Das spekulative Verständnis

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Hegel qualifiziert Denken, das sich in den gebräuchlichen Subjekt-Prädikat-Sätzen bewegt, als Verstand. Die Einzelwissenschaften sind Beispiele für Verstandestätigkeit. Zuerst fixieren sie einen Gegenstand, dann suchen sie nach Eigenschaften, welche unsere Kenntnis über ihn erweitern. Die entsprechenden Urteile gründen auf Erfahrung.

Philosophie ist eine Wissenschaft mit anderen Ansprüchen. Sie strebt nach Einsicht, nicht nach Informationsgewinn. Darum genügt es für sie nicht, der Natur mit Klugheit und Geschick noch mehr "Geheimnisse zu entreissen". Das Wesen eines Dinges ist nicht in kleinen Schritten zu erreichen. Es ist ein Zug der Welt, die uns im Prinzip schon vertraut ist.


Der Fortschritt des "Verstandes" wird vom Schon-bei-der-Sache-sein -- Hegel sagt dazu "Vernunft" -- blockiert.

Das vorstellende Denken, da seine Natur ist, an den Akzidenzen oder Prädikaten fortzulaufen, und mit Recht, weil sie nicht mehr als Prädikate und Akzidenzen sind, über sie hinauszugehen, wird, indem das, was im Satze die Form eines Prädikates hat, die Substanz selbst ist, in seinem Fortlaufen gehemmt. Es erleidet, um es so vorzustellen, einen Gegenstoß. (PdG 58)

Erkenntnisfortschritt heißt, zusätzliche Information über eine Sache zu gewinnen. Hegel stellt dagegen: das Prädikat ist die Substanz. Wie bitte?

Der Baum, auf den wir uns beziehen, besitzt Jahresringe, Blätter, Blüten, Früchte. Dies deutet darauf: er ist ein Apfelbaum. Dieses bestimmte Ding realisiert sich, indem es seine Eigenschaften entfaltet. Aber das kann man auch umgekehrt ansehen: der Ausgangspunkt ist "Apfelbaum". Das Wesen bestimmt die Erscheinung.

Der "Verstand" findet an einem Gewächs viele interessante Aspekte, die "Vernunft" ist eher der Botanik vergleichbar. Sie erfaßt das Ding im Rahmen eines vorweg konsolidierten Wissens-Systems. Gesetzt, es ist ein Apfelbaum, dann hat es diese und jene Eigenschaften. In diesem Sinn steht das Prädikat für die Substanz.

Der "Gegenstoß", von dem Hegel spricht, verdreht die Abfolge der Erkenntnisbewegung. Normalerweise wird ein Gegenstand bezeichnet, über den noch etwas herauszubringen ist. Aber diese Ergänzungen beruhen auf seinem Wesen. Wie soll das angesprochen werden? Es ist weder das Ding, noch eine seiner Eigenschaften. Hegels Formulierung der Problemstellung: in der Form des Prädikates erscheint die Substanz.

Beim Versuch, die wesentliche Beschaffenheit einer Sache anzugeben, stößt der Aussagesatz an eine Grenze. "Das Matterhorn ist ein Berg". Dieser Ausdruck funktioniert nicht so wie "Das Matterhorn verschwindet hinter einer Wolkendecke."

  • Das Subjekt, das seinen Inhalt erfüllt, hört auf, über diesen hinauszugehen, und kann nicht noch andere Prädikate oder Akzidenzen haben. (PgG 58)
  • Der Inhalt ist somit in der Tat nicht mehr Prädikat des Subjekts, sondern ist die Substanz, ist das Wesen und der Begriff dessen, wovon die Rede ist. (PdG 58)
  • Indem der Begriff das eigene Selbst des Gegenstandes ist, das sich als sein Werden darstellt, ist es nicht ein ruhendes Subjekt, das unbewegt die Akzidenzen trägt, sondern der sich bewegende und seine Bestimmungen in sich zurücknehmende Begriff. (PdG 57)

Terminologisch handelt es sich um die Dynamik des "spekulativen Satzes". Für "Gegenstoß" kann man auch "Spiegelung" einsetzen. Der Duktus der Aussage ist zu einem Ziel unterwegs, das sich als Ausgangspunkt der Bewegung erweist. Jemand sagt "Baum" und will das Gewächs dann näher bestimmen. Doch mit dem ersten Ausdruck hat er in gewisser Weise schon alles vorweggenommen, was sich noch ergeben kann.

In sogenannten "analytischen Wahrheiten" ist diese Figur leicht nachvollziehbar. Der Satz "Ein Junggeselle ist ein unverheirateter Mann" zeigt die beschriebenen Eigenschaften. In Hegels Entwurf gelten sie auch für die Sätze der Philosophie. Sie kennzeichnen ihren Inhalt, jenseits der Einzelwissenschaften, als die "Anstrengung des Begriffes" (PdG 57), das ganze Reich des Wesens zu durchlaufen und in das systematische Wissen der Neuzeit zu überführen.

Ein Querverweis auf Ludwig Wittgensteins "Tractatus Logico-Philosophicus" zeigt, daß es auch im 20. Jahrhundert derartig ambitionierte metaphysische Entwürfe gab. Allerdings enthält sich Wittgenstein der Reflexionsphilosophie. Er faßt die umfassende Perspektive in knapp zugespitzte Aphorismen.

  • Wenn ich einen Gegenstand kenne, so kenne ich auch sämtliche Möglichkeiten seines Vorkommens in Sachverhalten. (Jede solche Möglichkeit muß in der Natur des Gegenstandes liegen.) Es kann nicht nachträglich eine neue Möglichkeit gefunden werden. (TLP 2.0123)
  • Die Gegenstände enthalten die Möglichkeit aller Sachlagen. (TLP 2.014)
  • Die Möglichkeit seines Vorkommens in Sachverhalten ist die Form des Gegenstandes. (TLP (2.0141)

Einen Gegenstand kennen heißt, alle Kontexte überblicken, in denen er vorkommen kann. Philosophie ist auch hier die Gegenspielerin zur Einzelwissenschaft. Das Ding ist nur vom Ganzen her zugänglich, so wie das Ganze sich im Ding artikuliert. "Die Gegenstände bilden die Substanz der Welt." (TLP 2.021) Sie determinieren alle Sachverhalte und werden von allen möglichen Sachverhalten determiniert. Das kommt sich aufs Gleiche hinaus. Auch das ist ein spekulativer Sachverhalt.