14. Mai 2007
Lacan, Jacques (1986): V Das Ding (II), in: ders.: Das Seminar. Buch VII. Die Ethik der Psychoanalyse, Berlin, Weinheim: Quadriga 1996, 73-88.
Nachbemerkung als Vorbemerkung
Die V. Sitzung ist von ihrem Ende her zu lesen, ein Ablauf, den Lacan seiner Art der Psychoanalyse nachempfunden haben könnte. Wenn es am schönsten ist, dann soll man halt gehen. Wenn etwas klar wird, erkennbar wird, dann soll Schluss gemacht werden. Das Ende einer Sitzung, sei es eine Analysesitzung oder eine Seminarsitzung kann eine Erkenntnis unterstreichen. Lacan nennt dieses Vorgehen Skandieren. Das Skandieren, ein Betonen durch Abbruch, gehört zu einer besonderen Technik, der Technik der variablen Sitzungsdauer, die mit dem Namen Lacan im populärwissenschaftlichen Rahmen verbunden ist. Ein Prinzip dieser Technik lautet, dass die Sitzungsdauer durch aktive Intervention des Analytikers bestimmt wird. Diese aktive Intervention steht in der Tradition einer aktiven Technik, wie Freud selbst sie eine Zeit lang, etwa mit seinen frühen PatientInnen ausgeübt hat. So waren für Emmy v. N. Massagen von Freud an der Tagesordnung,und der Kunstgriff des Drückens auf die Köpfe von Miss Lucy oder Elisabeth v. R. bildete einen ebenso aktiven Zugriff wie die suggestiven Aufträge, die Freud Frau Emmy v. N. um ihrer (oder seiner?) selbst willen erteilte (vgl. Freud, 1895, 104 f.) Lacan sprach, sprach nicht oder beendete die Stunde, unabhängig davon, ob ein äußeres Zeitmaß, eine allgemeine Regel, ihn dazu berechtigte. Entscheidend war die Unterbrechung selbst, mithilfe derer ein psychischer Prozess in Gang gebracht, aufrecht erhalten oder weiterbefördert werden sollte. Es ist nicht der Ort, diese Thematik zu diskutieren. Sie wird oft sehr rasch als Hebel verwendet, um eine weitere Beschäftigung mit Lacan zu verhindern. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Frage leistet Langlitz (ders., 2005). Zur Orientierung nur ein Zitat, das deutlich macht, dass jede Handhabung der Zeit Deutungen auf seiten der Patientinnen hervorruft: „Der Analysand sieht sich in jeder Sitzung mit der Zeitordnung der Analyse, die zugleich eine Form der sozialen Zeit (der Arbeitszeit) ist, konfrontiert. Wie immer das augenblickliche Zeiterleben des Analysanden in der Kur sein mag, stets erfährt es an der unbeweglichen Zeit des Rahmens eine tiefgreifende Störung. Die Zeitpraxis der Analyse ist uns als Analytikern so selbstverständlich und vertraut, dass wir leicht vergessen kännen, wie unerhört es ist, das innere Erleben in eine so starre Zeitform zu pressen. Um das Erleben von dieser Störung psychisch zu integrieren, entwickelt der Patient bewusste und unbewusste Theorien und Ideologien über die Zeit in der Analyse. Die Störungen des eigenen Zeiterlebens bekommen für den Patienten immer wieder andere Bedeutungen. So kann z.B. die vorgegebene Zeitordnung als Angriff von Seiten des Analytikers, der die Sitzung beendet, obwohl der Analysand noch so vieles erzählen möchte, erlebt werden; oder der Patient kann es als besonderen Liebesbeweis nehmen, wenn er die letzte Abendstunde bekommt; oder er kann die Ferienzeit des Analytikers für einen Hinweis darauf halten, dass er den Analytiker schwer belastet, so dass dieser eine gründliche Erholung braucht, usw. Im Laufe der Analyse entwickelt der Patient vielfältige Theorien über die Bedeutung des Zeitrahmens. Sie nehmen einen zentralen Platz in der Übertragung ein. Jede Analyse ist, insofern sie Aufhebung der Verdrängungen bietet, auch ein Versuch, die Bedeutung und Funktionen dieser Zeittheorie des Analysanden aufzuklären“ (Wellendorf 2000, 198 f.).
Am Ende der Stunde wird Lacans Praxis (und Theorie) zufolge etwas Entscheidendes gesagt oder angebahnt. Das Entscheidende am Ende der V. Sitzung des Seminars über Die Ethik der Psychoanalyse lautet: Freud hat gezeigt, dass es kein höchstes Gut gibt. Als höchstes Gut, als Ding für das Subjekt, gilt die Mutter. Und die Mutter ist als Objekt des Inzests verboten und insofern auf immer verloren. Lacan assoziiert diese Beobachtung mit der Entwicklung der modernen Physik. Sie, so ließe sich spekulieren über die letzten Sätze der Sitzung, dient als eine Art Ersatz für das unerreichbare, auf immer verlorene Objekt. Davor wendet sich Lacan gegen eine teleologische wie gegen eine deontologische Morallehre: Ein höchstes Gut gibt es nicht. Solange wir daran glauben, wird das Böse überall herumspuken, weil es einen revolutionären Wert bekommt über das Gesetz.
Lacan hat vorausgeschickt, dass das Zentrum seiner Annäherung an die Frage der Ethik das Reale sei. Lacans Herausarbeitung der Rolle des Anderen, des Nebenmenschen aus der Apparatetheorie von Freuds Entwurf einer Psychologie entspricht einem Zugang, der nicht an den Bedeutungen moralischer Begriffe ansetzt, also nicht vom Symbolischen ausgeht. Stattdessen fragt Lacan, wie es überhaupt zu Bedeutung kommt, im Realen zwischen den beiden Apparaten Psi und Omega, als Ergebnis eines Kräftespiels zwischen Lustprinzip und Realitätsprinzip.
Der Andere tritt dort ein, wo sich eine Leerstelle auftut. Damit entsteht ein Verhältnis zum Realen. Es muss gesprochen werden. Und das Verhältnis zum Anderen erweist sich als geregelt über das Inzestverbot. Doch auf das Reale ist immer wieder zurückzukommen. Weil das Ding hier vermutet wird? Auf jeden Fall wird das Ding im Realen auf unterschiedliche Weise angegangen, in zwei Imperativen, in jenem von Kant und jenem von Sade, als Anwendung von Maximen und als Genießen.
Freud, Sigmund (1895): Studien über Hysterie. Frankfurt/M.: 1970.
Langlitz, Nicolas (2005): Die Zeit der Psychoanalyse. Lacan und das Problem der variablen Sitzungsdauer, Frankfurt/M.: suhrkamp wissenschaft.
Wellendorf, Franz (2000): Die Zeit der Psychoanalyse und die Psychoanalyse der Zeit, in: Forum der Psychoanalyse 16, 2000, 189-203,