25. Juni 2007
Copjec, Joan (2002): Evil in the Time of the (In)Finite World, in: dies.: Imagine There’s No Woman. Ethics and Sublimation, Cambridge, London: MIT: 2002, 134-157.
Held oder gewöhnlicher Mensch
Wir haben uns das letzte Mal mit der letzten Sitzung des Seminars über die Ethik der Psychoanalyse plötzlich vor die Frage gestellt gesehen, wohin die von Lacan vorgeschlagene Fokussierung des Begehrens führt. Wenn Sie sich erinnern, haben wir im Text zwei Modelle einer ethischen Ausrichtung kennengelernt: den Helden/die Heldin und den gewöhnlichen Menschen. Die Heldin war durch die Begriffe Sein zum Tode, Begierden (auch Begehren) und den Verzicht charakterisiert. Der gewöhnliche Mensch trägt dagegen im Zentrum seiner Motivationen die Schuld, welche von Hass und Furcht begleitet wird. In einer sehr groben Zuordnung finden sich in dieser Gegenüberstellung Heidegger und Kant wieder. Aber das ist eine wirklich sehr grobe Zuordnung. Die heutige Sitzung wird uns auf der Seite Kants korrigieren.
Relevanz der psychoanalytischen Perspektive auf die Ethik
Wir kehren heute noch einmal zu Kant zurück. Das hat damit zu tun, dass meine Antwort auf die Frage nach der Relevanz der Psychoanalyse für gegenwärtige ethische Konzepte, Lacan sei kein Politiker, sondern Psychoanalytiker gewesen, etwas Unbefriedigendes hat. Eine solche Antwort lässt den Wunsch unbefriedigt, mit der Psychoanalyse auch an Phänomene heranzureichen, die über eine individuelle psychische Sphäre hinausgehen. Die einfache Gegenüberstellung, hier Psychoanalyse, da Politik, hier die einzelnen, dort die Gesellschaft übergeht Freuds Interesse an kulturellen Gegebenheiten und seine Voraussetzung von der Zusammengehörigkeit individueller und kultureller Phänomene.
Freuds Sicht auf die Kultur war bekanntlich eine pessimistische. Etwa in Die Zukunft einer Illusion beschreibt er die Kultur als etwas, was einerseits den Erwerb der Güter vor dem Hintergrund einer als bedrohlich gedachten Natur umfasst, andererseits versteht er unter Kultur aber auch das, was die Verteilung dieser Güter und damit die Beziehungen der Menschen untereinander regelt (Freud 1927, 140). Diese Verteilung scheint ihm zum gegenwärtigen Zeitpunkt ohne Zwang nicht möglich – kulturelle Einrichtungen sind angewiesen auf die Ausübung von Zwang durch einzelne auf eine anders nicht beherrschbare Masse. Der Grund, weshalb es ohne Zwang nicht geht, ist für Freud ein doppelter: Menschen sind „spontan nicht arbeitslustig“ und „Argumente [vermögen] nichts gegen ihre Leidenschaften“ (ebd., 142).
Copjec: zum Einstieg
Eine solche Sicht führt uns nolens volens wieder zu Kant zurück, dessen Kategorischer Imperativ als eine subtile Form der Übernahme des gesellschaftlich notwendigen Zwangs durch den einzelnen gelesen werden kann. Joan Copjec, deren Text Evil in the Time of the (In)Finite World wir heute diskutieren werden, widmet sich dieser Schnittstelle. Zur Einleitung möchte ich Ihnen kurz etwas zu dem Buch sagen, aus dem der Text entnommen ist. Mit dem Titel des Buches, Imagine, There’s no Woman, spielt Copjec auf ein Motiv an, das Lacan in seinem Seminar über weibliche Sexualität, das XX. Seminar mit dem Titel Encore, entwickelt. Die Frau existiert nicht, sagt Lacan in diesem Seminar. Copjec knüpft an an einen Hinweis Lacans ganz am Anfang dieses Seminars, dass das Encore-Seminar nämlich eine Art Umschrift des Ethik-Seminares wäre (Copjec 2002, 5 f.). Ethik, so impliziert Lacan in diesem späten Seminar, hat etwas zu tun mit weiblicher Sexualität. Das ist, so Copjec, schon allein deswegen kontraintuitiv, weil der Frau bei Freud bekanntlich das schwächere Überich zugeordnet wird, und mit einem schwachen Überich keine Ethik zu machen ist.
Ich gehe davon aus, dass es uns nach der Teillektüre des Ethikseminars nicht mehr so schwer fällt, die Richtung zu erahnen, in welcher Lacans Überlegungen im XX. Seminar gehen könnten. Denn die Ethik der Psychoanalyse ist mit ihren Spekulationen um das Ding um etwas angeordnet, was bei Lacan weiblich konotiert ist. Und die Heldin des Ethik Seminars, Antigone, ist weiblich.
Copjecs Buch setzt sich im ersten Teil mit den Implikationen dieser Verweiblichung der ethischen Frage auseinander. Dabei spielt der Körper eine entscheidende Rolle. Denn der Körper ist traditionell bis heute eine weibliche Domäne. Lacans Versuch, dieser traditionellen Zuordnung durch eine strukturale Lesart der Welt zu entkommen, eine strukturale Lesart, die aus Menschen mit einem konkreten Geschlecht Subjekte mit abstrakten sexuellen Identifikationen macht, gelingt nur teilweise. Sie sehen das an der schon erwähnten Formulierung: Die Frau existiert nicht. Wobei das Die durchgestrichen ist, um den Bezug zum durchgestrichenen Subjekt bzw. zur Symbolischen Ordnung darzustellen. Indem Lacan so formuliert, wie er hier formuliert, spielt er mit einer imaginären Identifikation von Frauen mit der Position des Nicht-Existierenden. Statt zu sagen, Die weibliche Position befindet sich dort, wo wir geneigt sind, von der Nicht-Existenz der Objekte auszugehen, legt Lacan konkrete Frauen auf diese Position fest. Und diese Position ist gekennzeichnet durch etwas Unfassbares, etwas im Realen, etwas, was viel mehr mit dem Körper zu tun hat als die männliche Position mitten in der Symbolischen Ordnung, in welcher der Phallus das Genießen strukturiert.
Gehen wir ein wenig ins Detail: Copjec vergleicht Antigones Akt (engl.: act), trotz des Verbotes den toten Körper ihres schuldigen Bruders Polyneikes zu begraben, mit Kreons Handlung (engl.: action), die lebendige Antigone wegen Übertretung des Verbotes in einem Felsengrab einzumauern. Mit Lacan kritisiert sie Hegels Lektüre von Sophokles in zweierlei Hinsicht. Hegel übersehe erstens die Wichtigkeit des Körpers, der Sexualität. Zweitens reduziere er den Tod auf ein biologisches Faktum (ebd., 19). In einem nächsten Schritt führt Copjec unterschiedliche Begriffe von Unsterblichkeit ein. Während Feuerbach und Blumenberg Unsterblichkeit und Nachwelt voneinander trennen, ist diese Verbindung für Claude Lefort gerade wichtig (ebd., 23). Ihm zufolge gab es, historisch betrachtet, eine Verschiebung im Begriff der Unsterblichkeit. Vor der französischen Revolution konnten Taten oder große Werke aus sich selbst heraus keine dauerhafte Bedeutung erlangen. Sie wurden Personen zugeschrieben, deren Namen auf diese Weise unsterblich wurden. Erst nach dem klassischen Zeitalter konnten Taten als solche berühmt werden (ebd., 20).
Diese Entwicklung muss laut Copjec in engem Zusammenhang mit der historischen Wandlung von Körperkonzepten gesehen werden. Wie Agamben (und vor ihm Foucault) gezeigt hat, zählt in moderner Biopolitik einzig und allein das Faktum lebendig zu sein, d.h. das bloße Leben (griech. Zoe). Copjec schlägt am Ende des ersten Kapitels vor, in Kreon einen Vorläufer dieser Zugriffsweise auf den Körper zu sehen, weil er in seinem Verhalten Polyneikes gegenüber an die Idee der nackten Existenz gebunden bleibt (ebd., 47).
Heute, wo die Wissenschaften vom Leben ins Zentrum der Aufmerksamkeit geraten sind, besteht laut Copjec dringender Bedarf nach einem neuen Körperkonzept. Sie verweist auf Deleuzes and Guattaris Vorstellung eines Körpers ohne Organe. Im Gegensatz dazu würde sie den Körper der Psychoanalyse eher mit einem Körper vergleichen, der eine große Zahl von Mündern auf seiner Oberfläche trägt (ebd., 50). Denn psychoanalytisch betrachtet, ist klar, dass er als Interaktionsmedium dient. Sie erinnern sich vielleicht, dass das Bild eines Körpers, der über und über mit Mündern versehen ist, auch bei Lacan im Ethikseminar vorkam.
Der Körper als "Sitz der Sexualität (Übers. UK)" (ebd., 29) gerät bei Copjec ganz auf die Seite der Lebenstriebe, denn er kann nicht als "Sitz des Todes (Übers. UK)" (ebd.) angesehen werden. Was aber ist mit den Todestrieben? Wohin gehören sie? Ohne sich mit jenen Debatten auseinanderzusetzen, die seit ihrer Beschreibung durch Freud das Konzept der Todestriebe begleitet haben, hebt Copjec lediglich das Paradox hervor, dass jeder Trieb "zielgehemmt (orig. deutsch)" sei. Wie auch die Sublimierung erlangen Todestriebe Befriedigung dadurch, dass sie ihre eigene Einschränkung befördern (ebd., 30). So lassen sie sich jenseits biopolitischer Instrumentalisierung in ein Konzept des Körpers integrieren.
Todestriebe treffen wie jeder andere Trieb auf ein Objekt, "welches den Trieb bremst und ihn überwindet" (ebd., 34, Übers. UK, die englische Homophonie der Ausdrücke "brake" und "break up" lässt sich im Deutschen nicht wiedergeben). Es treten die Partialobjekte in Erscheinung. Als Brust, Stimme, Blick und Kot (und Phallus) repräsentieren sie das Genießen, welches Teil des Realen ist, jenes Realen, das Antigone mit ihrer Tat anpeilt. Wichtig ist dabei der Bruch mit der Gemeinschaft, in welcher sie lebt (ebd., 39). Was bringt sie dazu? Nach Sophokles nennt sie die Liebe, denn Polyneikes sei für sie als Bruder unersetzbar. Sie kann allerdings nur deshalb so handeln, weil sie an ein fundamentales, nicht durch ein Überich vermitteltes Gesetz ihres eigenen Daseins gebunden ist (ebd., 43).
Es wird verständlich, weshalb für Copjec die Frage nach der Leiblichkeit so wichtig ist. Sublimierung, ein meist ungenanntes, aber nicht minder zentrales Element ethischen Handelns, kann ohne ein psychoanalytisches Konzept des Körpers nicht gedacht werden, denn Sublimierung ist via Sexualität auch körperlich konnotiert. Bezüglich der Objektliebe betont Copjec deren narzisstischen Hintergrund (ebd., 62). Weder die Liebe zu anderen noch die Sublimierung sind selbstlos, denn beide sind vom Objekt a abhängig (80), welches als Phantasma zum Selbst gehört. Als Objekt "mit nur ein »wenig Andersheit«" überbrückt es den Abgrund zwischen dem Selbst und dem Anderen.
Freud und stärker noch Lacan zufolge sind Frauen im allgemeinen durch einen Mangel an Überichstruktur charakterisiert. Anstatt das Problematische eines solches Konzepts aufzuzeigen, betont Copjec (mit Lacan), dass dieser Unterschied zwischen Männern und Frauen eine Chance für Frauen bedeute (ebd., 127). Kreons Handlung sei nämlich nicht ethisch im strengen Sinn, da sie an soziale Vorschriften gebunden bleibe. Antigone hingegen handle ethisch, da ihr Akt keinen (externen) Grund habe.
Literatur:
Copjec, Joan (2002): Imagine There’s No Woman. Ethics and Sublimation. Cambridge, London: MIT: 2002.
Freud, Sigmund (1927): Die Zukunft einer Illusion. In: Ders.: Studienausgabe Bd. 9, Frankfurt/M.: 2000, 135-189.
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