann, da eben jeder andere Vorlieben, Abneigungen, etc. hat. Wenn es mein sehnlichster Wunsch wäre, mit meinem Bruder einmal im Leben Fallschirmspringen zu gehen, kann ich nicht auf ihn böse sein, wenn er den Spaß nicht mitmachen will, weil er an krankhafter Höhenangst oder Flugangst leidet - auch, wenn ich es für ihn tun würde. Ebensowenig kann ich als Masochist auch nicht jeden beliebigen, den ich beim Einkaufen treffe, in den Bauch schlagen, auch, wenn ich es mir gefallen würde, von einem Wildfremden verprügelt zu werden. Die goldene Regel müsste demnach also lauten: Handle stets so, dass du keinem anderen damit schadest. Dazu allerdings müsste ich erst wissen, auf wen aller sich meine Handlung auswirkt, und dann müsste ich genau wissen, was diesem Menschen individuell schaden würde und dies natürlich auch berücksichtigen und dazu auch noch meine persönlichen Wünsche beachten...schwierig, schwierig...wahrscheinlich sogar unmöglich, dies alles unter einen Hut zu bringen. Man kann vielleicht nicht immer Handeln ohne einem anderen zumindest ein wenig zu schaden. Vielleicht ist es nur wichtig zu versuchen dies möglichst in Maßen zu halten(...doch wo liegt die Grenze???) Anders gesehen muss ich einsehen, dass auch andere vielleicht nicht immer totale Rücksicht auf mich nehemen können - dies hinzunehmen (wenn es nicht zu stark in mein Leben eingreift)und zu akzeptieren wäre dann tolerant!?--Gregs 23:21, 9. Nov 2005 (CET)



ist es nicht so, dass Toleranz nur dort akut wird wo eine Bedrohung denkbar und/oder wahrscheinlich wird? Der oben formulierte Imperativ steht ja schon vollkommen im Zeichen einer solchen Bedrohung. Er verdankt sich sozusagen dieser "Bedrohung". Und es ist immer eine "Bedrohung" durch den Anderen, denn Toleranz gegenüber einem Naturphänomen (etwa einem Erdbeben) würde uns wohl als unsinnig erscheinen. Gibt es hier nicht eine Situation die zunächst klarer in den Blick kommen müsste? --Dyade 11:03, 8. Nov 2005 (CET)

Anders gesagt: das Thema "Toleranz" ist unbedingt mit dem Thema "Herrschaft" verbunden, genauer: mit der Abwehr von Herrschaftsansprüchen. Die Berufung auf die "goldene Regel" ist eine Möglichkeit, sich aus diesem Rahmen herauszubewegen. Die Schwierigkeit ist, dass man dann in den Bereich der allgemeinen Gerechtigkeit gerät, der wiederum jenseits des Toleranzproblems liegt. --anna 13:06, 10. Nov 2005 (CET)

ich denke, dass szenarien der bedrohung gerade die grenze für akte der toleranz darstellen.
erreichen wir nicht angesichts von bedrohungssituationen jenen punkt, an dem das spiel mit schönen worten in der regel zu einem abrupten ende kommt . . . ?
john rawls argumentiert in dem lesenswerten kapitel "toleranz gegenüber der intoleranz" (a theory of justice, 1971, S. 246f.): "Angesichts der einer gerechten Verfassung eigenen Stabilität verstehen sich die Mitglieder einer wohlgeordneten Gesellschaft nur in besonderen Fällen zur Beschränkung der Freiheit der Intoleranten, nämlich wenn es zur Bewahrung der gleichen Freiheit selber notwendig ist." wenn "die Toleranten aufrichtig und mit guten Gründen, glauben, ihre eigene Sicherheit und die der freien Institutionen sei in Gefahr", dürfe man sich von radikal-konsequenter toleranz interimistisch verabschieden.
lukas, 10. 11., 23:20

Intoleranz wäre also dann eine Haltung die als Reaktion auf eine Bedrohung eingenommen wird, welche die Bedingung für die Möglichkeit von Toleranz überhaupt zerstört. ... Ich mache mir Gedanken darüber was Toleranz genau ist, als ein "innerer" Akt (Haltung?). Was ist beispielsweise mit dem was wir unter Geduld und/oder Duldung verstehn? Die Respektierung der Meinungen, Wertvorstellungen und Verhaltensweisen anderer, klar. Mit dieser Definition veschiebt sich aber das Problem und ich frage zum nächsten, was ist dann Respekt? Eine Achtung, eine Ehrerbietung; Ehrfurcht, Scheu? Vielleicht den Anderen in seinem Sein sein lassen solange er nicht in meine Richtung schaut, solange ich ihn nur aus dem Augenwinkel sehe und bemerke oder vielleicht sogar solange er überhaupt kein Anderer ist sondern sozusagen zu meiner Identität gehört? Kann man da überhaupt noch von Toleranz sprechen wenn es keiner Anstrengung bedarf, wenn ich intuitiv spüre der Andere bin ich? Toleranz, Respekt und Aktzeptanz sind in meinen Augen Begriffe die so eng beieinander liegen das sie als Elemente einer Definition des jeweils anderen Begriffes nicht herangezogen werden können ohne das man in hoffnungslose Zirkel gerät. Ich habe nicht das Gefühl auf solch kreisendem Grund festen Boden unter den Füßen zu haben, wenn es nicht gerade das ist, kein fester Grund, was Toleranz authentisch machen würde.--Dyade 13:39, 13. Nov 2005 (CET)



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