Aus Carnaps Autobiographie
Seit meiner Studienzeit unterhielt ich mich gern mit Freunden über allgemeine Probleme der Wissenschaft und des Lebens; diese Gespräche mündeten oft in philosophische Fragen. Meine Freunde waren zwar philosophisch interessiert, aber die meisten keine Fachphilosophen, sondern sie studierten Natur- oder Geisteswissenschaften. Erst viel später, als ich am Logischen Aufbau arbeitete, wurde mir klar, daß ich in den Gesprächen mit meinen verschiedenen Freunden unterschiedliche Sprachen gesprochen und mich dabei an ihre Denk- und Redeweisen angepaßt hatte. Mit dem einen redete ich etwa in einer Sprache, die man als realistisch oder sogar materialistisch bezeichnen konnte; wir betrachteten dann die Welt als aus Körpern bestehend, die wiederum aus Atomen bestanden; Sinneswahrnehmungen, Gedanken, Gefühle und dergleichen wurden als physiologische Vorgänge im Nervensystem und schließlich als physikalische Vorgänge betrachtet. Nicht, daß die Freunde Thesen des Materialismus vertraten oder auch nur daran dachten; wir benutzten einfach eine Art zu reden, die man materialistisch nennen konnte. Im Gespräch mit einem anderen Freund paßte ich mich etwa dessen idealistischer Sprache an. Dann dachten wir über die Frage nach, wie Dinge auf der Grundlage des Gegebenen beschaffen sind. Mit einigen sprach ich eine Sprache, die man nominalistisch nennen könnte, mit anderen wiederum Freges Sprache der abstrakten Entitäten verschiedenen Typs, also Eigenschaften, Relationen, Propositionen und so weiter, eine Sprache, die manche zeitgenössische Autoren platonistisch nennen.
Es überraschte mich zu hören, daß manchen diese Vielfalt meiner Sprechweisen anfechtbar oder sogar widerspruchsvoll erschien. Ich hatte für mein eigenes Denken wertvolle Einsichten durch Philosophen und Wissenschaftler mit einem breiten Spektrum philosophischer Glaubensansichten gewonnen. Wenn man mich fragte, welchen philosophischen Standpunkt ich selbst verträte, wußte ich nichts darauf zu sagen. Ich konnte höchstens sagen, daß im allgemeinen meine Denkweise derjenigen der Physiker nahekam oder der Denkweise solcher Philosophen, die mit wissenschaftlicher Arbeit in Berührung standen. Erst im Laufe der Jahre wurde mir klar, daß meine Art zu denken gegenüber den traditionellen Streitigkeiten etwa zwischen Realismus und Idealismus, Nominalismus und Platonismus (als Universalienrealismus), Materialismus und Spiritualismus und so fort neutral war. Als ich das System des Aufbaus entwickelte, war es mir wirklich gleichgültig, welche philosophische Sprachform ich benutzte, weil alle Sprachformen für mich bloße Sprechgewohnheiten waren und nicht Formulierungen von Standpunkten. So benutzte ich bei der Beschreibung des Konstruktions- oder Konstitutionssystems zusätzlich zur neutralen Sprache der symbolischen Logik drei andere Sprachen, um dem Leser das Verständnis zu erleichtern; und zwar einmal eine einfache Übersetzung der symbolischen Definitionsformel in die Wortsprache; dann eine korrespondierende Formulierung in der realistischen Sprache, wie sie in der Naturwissenschaft üblich ist; schließlich eine Neuformulierung der Definition als Operationsregel für ein von jedem anwendbares Konstruktionsverfahren, sei es Kants transzendentales Subjekt oder ein Computer. (S. 27f)
- Sprachformen versus Standpunkten. "Es ist unwichtig, wie es gesagt wird; auf den Inhalt kommt es an." Und wie lässt sich der Inhalt jenseits der Sprachformen eruieren? Manchmal geht das ganz einfach. Hin und wieder gibt es kaum Schwierigkeiten dabei.
Betrachten wir zuerst jenen Aspekt der Arbeit der Logiker, bei dem es um die Planung neuer Sprach-Formen in der symbolischen Logik geht. Als ich Freges Symbolsystem kennenlernte - für mich das erste symbolische Logiksystem überhaupt -, stellte sich mir noch nicht sogleich die Frage der Planung, denn Frege führte lediglich seine Notation und Sprachstruktur vor, bewies Theoreme und zeigte Anwendungen, sagte aber sehr wenig über seine Beweggründe zur Wahl dieser besonderen Sprachform. Erst später, als ich mit den völlig anderen Sprachformen der Principia Mathematica, der Modallogik von Lewis, der intuitionistischen Logik von Brouwer und Heyting und dem typenlosen System von Quine und anderen bekannt wurde, ging mir die unendliche Vielfalt möglicher Sprachformen auf. Zum einen wurden mir die Probleme bewußt, die mit dem Auffinden einer passenden Sprachform für vorgegebene Zwecke verbunden sind; zum anderen sah ich ein, daß man nicht von »der richtigen Sprachform« sprechen kann, weil verschiedene Formen unter verschiedenen Gesichtspunkten andere Vorzüge haben. Diese Einsicht brachte mich zum Toleranzprinzip. Mit der Zeit wurde mir klar, daß unsere Aufgabe die Planung von Sprachformen ist. Planen heißt, sich die allgemeine Struktur eines Systems auszudenken und an verschiedenen Stellen des Systems eine Wahl unter vielfältigen, theoretisch unendlichen Möglichkeiten zu treffen, und zwar so, daß die vielfältigen Merkmale zusammenpassen und das sich ergebende Gesamtsprachsystem bestimmte vorgegebene Anforderungen erfüllt.
Wittgenstein machte in seinem Traktatus nur mäßigen Gebrauch von der symbolischen Logik. Ich glaube aber, daß ohne Kenntnis der symbolischen Logik einige der wichtigsten Begriffe seiner philosophischen Theorie kaum von ihm gefunden oder von anderen Philosophen übernommen worden wären. Das gilt zum Beispiel für die folgenden, auf wahrheitsfunktionalen Verbindungen beruhenden Begriffe, deren Analyse er wahrscheinlich aus Freges Werk kannte: die Begriffe der Wahrheitsmöglichkeiten, des Spielraumes eines Satzes, seine, Wittgensteins, Erklärung logischer Wahrheit (»Tautologie«) und logischer Implikation in Begriffen von Spielräumen. Es scheint, daß er in seiner späteren Zeit in England eine noch negativere Haltung gegenüber konstruierten Sprachsystemen einnahm, wie man aus seinen Lecture Notes, den Philosophischen Untersuchungen und auch den Ansichten der britischen Philosophen ersehen kann, die überwiegend von ihm beeinflußt waren. (S. 106f)
- "Formen" haben quasi eine Dienstfunktion, es läßt sich von ihnen abstrahieren, sie sind austauschbar. Insofern keine Wahrheitsträger. Sie haben unterschiedliche Vorzüge. Aber: Worum geht es dann beim Sprechen? Namen sind Schall und Rauch
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