Aus Quines "Ontologische Relativität"

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Vorbemerkung: zwei Bemerkungen Wittgensteins ("Big Typescript")

"Verstehen", damit meine ich ein Korrelat der Erklärung, nicht einer - etwa medizinischen - Beeinflussung. Mit dem Worte "Mißverständnis" meine ich also wesentlich etwas, was sich durch Erklärung beseitigen läßt. Eine andere Nichtübereinstimmung nenne ich nicht "Mißverständnis".

Verständnis entspricht der Erklärung; soweit es aber der Erklärung nicht entspricht, ist es unartikuliert und geht uns deswegen nichts an; oder es ist artikuliert und entspricht dem Satz selbst, dessen Verständnis wir beschreiben wollten.


"gavagai"

Versetzen wir uns, um dieses Dilemma aufzulösen, zunächst in die vertraute Lage eines Sprechers unserer Muttersprache mit all ihren Prädikaten und Hilfsmitteln. Darunter sind: »Hase«, »Hasenteil«, »Hasenstadium«, »Formel«, »Zahl«, »Ochse« und »Vieh«, ferner die zweistelligen Prädikate der Identität und der Verschiedenheit sowie andere logische Partikel. Damit können wir auf sehr verschiedene Weise ausdrücken, daß dieses eine Formel und jenes eine Zahl, dieses ein Hase und jenes ein Hasenteil ist, daß das da und dies dort verschiedene Teile sind. Mit genau diesen Wörtern. Dieses Netzwerk von Termen, Prädikaten und zusätzlichen Hilfsmitteln ist relativistisch ausgedrückt unser Referenzrahmen, unser Koordinatensystem. Relativ zu ihm können wir sinnvoll von Hasen und ihren Teilen, von Zahlen und Formeln reden und sie auseinanderhalten. Wie in den vorausgegangenen Abschnitten betrachten wir nun alternative Denotationen für unsere vertrauten Terme. Es wird uns langsam klar, daß eine geniale und phantastische Vertauschung dieser Denotationen -- mit kompensierenden Korrekturen bei der Interpretation der Hilfspartikel -- immer noch zu allen bestehenden Sprachdispositionen passen könnte. Dies ergab die Unerforschlichkeit der Referenz, die uns selbst betrifft; und so wurde die Referenz zu Unsinn. Nicht zu Unrecht; Referenz ist Unsinn, es sei denn, man relativiert sie auf ein Koordinatensystem. Dieses Relativitätsprinzip löst unser Dilemma auf.

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Das Pferd

Worauf bezieht sich der Ausdruck "das Pferd" in diesen Sätzen:

  • ... friert nicht
  • ... ist nach links gerichtet
  • .... wirkt lebensecht

In Quines Beispiel hat der Terminus "Hase" unterschiedliche Sachbezüge: auf einen Hasen, auf unabgetrennt Hasenteile. "Pferd" bezieht sich auf ein Lebewesen, eine Skulptur, 2 Foto-Gestalten.

Rahmensprache

Es ist sinnlos zu fragen, ob unsere Ausdrücke »Hase«, »Hasenteil«, »Zahl« etc. im allgemeinen wirklich über Hasen, Hasenteile, Zahlen etc. sprechen und nicht über gewisse geistreich vertauschte Denotationen. Absolut gestellt ist diese Frage sinnlos; sie läßt sich sinnvoll nur relativ zu einer Rahmensprache stellen. Wenn wir fragen: »Spricht >Hase< wirklich über Hasen?«, so kann jemand mit der Frage kontern: »>Spricht über Hasen< in welchem Sinn von >Hase<?« und so einen Regreß in Gang setzen; wir brauchen dann eine Rahmensprache, in die der Regreß läuft. In der Rahmensprache hat die Frage Sinn, wenn auch nur relativen Sinn: Sinn relativ zu ihr, der Rahmensprache. Stellten wir Referenz absolute in Frage, so wären wir wie einer, der den absoluten Ort oder die absolute Geschwindigkeit und nicht den Ort oder die Geschwindigkeit relativ zu einem gegebenen Bezugsrahmen ermitteln will. Dies gliche auch sehr der Frage, ob unsere Mitmenschen nicht systematisch alles auf dem Kopfe stehend oder in Komplementärfarben sehen -- was sich nie herausfinden läßt.

Carnaps "interne Fragen": wir wissen, wie mit ihnen umzugehen ist, weil wir uns einer funktionierenden Sprache bedienen. Im Gegensatz dazu katapultieren uns "externe Fragen" aus der vorausgesetzten Sprachkompetenz.
  • lebendige Pferde
  • Pferdskulpturen
  • Pferde und ihre Darstellungen
  • "Ich meine einfach ein Pferd"
Der letzte Satz ist zugleich eine Regression und eine Transgression. Er greift auf ein unproblematisches Sprachverständnis zurück und suggeriert ein Pferd überhaupt. "Es muss doch etwas gemeinsames in all diesen Sprachverwendungen geben." Quine antwortet: Wir entkommen der Doppelperspektive nicht. Jeder Sachbezug ist relativ zu einer Übersetzung in die Sprache einer Interpretin. Metaphysik ist der Versuch, sich aus dieser Bindung zu befreien.

Muttersprache

Wir benötigen eine Rahmensprache, sagte ich, in die der Regreß läuft. Sind wir nun in einen unendlichen Regreß verwickelt? Wenn die Referenzfragen, die wir betrachten, nur relativ zu einer Rahmensprache sinnvoll sind, dann sind Referenzfragen bezüglich der Rahmensprache ihrerseits nur relativ zu einer weiteren Rahmensprache sinnvoll. So dargestellt, scheint die Lage verzweifelt, aber eigentlich unterscheidet sie sich wenig von der Lage, in der wir uns bezüglich Ort und Geschwindigkeit befinden. Wenn Ort und Geschwindigkeit relativ zu einem gegebenen Koordinatensystem gegeben sind, so können wir immer wiederum nach dem Ort seines Ursprungs und nach der Orientierung seiner Achsen fragen; und die Folge weiterer Koordinatensysteme, die eingeführt werden könnten, um die so nacheinander erzeugten Fragen zu beantworten, hätte kein Ende.

In der Praxis beenden wir den Regreß von Koordinatensystemen durch hinweisende Gesten oder etwas Ähnliches. Und in der Praxis beenden wir den Regreß von Rahmensprachen bei Referenzfragen, indem wir uns mit unserer Muttersprache zufriedengeben und ihre Wörter wörtlich verstehen.

Diese Beobachtung spiegelt die Bemerkung über Regression und Transgression. "zufriedengeben" impliziert, dass wir unpassende Forderungen aufgeben; "wörtlich verstehen" heißt, dass wir hier nicht mehr zweifeln, also eine fixe Position vertreten. Man ist versucht zu sagen: relativ absolut.


Relativität, Re-Interpretation

Schön und gut im Fall von Ort und Geschwindigkeit beenden in der Praxis hinweisende Gesten den Regreß. Aber was wird aus Ort und Geschwindigkeit, wenn wir von der Praxis absehen? Was wird dann aus dem Regreß? Die Antwort ist natürlich die relationale Betrachtung des Raumes: es gibt keinen absoluten Ort und keine absolute Geschwindigkeit, es gibt nur Relationen von Koordinatensystemen untereinander und letztlich von Dingen zueinander. Und ich glaube, daß die parallele Frage bezüglich der Denotation eine parallele Antwort erfordert: eine relationale Theorie darüber, was die Gegenstände einer Theorie sind. Nicht die Rede davon, was die Gegenstände einer Theorie in einem absoluten Sinne sind, ist sinnvoll, sondern die Rede davon, wie eine Theorie über Gegenstände in einer anderen interpretiert oder reinterpretiert werden kann.

Der springende Punkt ist nicht, daß bloße Materie unerforschlich ist, daß Dinge nur durch ihre Eigenschaften unterschieden werden können. Das ist selbstverständlich. Hier kommt es viel eher auf so etwas an wie das Problem, wie sich ermitteln läßt, ob jemand die Dinge auf den Kopf gestellt oder in Komplementärfarben sieht; der springende Punkt ist nämlich der, daß die Dinge ihre Eigenschaften behalten und trotzdem unbemerkt durch andere ersetzt werden können. Hasen unterscheiden sich schließlich von Hasenteilen und -stadien nicht nur als bloße Materie, sondern auch in ihren Eigenschaften, und auch Formeln haben andere Eigenschaften als Zahlen.

Hier drängt sich eine Frage auf: Was ist in dieser Konstruktion ein Ding, das von einem anderen Ding nicht durch Eigenschaften zu unterscheiden ist -- und dennoch unterschieden ist? Anders gefragt: Wie ist es möglich, Hasen von Hasenteilen zu unterscheiden und ihnen beiden die Charakteristik "Ding" zuzuordnen, die sie beide unterschiedlich erfüllen, ohne voneinander unterscheidbar zu sein? Ist das nicht absurd?

Die Lehre aus diesen Überlegungen besteht darin, daß man das Problem, wie sich ermitteln läßt, ob jemand die Dinge auf den Kopf gestellt oder in Komplementärfarben sieht, ernst nehmen und seine Moral umfassend anwenden sollte. Unser Ergebnis ist, um es zu wiederholen, die relativistische These: Es ist sinnlos zu sagen, was die Gegenstände einer Theorie sind, es sei denn, wir beschränken uns darauf zu sagen, wie diese Theorie in einer anderen zu interpretieren oder zu reinterpretieren ist.

Nehmen wir an, wir arbeiteten innerhalb einer Theorie und befaßten uns so mit ihren Gegenständen. Dabei verwenden wir die Variablen dieser Theorie, deren Werte diese Gegenstände sind, auch wenn sich dieser Gegenstandsbereich nicht letztgültig spezifizieren läßt. Mit den Prädikaten dieser Theorie lassen sich verschiedene Teile dieses Bereichs auseinanderhalten, und diese Prädikate unterscheiden sich voneinander nur in den Rollen, die sie in den Gesetzen dieser Theorie spielen. Innerhalb dieser Rahmentheorie können wir zeigen, wie eine untergeordnete Theorie, deren Gegenstandsbereich ein Teil des Rahmengegenstandsbereichs ist, durch eine Reinterpretation auf eine andere untergeordnete Theorie reduziert werden kann, deren Gegenstandsbereich ein noch kleinerer Teil ist. Über untergeordnete Theorien und ihre Ontologien zu sprechen ist sinnvoll, aber nur relativ zu der Rahmentheorie mit ihrer eigenen, vorgängig angeeigneten und letztlich unerforschlichen Ontologie.

Wieder die Regression plus Transgression: "vorgängig angeeignet" und "Ontologie". Die eine Geste führt zurück zu Voraussetzungen, die analytisch nur anzudeuten sind, die andere zur philosophischen Konstruktion einer Ontologie, die das Gewicht des "Seins" beschwört -- um es "letztlich" wieder zu entkräften.

Relativ vollständige Interpretation

Daraus ergibt sich jedoch ein Formulierungsproblem. Eine Theorie, so wird man sagen, ist eine Menge vollständig interpretierter Sätze. (Genauer gesagt: Sie ist eine deduktiv abgeschlossene Menge; sie enthält alle ihre logischen Folgerungen, die in derselben Notation abgefaßt sind.) Aber wenn die Sätze einer Theorie vollständig interpretiert sind, dann ist insbesondere der Wertbereich ihrer Variablen festgelegt. Wie verträgt sich damit, daß es sinnlos ist zu sagen, was die Gegenstände einer Theorie sind?

Meine Antwort ist einfach, daß wir nur verlangen dürfen, daß Theorien in einem relativen Sinne vollständig interpretiert sind -- soll überhaupt etwas als Theorie gelten. Wenn wir eine Theorie spezifizieren, müssen wir in der Tat in unseren eigenen Worten vollständig angeben, aus welchen Sätzen die Theorie bestehen soll, welche Dinge als Werte der Variablen fungieren und welche Dinge die Prädikate erfüllen sollen. Insofern interpretieren wir tatsächlich die Theorie vollständig -- relativ zu unseren eigenen Worten und relativ zu unserer heimischen Gesamttheorie, die hinter ihnen steht. Dadurch werden jedoch die Gegenstände der beschriebenen Theorie nur relativ zu denen der heimischen Theorie festgelegt; und diese können nach Belieben wieder in Frage gestellt werden.

....

Das ist also Quines eigene Formulierung von "relativ absolut". Das Beispiel der Hasenteile soll darauf hinweisen, dass mit denselben Ausdrücken, unter denselben Umständen, von aussen ganz andere Sachen verbunden werden können.
Das Argument hängt an der Formulierung "nach Belieben wieder in Frage gestellt werden". Das heißt, man könne jedes Sprache-Welt-Verhältnis durch Alternativ-Interpretationen aus den Angeln heben. Dabei wird allerdings der Ausdruck "Frage" sozusagen absolut verwendet. Wer dieses Argument verwendet, muss ein Verständnis von Frage besitzen, z.B. im Unterschied zu Befehl oder Störmanöver.
"Das Foto vom Albertinaplatz zeigt eine Loge im Opernball." Ist das eine verständliche Re-Interpretation?
Es ist zu unterscheiden zwischen:
  • der Unerschütterlichkeit der "Muttersprache" im Interpretationsprozess
  • der Relativierbarkeit der "Muttersprache" im Rahmen anderer Muttersprachen
  • der Übersetzbarkeit zwischen Muttersprachen
Was haben die Sprachen, die "Pferd" als Lebewesen und als Skulptur deuten, gemeinsam? Was haben Sprachen gemeinsam, in denen dieser Ausdruck einerseits für ein Lebewesen steht, andererseits aber eine Beleidigung darstellt?





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