Dr. Judith Brunner-Popela über Ausschnitte aus „Natur und Gesellschaft“ von Manfred Wetzel

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Welche Umwelt ist schützenswert?

Manfred Wetzel spricht in seinem Werk Praktisch-politische Philosophie, Band 2: Natur und Gesellschaft in erster Linie von Natur und nur am Rande von Umwelt. Er geht von folgender Definition der Natur aus: „Natur ist ein ganzheitliches, knappes, universelles, nicht stückwerkstechnologisch bearbeitbares, weil nicht beliebig regenerierbares Gut. Natur ist ein unersetzliches, unerläßliches, alternativloses, nicht beliebig belastbares, weil irreversibel zerstörbares Gut.“ (1) Und er konkretisiert weiter: „Natur ist ein unbedingt zu erhaltendes, im Umgang zu schonendes, in der unvermeidlichen Nutzung unter Optimierungszwang zu stellendes und im Hinblick auf die unvermeidlichen Schäden soweit wie irgend möglich zu regenerierendes Gut.“ (2)

Natur wird von Wetzel damit als wertvolles Gut betrachtet: Natur zeichnet sich aus seiner Sicht durch eine Fülle von Eigenschaften aus, die häufig aus schädigenden Eingriffen des Menschen in die Natur abgeleitet werden und damit implizit bereits eine Handlungsanweisung für die Gesellschaft ausdrücken. Allein die Universalität der Natur ist eine positive Beschreibung; alle anderen Eigenschaften, wie etwa knapp, unerlässlich, unersetzlich, alternativlos, nicht stückwerkstechnologisch bearbeitbar, nicht beliebig regenerierbar, nicht beliebig belastbar oder irreversibel zerstörbar beziehen sich auf (negative) Eingriffe des Menschen in die Natur. Auch Ganzheitlichkeit wird von Wetzel klar über Naturschäden hergeleitet: Die Stückwerksartigkeit menschlichen Tuns wird dann zu einem Problem, „wenn die Anzahl dieser Eingriffe so groß und deren Folgen oder ‚Nebenwirkungen’ […] im Raum als ‚Summations- und Distanzschäden’ und in der Zeit als ‚Langzeitfolgen’, ‚Altlasten’ etc. von solcher Art sind, daß das stückwerksartige Tun zu einem ganzheitlichen Tun wird, weil es ganzheitliche Folgen hat.“ (3)

Den universellen Charakter der Natur beschreibt Wetzel sehr anschaulich über den Zusammenhang von Natur und Gesellschaft. Dabei führt er auch den Begriff der Umwelt ein: „Die Natur ist für die Gesellschaft und die Gesellschaften und in einem damit für die in der Gesellschaft und in einzelnen Gesellschaften lebenden Menschen (i.) Lebensraum und Umwelt als dieser ganz allgemeine, in der Zeit existierende materielle Aufenthaltsraum, (ii.) Material und Mittel in Gestalt von Stoffen und Kräften, die in den vielfältigsten besonderen Formen direkt oder indirekt zur Befriedigung von Bedürfnissen dienen, (iii.) eine praktisch unübersehbare Fülle individueller ganzheitlicher organischer Systeme, d.s. Flüsse, Seen und Meere, Wälder, Berge und Gebirge, überhaupt eine Einheit bildenden Naturteile wie z.B. quasi-abgeschlossene Landschaften, die pflanzlichen Organismen als Individuen, Arten und Gattungen, schließlich die tierischen Organismen wiederum als Individuen, Arten und Gattungen einschließlich des Menschen in Gestalt seiner organisch-materiellen Grundlage, die noch mal eine Sonderstellung unter den tierischen Organismen wie in der Natur überhaupt inne hat. “ (4)

Wetzel geht also von einem äußerst breiten Ansatz von Natur aus: Der Begriff Natur umfasst auch den Begriff Umwelt im Gegensatz zu anderen Ansätzen, die den Begriff Umwelt als den umfassenderen ansehen. Natur beinhaltet für Wetzel alle Aspekte der materiellen Lebensgrundlage und der Lebensformen selbst. Der Mensch zeichnet sich dabei durch eine Sonderstellung aus, nicht nur im klassischen Sinn einer Sonderstellung unter den tierischen Organismen, sondern vielmehr auch durch die Doppelbindung zur Natur. Er ist Teil der Natur allein durch die Tatsache, dass er ein individuelles, ganzheitliches, organisches System darstellt. Zugleich ist er jedoch auch Teil der Gesellschaft. Wetzel differenziert hierbei klar zwischen Natur und Gesellschaft: „Natur ist der Inbegriff und die Gesamtheit von Materie. Gesellschaft ist der Inbegriff und die Gesamtheit von Kommunikation.“ (5) Der Mensch als Individuum und die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit sind damit zwar eindeutig von der Natur zu unterscheiden, können jedoch nicht vom Naturbezug getrennt werden: „Der Gesellschaft insgesamt wie auch jedem Subjekt im einzelnen ist der Naturbezug von Haus aus, ursprünglich eigen und kann daher nicht einmal theoretisch, sondern allenfalls rein abstrakt in Gedanken, im Sinne einer gänzlich abstrakten Negation, weggedacht werden […].“ (6) Diese Doppelbindung von Mensch und Natur, von Gesellschaft und Natur bildet jenes Spannungsfeld, in dem sämtliche Handlungen der Menschen im Hinblick auf die Natur stattfinden.

Der Mensch kann nämlich der Natur eher passiv oder eher aktiv gegenüber treten, also die Natur als Gegebenes hinnehmen, benutzen und gebrauchen oder als Gegenstand von Eingriff und Umgestaltung betrachten. Die Eingriffe des Menschen in die Natur können also auf unterschiedliche Art und Weise erfolgen, je nach dem, auf welcher Einstellung das praktische Verhalten beruht: Die stückwerksartige Einstellung betrachtet die Natur als ein unbegrenzt zur Verfügung stehendes Reservoir an Lebensräumen und Umwelt, an Materialien und Mitteln und an organischen Systemen. Die ökologisch orientierte Einstellung geht hingegen davon aus, dass die Natur nicht unbegrenzt zur Verfügung steht, sondern Kreisläufen und Gesetzmäßigkeiten der Selbstregulation und Selbsterhaltung unterliegt. Die integrativ-teleologische Einstellung geht noch einen Schritt weiter und betrachtet die Natur als ein System von Zwecken, das auch die Gesellschaft umfasst, sodass ihre Zerstörung zugleich eine Zerstörung von Gesellschaft und Mensch nach sich zieht. (7)

Technik spielt dabei eine wesentliche Rolle: „Allen Formen der Technik […] ist eines gemeinsam: Sie befinden sich im Überschneidungs-, Durchdringungs- und Verflechtungsbereich von Natur und Gesellschaft […]. Die Verfahren und Gerätschaften, die Anlagen und die Produkte der Technik sind buchstäblich die Gravur der Gesellschaft in die Natur […].“ (8) Insbesondere die Formulierung „Gravur der Gesellschaft in die Natur“ zeigt, dass für Wetzel der Zusammenhang von Mensch und Natur eher negativ konnotiert ist in Form einer Naturaneignung und Ausübung von Macht über die Natur.

Technik wird als Gesamtheit und Inbegriff aller gesellschaftlich vermittelten Naturaneignungen und Naturgestaltungen verstanden, wobei Wetzel drei Möglichkeiten unterscheidet: symbolische Form der Technik (Aneignung von Natur unter Beibehaltung ihrer Beschaffenheit), klassische Form der Technik (Aneignung und Gestaltung der Natur durch Umwandlung von Naturelementen) sowie vermeintlich autonome Form der Technik (gekennzeichnet durch die Glaubenshaltungen, dass es keine Grenzen der Machbarkeit gibt und dass der Mensch nahezu vollständig und in jeder Hinsicht ersetzbar ist). (9) Nach Wetzel ist mit der (vermeintlich) autonomen Form der Technik nunmehr ein Wendepunkt erreicht, an dem ihre Auflösung beginnt. Es bedarf einer kritischen Selbstreflexion von Naturwissenschaft und Technik, eines selbstreflexiv-kritischen Hinausgehens über die Methoden und ihre Anwendung in Natur und Gesellschaft.

Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass für Wetzel die Natur in ihrer Gesamtheit schützenswert ist, also jene Natur, die für die einzelnen Menschen ebenso wie für die Gesellschaft

  • Lebensraum und Umwelt,
  • Material und Mittel in Form von Stoffen und Kräften, die der Befriedigung von Bedürfnissen dienen,
  • ebenso wie eine unübersehbare Fülle individueller ganzheitlicher organischer Systeme, d.s. Flüsse, Seen und Meere, Wälder, Berge und Gebirge ebenso wie pflanzliche und tierische Organismen, zu denen auch der Mensch zählt, darstellt.

Interessant erscheint die Tatsache, dass Wetzel kaum auf ästhetische Aspekte eingeht. Lediglich an einer Stelle verweist er auf unterschiedliche Formen der Erschließung und Erfahrung von Natur und die dahinter stehenden Absichten, die praktisch-ökonomisch, erkennend-theoretisch oder ästhetisch sein können. (10)


Womit kann die Schützenswürdigkeit der Umwelt begründet werden?

Manfred Wetzel betrachtet in seinem Werk Praktisch-politische Philosophie, Band 2: Natur und Gesellschaft die Natur in ihrer Gesamtheit als schützenswert, wobei er diese Schützenswürdigkeit in mehrfacher Hinsicht begründet.

Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet die Tatsache der Naturbeschädigung und Naturzerstörung: „[…] die Beschädigung und Zerstörung der Natur [hat] qualitativ einen Charakter und quantitativ ein Ausmaß angenommen, daß die Fortexistenz der Natur als Lebensraum, als Lebensmittel und als entwickelte Mannigfaltigkeit organischer Systeme prinzipiell in Frage gestellt ist.“ (11) Damit ist für Wetzel auch ein erstes zentrales Argument für die Schützenswürdigkeit der Natur verbunden: Ohne Natur kann der Mensch nicht existieren. Sie ist unabdingbare Lebensgrundlage der gesamten Menschheit, da sie Lebensraum und Umwelt, Material und Mittel in Form von Stoffen und Kräften, die der Befriedigung von Bedürfnissen dienen, und zugleich eine Fülle individueller ganzheitlicher organischer Systeme, d.s. Flüsse, Seen und Meere, Wälder, Berge und Gebirge ebenso wie pflanzliche und tierische Organismen, zu denen auch der Mensch zählt, darstellt. Dadurch dass der Mensch aber selbst ein individuelles ganzheitliches organisches System ist, ist auch er selbst gefährdet, wenn die Natur beschädigt oder gar zerstört wird. Es geht also nicht nur um die Natur als Lebensgrundlage der Menschheit, sondern auch um die Existenz der Menschheit selbst.

Wetzel verknüpft Natur und Gesellschaft nicht nur auf der Ebene der Materie, sondern auch auf der Ebene der Anschauungen: „Die Natur ist das Andere der Gesellschaft, aber die Gesellschaft ist in ihrem Anderen bei sich selbst.“ (12). In allen Lebensbereichen – Nahrung, Kleidung, Baulichkeiten, Energie, Werkzeuge, Mobilität – bedarf die Gesellschaft der Natur als dem Anderen ihrer selbst. Das (menschliche) Subjekt ist also durch sein In-der-Welt-sein in Form eines In-der-Natur- und In-der-Gesellschaft-seins der Schnittpunkt von Natur und Gesellschaft. Dieses Verhältnis von Natur und Gesellschaft kann „als das Bei-sich-selbst-sein der Gesellschaft in der Natur als dem Anderen ihrer selbst im allgemeinen und als die Gravur der Gesellschaft in der Natur, mithin als die Technik im besonderen“ (13) gefasst werden. Auch auf der Ebene der Anschauungen bilden also Natur und Gesellschaft eine Einheit, wobei die Gesellschaft von der Natur abhängig ist und nicht umgekehrt.

Wetzel führt auch ökonomische Argumente an: Jede aktive Zerstörung der Natur oder auch jede Inkaufnahme einer Zerstörung kann auf betriebswirtschaftlicher Ebene zu Gewinnen führen, auf volkswirtschaftlicher Ebene jedoch ist sie mit hohen Kosten verbunden, die in Summe die Einzelgewinne deutlich überschreiten. Die Natur muss nach Wetzel daher als ökonomisches Gut betrachtet werden: „Die Natur ist auch ein ökonomisches Gut und sie kann nur – wenn überhaupt – noch erhalten resp. regeneriert werden, wenn sie als ökonomisches Gut im Ge-und Verbrauch ihren kostenträchtigen, sachangemessenen, sozial ausdifferenzierten und belohnungs-/bestrafungsdefiniten Preis hat.“ (14)

Die gegenwärtige Ökonomie steht diesem Ansatz allerdings diametral entgegen. Sie kann anhand von vier Maximen beschrieben werden: Minimax-Prinzip der Nutzung (maximale wirtschaftliche Nutzung bei minimaler Zerstörung), nutzungsgerechte Anwendung des Verursacher-Prinzips (zu zahlen haben jene, die aus einem Eingriffsverzicht einen Nutzen ziehen, an jene, die aus einem Eingriffsverzicht einen wirtschaftlichen Schaden erleiden), optimaler Verschmutzungsgrad (zulässige Verschmutzung der Natur bis zur Grenzverschmutzung) und Schonung und Erhaltung im Rahmen und nach Maßgabe des wirtschaftlich Vertretbaren (keine Schonung, die auf Dauer kostspieliger ist als Nutzung). (15) Doch es sind nach Wetzel gerade diese vier Maximen, die zu gewaltigen Naturschädigungen mit enormen volkswirtschaftlichen Folgekosten geführt haben: Dem Argument, dass Natur- und Umweltschutz immer Kosten verursacht, die nur bei entsprechender wirtschaftlicher Leistung eines Landes gedeckt werden können, begegnet er mit dem Hinweis, dass gerade unterlassener Natur- und Umweltschutz der teuerste Schutz für Natur, Umwelt und Gesellschaft ist.

Wetzel begründet die Schützenswürdigkeit der Natur letztlich auch über eine moralphilosophisch-ethische Linie, auf der er seine ökologisch orientierte Politik aufsetzt. (16) Er unterscheidet dabei moralische Werte und Normen von positiv-rechtlich gesetzten bzw. kulturell-lebensweltlich verankerten. Die moralischen Werten und Normen lassen sich wiederum in drei Gruppen unterteilen, jene, die legitimerweise erzwungen werden können, jene, die eines guten Willens bedürfen, und jene, die auf einer Einbettung in kulturell-lebens¬welt¬liche Verhältnisse basieren. Im Hinblick auf die Verbindlichkeit einer ökologisch orientierten Politik sind für Wetzel die erste und die dritte Gruppe moralischer Werte und Normen relevant. Natur- und Umweltschutz werden demnach über moralische Werte begründet.

Natur- und Umweltschutz, die sauberes Wasser, reine Luft und fruchtbaren Boden sichern sollen, decken dabei (ebenso wie Nahrung, Kleidung oder Wohnung) elementare Bedürfnisse aller Menschen ab. Auf solche elementare Bedürfnisse gibt es nicht nur einen moralischen Anspruch, sondern auch einen Rechtsanspruch der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Wetzel spricht hierbei von Menschheitsrechten, die sich von Menschenrechte dadurch unterscheiden, dass sie kein Individualrecht darstellen, sondern ein Recht der gesamten Gesellschaft.

Derartige Menschheitsrechte können nur auf kollektiver Ebene durchgesetzt werden, denn eine Schädigung von Luft, Wasser und Boden durch einzelne Menschen ist stets zugleich eine Schädigung von Luft, Wasser und Boden als kollektive Güter. Es ist somit Aufgabe des Staates, die Erhaltung von Natur und Umwelt als Menschheitsrecht über rechtliche Normen entsprechend zu verankern.

Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass Wetzel die Schützenswürdigkeit der Natur in mehrfacher Hinsicht begründet:

  • Schutz der Lebensgrundlage des Menschen
  • Schutz der Existenz der Menschheit selbst, da diese Teil der Natur ist
  • Einheit von Natur und Gesellschaft aufgrund des Bei-sich-selbst-seins der Gesellschaft in der Natur als dem Anderen ihrer selbst
  • Verringerung der enormen volkswirtschaftlichen Folgekosten von Naturzerstörung
  • Natur- und Umweltschutz als Menschheitsrecht

Aufbauend auf diesen Argumenten definiert Wetzel Grundsätze einer ökologisch orientierten gesellschaftspolitischen Praxis (17): die Betrachtung der Natur für sich und an sich im Sinne eines „sinnlichen Erscheinens der Idee der Einheit von Gesellschaft und Natur“ (18); die Orientierung der Technik an dieser Praxis der Einheit von Gesellschaft und Natur; die Legitimität des allgemeinen Interesses an der Erhaltung der Natur im Sinne eines Menschheitsrechtes durch Verankerung des Schutzes von Natur und Umwelt als Staatsaufgabe; sowie ein weltumspannender Bewusstseinswandel in Bezug auf das Verhältnis der Gesellschaft zur Natur. Für die konkrete praktische Umsetzung bedarf es dazu Ansätzen auf gesellschaftlicher wie auf individueller Ebene.


Fußnoten:

(1) Manfred Wetzel, Praktisch-politische Philosophie, Bd. 2: Natur und Gesellschaft, (Würzburg, Könighausen & Neumann, 2004), S. 5 (2) Ebd., S. 13 (3) Ebd., S. 5 f. (4) Ebd., S. 65 (5) Ebd., S. 18 (6) Ebd., S. 23 (7) Vgl. ebd., S. 65 f. (8) Ebd., S. 36 (9) Vgl. ebd., S. 52 f. (10) Vgl. ebd., S. 37. (11) Ebd., S. 67 (12) Ebd., S. 45 (13) Ebd., S. 48 (14) Ebd., S. 8 (15) Vgl. ebd., S. 29 f. (16) Vgl. ebd., S. 76 ff. (17) Vgl. ebd., S. 84 f. (18) Ebd., S. 84