Aus Carnaps "Logischer Syntax der Sprache"

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Vorwort

Der Kreis der möglichen Sprachformen und damit der verschiedenen möglichen Logiksysteme ist nämlich unvergleichlich viel größer als der sehr enge Kreis, in dem man sich in den bisherigen Untersuchungen der modernen Logik bewegt hat. Bisher ist man von der schon klassisch gewordenen Sprachform, die Russell gegeben hat, nur hin und wieder in einigen Punkten abgewichen. Man hat z. B. etwa gewisse Satzformen (z. B. die unbeschränkten Existenzsätze) oder Schlußregeln (z. B. den Grundsatz vom ausgeschlossenen Dritten) gestrichen. Andrerseits hat man aber auch einige Erweiterungen gewagt. Man hat z. B. in Analogie zum zweiwertigen Satzkalkül interessante mehrwertige Kalküle aufgestellt, die schließlich zu einer Wahrscheinlichkeitslogik geführt haben; man hat sog. intensionale Sätze eingeführt und mit ihrer Hilfe eine Modalitätslogik entwickelt. Der Grund dafür, daß man sich bisher nicht weiter von der klassischen Form zu entfernen wagt, liegt wohl in der weit verbreiteten Auffassung, man müsse die Abweichungen "rechtfertigen", d. h. nachweisen, daß die neue Sprachform "richtig" sei, die "wahre Logik" wiedergebe. Diese Auffassung und die aus ihr entspringenden Scheinfragen und müßigen Streitigkeiten auszuschalten, ist eine der Hauptaufgaben dieses Buches. Hier wird die Auffassung vertreten, daß man über die Sprachform in jeder Beziehung vollständig frei verfügen kann; daß man die Formen des Aufbaues der Sätze und die Umformungsbestimmungen (gewöhnlich als "Grundsätze" und "Schlußregeln" bezeichnet) völlig frei wählen kann. Beim Aufbau einer Sprache geht man bisher gewöhnlich so vor, daß man den logisch-mathematischen Grundzeichen eine Bedeutung beilegt und dann überlegt, welche Sätze und Schlüsse auf Grund dieser Bedeutung logisch richtig erscheinen. Da die Bedeutungsbeilegung in Worten geschieht und daher ungenau ist, kann diese Überlegung auch nicht anders als ungenau und mehrdeutig sein. Der Zusammenhang wird erst dann klar, wenn man ihn von der umgekehrten Richtung aus betrachtet : man wähle willkürlich irgendwelche Grundsätze und Schlußregeln; aus dieser Wahl ergibt sich dann, welche Bedeutung die vorkommenden logischen Grundzeichen haben. Bei dieser Einstellung verschwindet auch der Streit zwischen den verschiedenen Richtungen im Grundlagenproblem der Mathematik. Man kann die Sprache in ihrem mathematischen Teil so einrichten, wie die eine, oder so, wie die andere Richtung es vorzieht. Eine Frage der "Berechtigung" gibt es da nicht; sondern nur die Frage der syntaktischen Konsequenzen, zu denen die eine oder andere Wahl führt, darunter auch die Frage der Widerspruchsfreiheit. Die angedeutete Einstellung -- wir werden sie als "Toleranzprinzip" formulieren (S. 44) -- bezieht sich aber nicht nur auf die Mathematik, sondern auf alle logischen Fragen überhaupt. Von diesem Gesichtspunkt aus wird die Aufgabe der Aufstellung einer allgemeinen Syntax wichtig, d. h. der Definition von syntaktischen Begriffen, die auf Sprachen beliebiger Form anwendbar sind. Im Bereich der allgemeinen Syntax kann man z. B. für die Sprache der Gesamtwissenschaft oder irgendeiner Teilwissensohaft eine bestimmte Form wählen und ihre charakteristischen Unterschiede zu den andern möglichen Sprachformen exakt angeben. Jene ersten Versuche, das Schiff der Logik vom festen Ufer der klassischen Form zu lösen, waren, historisch betrachtet, gewiß kühn. Aber sie waren gehemmt durch das Streben nach "Richtigkeit". Nun aber ist die Hemmung überwunden; vor uns liegt der offene Ozean der freien Möglichkeiten. (S. IV-VI)

In sich konsequente Systeme stehen nebeneinander; keines ist dem anderen in puncto Wahrheit überlegen. Man kann das eine moderne Form der Ringparabel nennen. Der Richter stellt fest, dass alle vorgelegten Ringe den Bedingungen des Ringsseins entsprechen. Hinsichtlich der Wahrheit: Enthistorisierung, Entkontextualisierung, Enthaltsamkeit.

Toleranzprinzip der Syntax

Wir haben im vorangehenden einige Beispiele negativer Forderungen (besonders von Brouwer, Kaufmann, Wittgenstein) besprochen, durch die gewisse übliche Sprachformen -- Ausdrucksweisen und Schlußweisen -- ausgeschaltet werden sollen. Unsere Einstellung zu Forderungen dieser Art sei allgemein formuliert durch das Toleranzprinzip: wir wollen nicht Verbote aufstellen, sondern Festsetzungen treffen. Einige der bisherigen Verbote haben das historische Verdienst, daß sie auf wichtige Unterschiede nachdrücklich aufmerksam gemacht haben. Aber solche Verbote können durch eine definitorische Unterscheidung ersetzt werden. In manchen Fällen geschieht das dadurch, daß Sprachformen verschiedener Arten nebeneinander untersucht werden (analog den Systemen euklidischer und nichteuklidischer Geometrie), z. B. eine definite Sprache und eine indefinite Sprache, eine Sprache ohne und eine Sprache mit Satz vom ausgeschlossenen Dritten. ...

In der Logik gibt es keine Moral. Jeder mag seine Logik, d. h. seine Sprachform, aufbauen wie er will. Nur muß er, wenn er mit uns diskutieren will, deutlich angeben, wie er es machen will, syntaktische Bestimmungen geben anstatt philosophischer Erörterungen. (S. 44f)

Und was ist das Verhältnis zwischen Logik und Wahrheit!? In dem Maße, in dem die Untersuchung sich auf Sprachformen bezieht, weicht sie dem Wahrheitsproblem aus. Behauptungen werden zu Ableitungen. 2+2=4 --> in welchem System? Aber wie kann ein Ausdruck dann in einem System wahr sein? Was ist der Unterschied zwischen einem Spielzug und einer sachlichen Festlegung?

Verhältnis zu Wittgenstein

Wittgenstein hat den nahen Zusammenhang aufgedeckt, der zwischen Wissenschaftslogik (W. sagt "Philosophie") und Syntax besteht. Er hat besonders den formalen Charakter der Logik klargestellt und betont: Syntaxbestimmungen und Beweise haben auf die Bedeutung der Zeichen nicht Bezug zu nehmen ([Tractatus] 52, 66, 164). Ferner hat W. gezeigt, daß die sog. Sätze der Metaphysik und der Ethik Scheinsätze sind. Die Aufgabe der Philosophie ist nach ihm "Sprachkritik" (a. a. 0., S. 62), "logische Klärung der Gedanken" (8. 78), der Sätze und Begriffe der Wissenschaft (Naturwissenschaft), also (in unserer Bezeichnungsweise) Wissenschaftslogik. Die Auffassung W.s ist vom Wiener Kreis vertreten und weiter entwickelt worden. Auch für die Überlegungen dieses Kapitels verdanke ich W. wichtige Anregungen. Wenn ich recht sehe, stimmt die hier vertretene Auffassung in den Grundlagen mit der von W. überein, geht aber in einigen wesentlichen Punkten über ihn hinaus. Diese Auffassung wird im folgenden zuweilen gerade gegen die von W. abgegrenzt; das geschieht nur zur größeren Deutlichkeit; man übersehe dabei nicht die Übereinstimmung in wichtigen Grundfragen.

Es sind besonders zwei Punkte, in denen die hier vertretene Auffassung von der Wittgensteins abweicht, und zwar von seinen negativen Thesen. Die erste von diesen besagt (a. a. 0., S. 78): "Der Satz kann die logische Form nicht darstellen, sie spiegelt sich in ihm. Was sich in der Sprache spiegelt, kann sie nicht darstellen. Was sich in der Sprache ausdrückt, können wir nicht durch sie ausdrücken. ... Wenn zwei Sätze einander widersprechen, so zeigt dies ihre Struktur; ebenso, wenn einer aus dem andern folgt usw. Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden. ... Es wäre ebenso unsinnig, dem Satz eine formale Eigenschaft zuzusprechen, als sie ihm abzusprechen." Mit anderen Worten: Es gibt keine Sätze über Satzformen; es gibt keine aussprechbare Syntax. Im Gegensatz hierzu hat unser Aufbau der Syntax gezeigt, daß sie korrekt formulierbar ist, daß es syntaktische Sätze gibt. Man kann genau so gut Sätze über die Formen von Sprachausdrücken, also auch von Sätzen bilden, wie Sätze über die geometrischen Formen geometrischer Gebilde; nämlich erstens die analytischen Sätze der reinen Syntax, die auf die Formen und Formbeziehungen von Sprachausdrücken bezogen werden können (analog den analytischen Sätzen der arithmetischen Geometrie, die auf Formbeziehungen der abstrakt-geometrischen Gebilde bezogen werden können); zweitens die synthetischen, empirischen, physikalischen Sätze der deskriptiven Syntax, die von den Formen der Sprachausdrücke als physikalischer Gebilde handeln (analog den synthetischen, empirischen Sätzen der physikalischen Geometrie, vgl. § 25). Die Syntax ist somit in derselben Weise exakt formulierbar wie die Geometrie.

In Wittgensteins Unterscheidung zwischen Form und Inhalt liegt eine zugespitzte Intoleranz. Sie macht es gerade unmöglich, eine Art Reservat ausserhalb der einen Wahrheit, geschweige denn eine Freizügigkeit der Sprachformen anzunehmen. Dagegen stellt Carnap (anknüpfend an Gödel und Tarski) die Möglichkeit der Metasprache. Wir können uns über Satzformen verständigen. Damit entsteht ein Spielraum zwischen Wahrheitsanspruch und Überlegungen zur Akzeptabilität von (systematisch verknüpften) Wahrheitsansprüchen. Welche Regeln gelten dann für Sätze über Sätze? Es scheint, dass sich das Problem wiederholt. Jedenfalls ist es vom Wirklichkeitsbezug auf den Bezug der Sprache "auf sich selbst" verschoben. (Später hat Wittgenstein dieses Problem prinzipiell unterlaufen.)

Wittgensteins zweite negative These besagt, daß die Wissenschaftslogik ("Philosophie") nicht formulierbar sei. (Diese These fällt für W. nicht mit der ersten zusammen, da er Wissenschaftslogik und Syntax nicht gleichsetzt, s. u.) "Die Philosophie ist keine Lehre, sondern eine Tätigkeit. Ein philosophisches Werk besteht wesentlich aus Erläuterungen. Das Resultat der Philosophie sind nicht "philosophische Sätze", sondern das Klarwerden von Sätzen" (S.76). Folgerichtig wendet W. diese Auffassung auch auf seine eigene Abhandlung an; ihr Schluß lautet: "Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie -- auf ihnen -- über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muß diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig. Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen." (S. 188.) Hiernach enthalten die Untersuchungen der Wissenschaftslogik keine Sätze, sondern nur mehr oder minder vage Erläuterungen, die der Leser nachträglich als Scheinsätze erkennen und dann verwerfen muß. Eine solche Interpretation der wissenschaftslogischen Untersuchungen ist sicherlich unbefriedigend. [Schon Ramsey hat sich dagegen gewendet, daß W. die Philosophie für Unsinn erklärt, aber für bedeutsamen Unsinn [Foundations] 263. Dann hat besonders Neurath [Soziol. Phys.] 395f., [Psychol.] 29 jene Auffassung entschieden abgelehnt.] Wenn im folgenden gezeigt wird, daß Wissenschaftslogik Syntax ist, so ist damit auch gezeigt, daß Wissenschaftslogik formulierbar ist, und zwar nicht in unsinnigen und trotzdem praktisch unentbehrlichen Scheinsätzen, sondern in vollkommen korrekten Sätzen. Der genannte Meinungsunterschied ist nicht nur theoretischer Natur, sondern er ist von erheblichem Einfluß auf die praktische Ausgestaltung der Untersuchungen auf philosophischem Gebiet. W. sieht zwischen den Sätzen der spekulativen Metaphysiker und den Sätzen seiner eigenen und anderer wissenschaftslogischer Untersuchungen nur den Unterschied, daß die wissenschaftslogischen Sätze (die sog. philosophischen Erläuterungen) trotz ihrer theoretischen Unsinnigkeit eine praktisch wichtige psychologische Einwirkung auf den wissenschaftlichen Forscher ausüben, die eigentlich metaphysischen Sätze aber nicht, oder wenigstens nicht in derselben Weise; also einen nur graduellen Unterschied, der zudem sehr vage ist. Daß W. nicht an die Möglichkeit exakter Formulierung der wissenschaftslogischen Sätze glaubt, hat dann zur Folge, daß er auch an die Formulierung seiner eigenen Überlegungen keine Anforderung an Wissenschaftlichkeit stellt, daß er keine scharfe Grenzlinie zwischen wissenschaftslogischen und metaphysischen Formulierungen zieht. In den folgenden Überlegungen werden wir die Übersetzbarkeit in die formale Redeweise, also in syntaktische Sätze, als Kriterium kennenlernen, das die echten wissenschaftslogischen Sätze von den andern philosophischen Sätzen -- man mag sie metaphysische nennen -- trennt. W. hat in manchen seiner Formulierungen diese Grenze deutlich überschritten; das ist eine psychologisch verständliche Folge seines Glaubens an die beiden negativen Thesen.

Hier dreht sich die Sache um. Wittgensteins Intoleranz gegenüber alternativen, mehrstufigen Behauptungssystemen führt zur Selbstkritik dieser Intoleranz und in die Nachbarschaft der im ersten Schritt verworfenen Metaphysik. Und nun ist es Carnap, der es an "Toleranz" fehlen läßt. Er moniert "echte wissenschaftslogische Sätze" und verwirft vage Unterschiede. Das hängt an der Idee der formalen Redeweise als eines eigenen Untersuchungsgebietes. Klassisch gesprochen: an allgemeinen Vernunftvoraussetzungen von Wissenschaftlichkeit.

Trotz des genannten Unterschiedes stimme ich mit W. darin überein, daß es keine besonderen Sätze der Wissenschaftslogik (oder Philosophie) gibt. Die Sätze der Wissenschaftslogik werden als syntaktische Sätze über die Wissenschaftssprache formuliert; aber dadurch wird kein neues Gebiet neben dem der Wissenschaft aufgetan. Denn die Sätze der Syntax sind ja teils Sätze der Arithmetik, teils Sätze der Physik, die nur deshalb syntaktische Sätze genannt werden, weil sie auf sprachliche Gebilde bzw. auf deren formale Struktur bezogen werden. Reine und deskriptive Syntax ist nichts anderes als Mathematik und Physik der Sprache.

Von den Bestimmungen der logischen Syntax sagt Wittgenstein (s. o.), daß sie ohne Bezugnahme auf Sinn und Bedeutung formuliert werden müssen. Nach unserer Auffassung gilt dasselbe auch für die Sätze der Wissenschaftslogik. Wie es scheint, meint W., daß diese Sätze (die sog. philosophischen Erläuterungen) über das Formale hinausgehen und sich auf den Sinn der Sätze und Begriffe beziehen sollen. Schlick deutet W.s Auffassung in dieser Weise ([Wende] 8: die Philosophie "ist nämlich diejenige Tätigkeit, durch welche der Sinn der Aussagen festgestellt oder aufgedeckt wird"; es handelt sich "darum, was die Aussagen eigentlich meinen. Inhalt, Seele und Geist der Wissenschaft stecken natürlich in dem, was mit ihren Sätzen letzten Endes gemeint ist; die philosophische Tätigkeit der Sinngebung ist daher das Alpha und Omega aller wissenschaftlichen Erkenntnis"). (S. 209f)

Pseudo-Objektsätze

Wir haben (in ungenauer Weise) Objektsätze und logische Sätze unterschieden. Wir wollen jetzt (zunächst ebenfalls in ungenauer Weise) statt dessen die beiden Gebiete der Objektsätze und der syntaktischen Sätze einander gegenüberstellen, wobei also von den logischen Sätzen nur die auf Form bezogenen berücksichtigt und dem zweiten Gebiet zugewiesen werden. Es gibt nun ein Zwischengebiet zwischen diesen beiden Gebieten. Zu ihm wollen wir die Sätze rechnen, die so formuliert sind, als ob sie sich (auch oder ausschließlich) auf Objekte bezögen, während sie sich in Wirklichkeit auf syntaktische Formen beziehen, und zwar auf die Formen der Bezeichnungen der Objekte, auf die sie sich scheinbar beziehen. Diese Sätze sind also ihrem Inhalt nach syntaktische Sätze, aber verkleidet als Objektsätze; wir wollen sie Pseudo-Objektsätze nennen. Wenn wir versuchen, die soeben in ungenauer, inhaltlicher Weise angedeutete Unterscheidung formal zu erfassen, so werden wir bemerken, daß diese Pseudo-Objektsätze nichts anderes sind als die quasi-syntaktischen Sätze der inhaltlichen Redeweise (in dem früher formal definierten Sinn, vgl. § 64).

Carnaps Intuition: ein Satz wie "Die Bevölkerung will keine zusätzlichen Ortstafeln" handelt nicht von Ortstafeln, sondern vom sozio-politischen Status zweisprachiger Ortstafeln. Die inhaltliche Redeweise maskiert den weltanschaulichen Charakter der Aussage.

In dieses Zwischengebiet gehören viele Fragen und Sätze der sogenannten philosophischen Grundlagenforschung. Wir wollen ein einfaches Beispiel betrachten. Bei einer philosophischen Erörterung über Zahlbegriffe will man etwa darauf hinweisen, daß zwischen Zahlen und (körperlichen) Dingen ein wesentlicher Unterschied besteht; damit will man vor Scheinfragen etwa nach Ort, nach Gewicht od. dgl. von Zahlen warnen. Einen solchen Hinweis formuliert man vielleicht durch einen Satz etwa folgender Art: "Fünf ist kein Ding, sondern eine Zahl" (S1). Scheinbar wird in diesem Satz eine Eigenschaft der Fünf ausgesagt, wie in dem Satz "Fünf ist keine gerade, sondern eine ungerade Zahl" (S2). In Wirklichkeit jedoch bezieht sich S1 nicht auf die Fünf, sondern auf das Wort 'fünf' ; das zeigt die mit S1 gehaltgleiche Formulierung S3: ",Fünf` ist kein Dingwort, sondern ein Zahlwort." Während S2 ein echter Objektsatz ist, ist S1 ein Pseudo-Objektsatz; S1 ist ein quasi-syntaktischer Satz (der inhaltlichen Redeweise), S3 ist der zugeordnete syntaktische Satz (formale Redeweise).

"Zusätzliche Ortstafeln verstoßen gegen den Willen der Mehrheit der Kärntner Wählerinnen (m/w)." Damit ist die Auseinandersetzung eine Ebene nach oben verschoben. Es fragt sich aber, welche Wahrheitsbedingungen hier herrschen. Der wichtige Hinweis Carnaps: Sprich nicht über eine Sache, wenn Du eigentlich über die Bedingungen sprichst, unter denen von der Sache die Rede ist. Offen bleibt die Frage, unter welchen Bedingungen diese Meta-Betrachtung zu bewerten ist. Die Schwierigkeit wird im nächsten Absatz deutlich.

Wir haben vorhin diejenigen logischen Sätze beiseite gelassen, die etwas über Sinn, Inhalt, Bedeutung von Sätzen oder Sprachausdrücken irgendeines Gebietes aussagen. Auch diese Sätze sind Pseudo-Objektsätze. Betrachten wir als Beispiel den folgenden Satz S1: "Der gestrige Vortrag handelte von Babylon." S1 scheint etwas über Babylon auszusagen, da der Name ,Babylon` in S1 vorkommt. In Wirklichkeit aber sagt S1 nichts über die Stadt Babylon aus, sondern nur etwas über den gestrigen Vortrag und über das Wort ,Babylon'. Das erkennt man leicht durch folgende inhaltliche Überlegung: für unser Wissen von der Beschaffenheit der Stadt Babylon ist die Frage, ob S1 wahr oder falsch ist, belanglos. Daß S1 nur ein Pseudo-Objektsatz ist, ersieht man ferner aus dem Umstand, daß S1 übersetzbar ist in folgenden (deskriptiv-)syntaktischen Satz: "In dem gestrigen Vortrag kam das Wort ,Babylon' oder ein mit ,Babylon' synonymer Ausdruck vor" (S3).

Sicherlich ist der Hinweis richtig, dass der Beispielsatz zwei Sprachstufen umspannt. Er teilt etwas über einen Vortrag über eine Stadt mit. Aber Carnaps Paraphrase ist offensichtlich unkorrekt.
  • Angenommen, im Vortrag kommt das Wort "Babylon" vor
  • so folgt keineswegs, dass der Vortrag von Babylon handelte
  • "Babylon" kann eine neue Duftnote sein
S1 enthält zwei inhaltliche Komponenten, nämlich erstens, dass es einen Vortrag gab, in dem das Wort "Babylon" vorkam, und zweitens, dass sich dieses Wort auf eine Stadt Babylon bezogen hat. Oder, und hier wird es interessant: auf das, worauf wir uns mit Hilfe des Wortes "Babylon" normalerweise beziehen. Wir sprechen vom Wort und implizieren eine Verwendung. Mit dem Problem der Ortstafeln kann man also nicht so umgehen, dass man unterscheidet zwischen:
  • Metallschilder
  • Ideologieträger
Das Problem ist: sie sind beides, Blechtafeln als Manifestationen. Die Lessing-Carnapsche Toleranz-Strategie trennt die beiden Komponenten. Im Beispiel: Wir sprechen nicht von Schildern, sondern von Überzeugungen und die können nicht in der Landschaft stehen, wohl aber - im Raum der Überzeugungen - nebeneinander. Ein Manko dieser Vorgangsweise liegt darin: "Der gestrige Vortrag handelte über Bleiburg" ist in gewissen Hinsichten nicht ersetzbar durch "Der gestrige Vortrag handelte über Pliberk".


Wir unterscheiden also drei Arten von Sätzen:

  1. Objektsätze. Beispiele. ,5 ist eine Primzahl"; ,Babylon war eine große Stadt"; ,Löwen sind Säugetiere".
  2. Pseudo-Objektsätze = quasi-syntaktischetische Sätze. Inhaltliche Redeweise. Beispiele. ,Fünf ist kein Ding, sondern eine Zahl"; ,Babylon ist im gestrigen Vortrag behandelt worden". ...
  3. Syntaktische Sätze. Formale Redeweise. Beispiele. ,,Fünf' ist kein Dingwort, son-dern ein Zahlwort"; ,Das Wort ,Babylon' ist im gestrigen Vortrag vorgekommen"; ,A . ~ A' ist ein kontradiktorischer Satz".
(S. 211f)

Sprachen für Naturgesetze

Bei der hier besprochenen Auffassung wird der Bereich der wissenschaftlichen Sätze nicht so eng begrenzt wie bei der früher im Wiener Kreis üblichen Auffassung. Die frühere Auffassung besagte, daß jeder Satz, um sinnvoll zu sein, vollständig verifizierbar sein müsse (Wittgenstein; Waismann [Wahrscheinlichkeit] 229; Schlick [Kausalität] 150); jeder Satz sei deshalb ein aus konkreten Sätzen (den sog. Elementarsätzen) gebildeter molekularer Satz (Wittgenstein [Tractatus] 102, 118; Carnap [Aufbau]). Bei dieser Auffassung war für die Naturgesetze kein Platz innerhalb der Sätze der Sprache. Man mußte ihnen entweder die unbeschränkte Allgemeinheit absprechen und sie als Berichtsätze auffassen; oder man beließ ihnen die unbeschränkte Allgemeinheit, sah sie aber nicht als eigentliche Sätze der Objektsprache an, sondern als Anweisungen zur Bildung von Sätzen (Ramsey [Foundations] 237ff.; Schlick [Kausalität] 150f. unter Hinweis auf Wittgenstein), also als eine Art von syntaktischen Regeln. Gemäß dem Toleranzprinzip werden wir einen Aufbau der physikalischen Sprache, der dieser früheren Auffassung entspricht, nicht als unzulässig bezeichnen; es ist aber auch ein Aufbau möglich, bei dem die unbeschränkt allgemeinen Gesetze als eigentliche Sätze der Sprache zugelassen werden. Der wichtige Unterschied zwischen Gesetzen und konkreten Sätzen wird bei dieser zweiten Sprachform nicht etwa verwischt, sondern bleibt durchaus bestehen. Er kommt dadurch zur Geltung, daß für die beiden Satzarten Definitionen aufgestellt und ihre verschiedenen syntaktischen Eigenschaften untersucht werden. Die Wahl zwischen den beiden Sprachformen wird nach Zweckmäßigkeitsgründen zu treffen sein. Die zweite Sprachform, bei der die Gesetze als gleichberechtigte eigentliche Sätze der Objektsprache behandelt werden, ist, wie es scheint, weit einfacher und dem üblichen Sprachgebrauch der Realwissenschaften besser angepaßt als die erste Sprachform. -- Eine ausführliche Kritik der Auffassung, nach der die Gesetze keine Sätze sind, gibt Popper.

Die dargestellte Auffassung gewährt große Freiheit für die Einführung neuer Grundbegriffe und neuer Grundsätze in die Sprache der Physik oder der Wissenschaft überhaupt. Dabei besteht aber doch die Möglichkeit, Scheinbegriffe und Scheinsätze von echten wissenschaftlichen Begriffen und Sätzen zu unterscheiden und damit auszuschalten. [Diese Ausschaltung ist allerdings nicht so einfach, wie sie auf Grund der früheren Auffassung des Wiener Kreises zu sein schien, die im wesentlichen auf Wittgenstein zurückging; bei dieser Auffassung war in absolutistischer Weise von "der Sprache" die Rede; man glaubte daher Begriffe und Sätze schon dann ablehnen zu können, wenn sie nicht in "die Sprache" paßten.] Ein vorgelegter neuer P-Grundsatz erweist sich dadurch als Scheinsatz, daß entweder keine hinreichenden Formbestimmungen gegeben werden, durch die er sich als Satz erweist, oder keine hinreichenden Umformungsbestimmungen, auf Grund deren der Satz in der früher angedeuteten Weise einer empirischen Nachprüfung unterzogen werden kann. Die Bestimmungen müssen nicht ausdrücklich angegeben sein; sie können auch stillschweigend aufgestellt sein, sofern sie sich nur aus dem Sprachgebrauch ersehen lassen. Ein vorgelegter neuer deskriptiver Begriff erweist sich dadurch als Scheinbegriff, daß er weder durch eine Definition auf frühere Begriffe zurückgeführt, noch durch nachprüfbare P-Grundsätze eingeführt wird (vgl. Beispiel und Gegenbeispiel, S. 247). (S. 249f)





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