„Naturbeherrschung: die größte politische Tragödie der Neuzeit?“: Unterschied zwischen den Versionen

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'''Welche Umwelt ist schützenswert?'''
 
'''Welche Umwelt ist schützenswert?'''
  
William Leiss spricht in seinem Artikel Naturbeherrschung: die größte politische Tragödie der Neuzeit? ausschließlich von Natur, ohne sie explizit zu definieren. Der Artikel ist jedoch Teil des Buches Kritische Theorie der Technik und der Natur von Gernot Böhme und Alexandra Manzei, die in ihrem Vorwort die Begriffe Natur, Gesellschaft und Technik definieren, indem sie auf den begriffgeschichtlichen Ursprung zurückgehen: „Natur (physis) ist nach dem Sophisten Antiphon und ihm folgend Aristoteles der Bereich des Seienden, das von sich aus da ist und inneren Entwicklungsprinzipien folgt, während Technik (techné) und Gesellschaft (nomos) dasjenige Seiende bezeichnet, das vom Menschen gemacht bzw. gesetzt ist.“ (1) Während ursprünglich diese drei Bereiche scharf voneinander abgegrenzt wurden, zeigt sich nunmehr eine wechselseitige Verflechtung und Abhängigkeit: Heutzutage haben wir es nach Böhme und Manzei mit einer gesellschaftlich konstituierten und technisierten Natur zu tun.
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Manfred Wetzel spricht in seinem Werk Praktisch-politische Philosophie, Band 2: Natur und Gesellschaft in erster Linie von Natur und nur am Rande von Umwelt. Er geht von folgender Definition der Natur aus:  
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„Natur ist ein ganzheitliches, knappes, universelles, nicht stückwerkstechnologisch bearbeitbares, weil nicht beliebig regenerierbares Gut. Natur ist ein unersetzliches, unerläßliches, alternativloses, nicht beliebig belastbares, weil irreversibel zerstörbares Gut.“ (1) Und er konkretisiert weiter: „Natur ist ein unbedingt zu erhaltendes, im Umgang zu schonendes, in der unvermeidlichen Nutzung unter Optimierungszwang zu stellendes und im Hinblick auf die unvermeidlichen Schäden soweit wie irgend möglich zu regenerierendes Gut.“ (2)
  
Ausgangspunkt des Artikels von Leiss ist der Verweis auf das Thema der Herrschaft über die Natur im Sinne von Francis Bacon. Dieser entwickelte eine Neue Wissenschaft auf Basis einer praktischen und experimentellen Einstellung zur Welt. Wenn dabei von Macht des Menschen über die Natur gesprochen wird, ist nach Leiss die „Fähigkeit, natürliche Prozesse zu steuern, und zwar systematisch und ohne Einschränkung zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse einschließlich – um es mit Bacons eigenen Worten zu sagen – ‚aller Bewerkstelligungen und möglichen Bewerkstelligungen, angefangen von der Unsterblichkeit (wenn sie möglich wäre) bis hin zu den geringsten mechanischen Verrichtungen’“ (2) gemeint.
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Natur wird von Wetzel damit als wertvolles Gut betrachtet: Natur zeichnet sich aus seiner Sicht durch eine Fülle von Eigenschaften aus, die häufig aus schädigenden Eingriffen des Menschen in die Natur abgeleitet werden und damit implizit bereits eine Handlungsanweisung für die Gesellschaft ausdrücken. Allein die Universalität der Natur ist eine positive Beschreibung; alle anderen Eigenschaften, wie etwa knapp, unerlässlich, unersetzlich, alternativlos, nicht stückwerkstechnologisch bearbeitbar, nicht beliebig regenerierbar, nicht beliebig belastbar oder irreversibel zerstörbar beziehen sich auf (negative) Eingriffe des Menschen in die Natur. Auch Ganzheitlichkeit wird von Wetzel klar über Naturschäden hergeleitet: Die Stückwerksartigkeit menschlichen Tuns wird dann zu einem Problem, „wenn die Anzahl dieser Eingriffe so groß und deren Folgen oder ‚Nebenwirkungen’ […] im Raum als ‚Summations- und Distanzschäden’ und in der Zeit als ‚Langzeitfolgen’, ‚Altlasten’ etc. von solcher Art sind, daß das stückwerksartige Tun zu einem ganzheitlichen Tun wird, weil es ganzheitliche Folgen hat.“ (3)  
  
Leiss geht es offensichtlich um menschliche Eingriffe in die Natur, die er unter dem Blickwinkel katastrophenträchtiger Risiken analysiert. „Als katastrophenträchtige Risiken definiere ich das Potential eines Schadens für Menschen und andere Wesen von einer Größe, dass der Fortbestand von tierischen Spezies, unsere eigene eingeschlossen, in Frage gestellt ist. Damit handelt es sich nicht nur um Risiken, die die gegenwärtigen Generationen lebender tierischer Spezies betreffen, sondern auch die zukünftigen (vielleicht alle zukünftigen).“ (3). Hieraus wird ersichtlich, dass er vor allem auf den Schutz der tierischen Lebewesen einschließlich der Menschheit abzielt.
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Den universellen Charakter der Natur beschreibt Wetzel sehr anschaulich über den Zusammenhang von Natur und Gesellschaft. Dabei führt er auch den Begriff der Umwelt ein: „Die Natur ist für die Gesellschaft und die Gesellschaften und in einem damit für die in der Gesellschaft und in einzelnen Gesellschaften lebenden Menschen (i.) Lebensraum und Umwelt als dieser ganz allgemeine, in der Zeit existierende materielle Aufenthaltsraum, (ii.) Material und Mittel in Gestalt von Stoffen und Kräften, die in den vielfältigsten besonderen Formen direkt oder indirekt zur Befriedigung von Bedürfnissen dienen, (iii.) eine praktisch unübersehbare Fülle individueller ganzheitlicher organischer Systeme, d.s. Flüsse, Seen und Meere, Wälder, Berge und Gebirge, überhaupt eine Einheit bildenden Naturteile wie z.B. quasi-abgeschlossene Landschaften, die pflanzlichen Organismen als Individuen, Arten und Gattungen, schließlich die tierischen Organismen wiederum als Individuen, Arten und Gattungen einschließlich des Menschen in Gestalt seiner organisch-materiellen Grundlage, die noch mal eine Sonderstellung unter den tierischen Organismen wie in der Natur überhaupt inne hat. “ (4)
  
Dies kann anhand der von ihm angeführten Beispiele für katastrophenträchtige Risiken anschaulich dargestellt werden: Nach Leiss entstehen vor allem durch die gegenwärtigen Entwicklungen im Bereich der Molekularbiologie katastrophenträchtige Risiken, die im Vergleich zu früheren Risiken völlig neue institutionelle Antworten erforderlich machen, da die Konsequenzen für den Menschen beträchtlich sein können. Mögliche Risiken ergeben sich dabei durch: biotechnisch erzeugte Krankheitserreger, die in Kriegen oder im Terrorismus eingesetzt werden; zufällige bzw. unbeabsichtigte Folgen der Genforschung, etwa durch genetische Manipulation von Viren und Bakterien, die zu gänzlich neuen Organismen führt, die in die Umwelt gelangen; (un)beabsichtigte Folgen genetischer Manipulation an Menschen und anderen Tieren, durch die die existierende Spezies verändert oder eine neue Variante der Spezies geschaffen wird; Manipulation der DNA durch Erweiterung der derzeitigen vier Nukleinsäuren (Adenin, Thymin, Cytosin, Guanin) auf sechs; neue Entwicklungen im Zusammenwirken von Bio- und Nanotechnologie sowie Robotik. (4)
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Wetzel geht also von einem äußerst breiten Ansatz von Natur aus: Der Begriff Natur umfasst auch den Begriff Umwelt im Gegensatz zu anderen Ansätzen, die den Begriff Umwelt als den umfassenderen ansehen. Natur beinhaltet für Wetzel alle Aspekte der materiellen Lebensgrundlage und der Lebensformen selbst. Der Mensch zeichnet sich dabei durch eine Sonderstellung aus, nicht nur im klassischen Sinn einer Sonderstellung unter den tierischen Organismen, sondern vielmehr auch durch die Doppelbindung zur Natur. Er ist Teil der Natur allein durch die Tatsache, dass er ein individuelles, ganzheitliches, organisches System darstellt. Zugleich ist er jedoch auch Teil der Gesellschaft. Wetzel differenziert hierbei klar zwischen Natur und Gesellschaft: „Natur ist der Inbegriff und die Gesamtheit von Materie. Gesellschaft ist der Inbegriff und die Gesamtheit von Kommunikation.“ (5) Der Mensch als Individuum und die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit sind damit zwar eindeutig von der Natur zu unterscheiden, können jedoch nicht vom Naturbezug getrennt werden: „Der Gesellschaft insgesamt wie auch jedem Subjekt im einzelnen ist der Naturbezug von Haus aus, ursprünglich eigen und kann daher nicht einmal theoretisch, sondern allenfalls rein abstrakt in Gedanken, im Sinne einer gänzlich abstrakten Negation, weggedacht werden […].“ (6) Diese Doppelbindung von Mensch und Natur, von Gesellschaft und Natur bildet jenes Spannungsfeld, in dem sämtliche Handlungen der Menschen im Hinblick auf die Natur stattfinden.
  
Leiss scheint jedoch auch eine über tierische Organismen hinausgehende Natur als schützenswert zu erachten, wie das Beispiel des nuklearen Winters als katastrophenträchtiges Risiko zeigt. Er verweist nämlich auf die durch einen Einsatz von nuklearen Waffen ausgelöste Umweltkatastrophe, die u.a. zu einer Verringerung der Sonneneinstrahlung führt. Überdies würde es durch die freigesetzte Strahlung zu tief greifenden genetischen Folgen für Pflanzen und Tiere kommen.
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Der Mensch kann nämlich der Natur eher passiv oder eher aktiv gegenüber treten, also die Natur als Gegebenes hinnehmen, benutzen und gebrauchen oder als Gegenstand von Eingriff und Umgestaltung betrachten. Die Eingriffe des Menschen in die Natur können also auf unterschiedliche Art und Weise erfolgen, je nach dem, auf welcher Einstellung das praktische Verhalten beruht: Die stückwerksartige Einstellung betrachtet die Natur als ein unbegrenzt zur Verfügung stehendes Reservoir an Lebensräumen und Umwelt, an Materialien und Mitteln und an organischen Systemen. Die ökologisch orientierte Einstellung geht hingegen davon aus, dass die Natur nicht unbegrenzt zur Verfügung steht, sondern Kreisläufen und Gesetzmäßigkeiten der Selbstregulation und Selbsterhaltung unterliegt. Die integrativ-teleologische Einstellung geht noch einen Schritt weiter und betrachtet die Natur als ein System von Zwecken, das auch die Gesellschaft umfasst, sodass ihre Zerstörung zugleich eine Zerstörung von Gesellschaft und Mensch nach sich zieht. (7)
  
Im Zusammenhang mit der Entwicklung der Nanotechnologien in Kombination mit Biotechnologien stellt Leiss durch einen Verweis auf einen Essay von Bill Joy, der sich wiederum auf ein Buch von Eric Drechsler bezieht, sogar auf die Schutzwürdigkeit der gesamten Biosphäre ab: „Eine unmittelbare Folge der Faustischen Wette, die wir eingehen, um die bedeutende Wirkungsmacht der Nanotechnologie zu erhalten, ist, dass wir ein ernstes Risiko eingehen – das Risiko, das [sic!] wir nämlich die Biosphäre, von der alles Leben abhängt, zerstören könnten.“ (5)
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Technik spielt dabei eine wesentliche Rolle: „Allen Formen der Technik […] ist eines gemeinsam: Sie befinden sich im Überschneidungs-, Durchdringungs- und Verflechtungsbereich von Natur und Gesellschaft […]. Die Verfahren und Gerätschaften, die Anlagen und die Produkte der Technik sind buchstäblich die Gravur der Gesellschaft in die Natur […].“ (8) Insbesondere die Formulierung „Gravur der Gesellschaft in die Natur“ zeigt, dass für Wetzel der Zusammenhang von Mensch und Natur eher negativ konnotiert ist in Form einer Naturaneignung und Ausübung von Macht über die Natur.  
  
Leiss wendet sich offensichtlich klar und deutlich gegen alle Möglichkeiten, die Natur willkürlich zu manipulieren. Insbesondere die Bio-/Gentechnologie ist aus seiner Sicht mit derart hohen Risiken verbunden, dass er den Besitz des Wissens und der technischen Methoden für die Menschheit als zu gefährlich erachtet. Er spricht in diesem Zusammenhang sehr kritisch von der Herrschaft über die Natur: „Das Projekt, das man als Herrschaft über die Natur kennt, scheint ein Spiel mit dem Teufel gewesen zu sein […].“ (6)
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Technik wird als Gesamtheit und Inbegriff aller gesellschaftlich vermittelten Naturaneignungen und Naturgestaltungen verstanden, wobei Wetzel drei Möglichkeiten unterscheidet: symbolische Form der Technik (Aneignung von Natur unter Beibehaltung ihrer Beschaffenheit), klassische Form der Technik (Aneignung und Gestaltung der Natur durch Umwandlung von Naturelementen) sowie vermeintlich autonome Form der Technik (gekennzeichnet durch die Glaubenshaltungen, dass es keine Grenzen der Machbarkeit gibt und dass der Mensch nahezu vollständig und in jeder Hinsicht ersetzbar ist). (9) Nach Wetzel ist mit der (vermeintlich) autonomen Form der Technik nunmehr ein Wendepunkt erreicht, an dem ihre Auflösung beginnt. Es bedarf einer kritischen Selbstreflexion von Naturwissenschaft und Technik, eines selbstreflexiv-kritischen Hinausgehens über die Methoden und ihre Anwendung in Natur und Gesellschaft.
Leiss strebt eine Balance an, in der die Vorteile neuer Technologien genutzt und die Nachteile bzw. Schäden vermieden werden können.
 
  
Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass für Leiss die Natur in ihrer Gesamtheit schützenswert ist, also  
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Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass für Wetzel die Natur in ihrer Gesamtheit schützenswert ist, also jene Natur, die für die einzelnen Menschen ebenso wie für die Gesellschaft
* die Gesamtheit der lebenden organischen Substanzen, Pflanzen, Tiere, Mikroorganismen und nicht zuletzt der Menschen,
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* Lebensraum und Umwelt,
* wobei der Schwerpunkt auf der tierischen Spezies, einschließlich der menschlichen, liegt.
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* Material und Mittel in Form von Stoffen und Kräften, die der Befriedigung von Bedürfnissen dienen,  
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* ebenso wie eine unübersehbare Fülle individueller ganzheitlicher organischer Systeme, d.s. Flüsse, Seen und Meere, Wälder, Berge und Gebirge ebenso wie pflanzliche und tierische Organismen, zu denen auch der Mensch zählt, darstellt.  
  
Interessant erscheint die Tatsache, dass Leiss nicht auf ästhetische Aspekte im Hinblick auf Natur eingeht.  
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Interessant erscheint die Tatsache, dass Wetzel kaum auf ästhetische Aspekte eingeht. Lediglich an einer Stelle verweist er auf unterschiedliche Formen der Erschließung und Erfahrung von Natur und die dahinter stehenden Absichten, die praktisch-ökonomisch, erkennend-theoretisch oder ästhetisch sein können. (10)
  
  
 
'''Womit kann die Schützenswürdigkeit der Umwelt begründet werden?'''
 
'''Womit kann die Schützenswürdigkeit der Umwelt begründet werden?'''
  
William Leiss betrachtet in seinem Artikel Naturbeherrschung: die größte politische Tragödie der Neuzeit? also die Natur in ihrer Gesamtheit als schützenswert, wobei er diese Schützenswürdigkeit in mehrfacher Hinsicht begründet.  
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Manfred Wetzel betrachtet in seinem Werk Praktisch-politische Philosophie, Band 2: Natur und Gesellschaft die Natur in ihrer Gesamtheit als schützenswert, wobei er diese Schützenswürdigkeit in mehrfacher Hinsicht begründet.  
  
Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht die Möglichkeit katastrophenträchtiger Risiken, jener Risiken, die das Potential eines enormen Schadens für Menschen und andere Wesen haben und deren Fortbestand in Frage stellen. Die Natur muss demnach vor Eingriffen der Menschen durch technologische Entwicklungen geschützt werden, um die Existenz der tierischen Spezies einschließlich der Menschheit, aber auch der Biosphäre, zu sichern.
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Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet die Tatsache der Naturbeschädigung und Naturzerstörung: „[…] die Beschädigung und Zerstörung der Natur [hat] qualitativ einen Charakter und quantitativ ein Ausmaß angenommen, daß die Fortexistenz der Natur als Lebensraum, als Lebensmittel und als entwickelte Mannigfaltigkeit organischer Systeme prinzipiell in Frage gestellt ist.“ (11) Damit ist für Wetzel auch ein erstes zentrales Argument für die Schützenswürdigkeit der Natur verbunden: Ohne Natur kann der Mensch nicht existieren. Sie ist unabdingbare Lebensgrundlage der gesamten Menschheit, da sie Lebensraum und Umwelt, Material und Mittel in Form von Stoffen und Kräften, die der Befriedigung von Bedürfnissen dienen, und zugleich eine Fülle individueller ganzheitlicher organischer Systeme, d.s. Flüsse, Seen und Meere, Wälder, Berge und Gebirge ebenso wie pflanzliche und tierische Organismen, zu denen auch der Mensch zählt, darstellt. Dadurch dass der Mensch aber selbst ein individuelles ganzheitliches organisches System ist, ist auch er selbst gefährdet, wenn die Natur beschädigt oder gar zerstört wird. Es geht also nicht nur um die Natur als Lebensgrundlage der Menschheit, sondern auch um die Existenz der Menschheit selbst.
  
Insbesondere muss die Natur im Hinblick auf ihre Abstufungen des Seins geschützt werden: „Abstufungen im Sein (unorganische und organische Materie, Pflanzen, Insekten, höhere Tiere, Menschen) sind schon immer die Basis des ethischen und religiösen Systems der Menschheit gewesen und sind es noch. Insbesondere ist Selbstbewusstsein als das schlechthin essentielle Unterscheidungskriterium für menschliche Existenz angesehen worden; doch […] gibt es offenbar selbst unter erfahrenen Wissenschaftlern eine Neigung, mit der Durchkreuzung dieser Grade des Seins […] gelegentlich zu experimentieren.“ (7). Er kritisiert Forschungsaktivitäten, durch die Lebewesen konstruiert oder grundlegend verändert werden können, und vergleicht diese Entwicklung sogar mit Mary Shelleys berühmten Roman Frankenstein.
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Wetzel verknüpft Natur und Gesellschaft nicht nur auf der Ebene der Materie, sondern auch auf der Ebene der Anschauungen: „Die Natur ist das Andere der Gesellschaft, aber die Gesellschaft ist in ihrem Anderen bei sich selbst.“ (12). In allen Lebensbereichen – Nahrung, Kleidung, Baulichkeiten, Energie, Werkzeuge, Mobilität – bedarf die Gesellschaft der Natur als dem Anderen ihrer selbst. Das (menschliche) Subjekt ist also durch sein In-der-Welt-sein in Form eines In-der-Natur- und In-der-Gesellschaft-seins der Schnittpunkt von Natur und Gesellschaft. Dieses Verhältnis von Natur und Gesellschaft kann „als das Bei-sich-selbst-sein der Gesellschaft in der Natur als dem Anderen ihrer selbst im allgemeinen und als die Gravur der Gesellschaft in der Natur, mithin als die Technik im besonderen“ (13) gefasst werden. Auch auf der Ebene der Anschauungen bilden also Natur und Gesellschaft eine Einheit, wobei die Gesellschaft von der Natur abhängig ist und nicht umgekehrt.  
Leiss nennt die mit Biotechnologie verbundenen katastrophenträchtigen Risiken moralische Risiken: „Wir haben es mit einem moralischen Risiko zu tun, wenn wir bestimmte Handlungsmöglichkeiten ins Auge fassen. Ziele, die durch wissenschaftliche Manipulation der Natur realisiert werden könnten, und zwar von der Art, dass sie die Ordnung des Seins so, wie sie der Mensch bisher erfahren hat, ändern.“ (8)
 
  
Leiss wendet sich offensichtlich strikt gegen wissenschaftliche Forschungen, die willkürlich bestehende Spezies verändert oder neue schafft, ohne die damit verbundenen Risiken zu kennen, geschweige denn in Grenzen halten zu können. Er geht von einer natürlichen Ordnung des Seins aus, die vom Menschen gottähnlich geändert wird. Die vormodernen Beziehungen zwischen Mensch und Natur seien bestimmt gewesen durch werthaltige Kategorien des Seins, und es ist für Leiss eine moralische Frage, diese Grade des Seins unangetastet zu lassen.  
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Wetzel führt auch ökonomische Argumente an: Jede aktive Zerstörung der Natur oder auch jede Inkaufnahme einer Zerstörung kann auf betriebswirtschaftlicher Ebene zu Gewinnen führen, auf volkswirtschaftlicher Ebene jedoch ist sie mit hohen Kosten verbunden, die in Summe die Einzelgewinne deutlich überschreiten. Die Natur muss nach Wetzel daher als ökonomisches Gut betrachtet werden: „Die Natur ist auch ein ökonomisches Gut und sie kann nur – wenn überhaupt – noch erhalten resp. regeneriert werden, wenn sie als ökonomisches Gut im Ge-und Verbrauch ihren kostenträchtigen, sachangemessenen, sozial ausdifferenzierten und belohnungs-/bestrafungsdefiniten Preis hat.“ (14)
  
Eine weitere Begründung für den Schutz der Natur besteht für Leiss in der fehlenden Kontrolle und Steuerung des wissenschaftlichen Fortschritts. Mit den neuen technologischen Möglichkeiten wurde ein „Fortschritt ohne natürliche Grenzen mit der Tendenz einer unendlichen Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten des Menschen in der Welt“ (9) eingeleitet. Das Problem besteht nach Leiss darin, dass dieser Fortschritt auf technologischer Ebene nicht mit einem entsprechenden Fortschritt auf sozialer Ebene einhergeht. Leiss bezweifelt, dass sich die sozialen Institutionen bereits so weit entwickelt haben, dass sie den neuen Machtmöglichkeiten gewachsen sind: „Es gibt eine große und stetig wachsende Kluft zwischen der bleibenden Mangelhaftigkeit der menschlichen Handlungsinstanz […], die mit den tiefen und religiösen Zerrissenheiten der Menschheit mitgegeben sind, auf der einen Seite und dem ungeheuren Anwachsen der Macht, die der Menschheit durch technische Mittel zur Verfügung steht, auf der anderen. […] Dieser Widerspruch droht, wenn er nicht gelöst wird, die größte politische Tragödie der Neuzeit zu werden.“ (10).
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Die gegenwärtige Ökonomie steht diesem Ansatz allerdings diametral entgegen. Sie kann anhand von vier Maximen beschrieben werden: Minimax-Prinzip der Nutzung (maximale wirtschaftliche Nutzung bei minimaler Zerstörung), nutzungsgerechte Anwendung des Verursacher-Prinzips (zu zahlen haben jene, die aus einem Eingriffsverzicht einen Nutzen ziehen, an jene, die aus einem Eingriffsverzicht einen wirtschaftlichen Schaden erleiden), optimaler Verschmutzungsgrad (zulässige Verschmutzung der Natur bis zur Grenzverschmutzung) und Schonung und Erhaltung im Rahmen und nach Maßgabe des wirtschaftlich Vertretbaren (keine Schonung, die auf Dauer kostspieliger ist als Nutzung). (15) Doch es sind nach Wetzel gerade diese vier Maximen, die zu gewaltigen Naturschädigungen mit enormen volkswirtschaftlichen Folgekosten geführt haben: Dem Argument, dass Natur- und Umweltschutz immer Kosten verursacht, die nur bei entsprechender wirtschaftlicher Leistung eines Landes gedeckt werden können, begegnet er mit dem Hinweis, dass gerade unterlassener Natur- und Umweltschutz der teuerste Schutz für Natur, Umwelt und Gesellschaft ist.
  
Leiss fordert demnach Schutz-, Kontroll- und Steuerungsmechanismen ein. Es müsse möglich sein, dass Wissen auch abgelehnt oder unterdrückt werden kann, was in Anbetracht der neuzeitlichen Form der Forschungsarbeit (breit verfügbares Wissen, kleine Forschungsgruppen, die weltweit verteilt sind, relativ geringer technischer Aufwand, starke Interessen der Wirtschaft und der Staaten an den Forschungsergebnissen, hohes Tempo der Innovationen usw.) in der Praxis schwierig sein könnte. Umso wichtiger wäre daher eine freiwillige, jedoch umfassende Selbstkontrolle der Wissenschaft.
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Wetzel begründet die Schützenswürdigkeit der Natur letztlich auch über eine moralphilosophisch-ethische Linie, auf der er seine ökologisch orientierte Politik aufsetzt. (16) Er unterscheidet dabei moralische Werte und Normen von positiv-rechtlich gesetzten bzw. kulturell-lebensweltlich verankerten. Die moralischen Werten und Normen lassen sich wiederum in drei Gruppen unterteilen, jene, die legitimerweise erzwungen werden können, jene, die eines guten Willens bedürfen, und jene, die auf einer Einbettung in kulturell-lebens¬welt¬liche Verhältnisse basieren. Im Hinblick auf die Verbindlichkeit einer ökologisch orientierten Politik sind für Wetzel die erste und die dritte Gruppe moralischer Werte und Normen relevant. Natur- und Umweltschutz werden demnach über moralische Werte begründet.
Im Umkehrschluss würde nämlich der Ansatz von Leiss bedeuten, dass bei ausreichender Kontrolle und Steuerung durch die Gesellschaft und die Wissenschaft selbst der Schutz der Natur gewährleistet wäre, sodass einer Weiterentwicklung in Wissenschaft und Forschung nichts entgegensteht. Die einander entgegen stehenden Kräfte – Wissenschaft und Technologie auf der einen Seite und die sozialen Institutionen auf der anderen Seite – müssten wieder in ein produktives und verantwortungsbewusstes Gleichgewicht gebracht werden, sodass die Natur vor unüberlegten und willkürlichen Eingriffen der Menschen geschützt werden kann.
 
  
Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass Leiss die Schützenswürdigkeit der Natur in mehrfacher Hinsicht begründet:
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Natur- und Umweltschutz, die sauberes Wasser, reine Luft und fruchtbaren Boden sichern sollen, decken dabei (ebenso wie Nahrung, Kleidung oder Wohnung) elementare Bedürfnisse aller Menschen ab. Auf solche elementare Bedürfnisse gibt es nicht nur einen moralischen Anspruch, sondern auch einen Rechtsanspruch der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Wetzel spricht hierbei von Menschheitsrechten, die sich von Menschenrechte dadurch unterscheiden, dass sie kein Individualrecht darstellen, sondern ein Recht der gesamten Gesellschaft.
* Schutz der Existenz der tierischen Spezies einschließlich der Menschheit und der Biosphäre
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* Schutz der natürlichen Ordnung des Seins bzw. der Grade des Seins
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Derartige Menschheitsrechte können nur auf kollektiver Ebene durchgesetzt werden, denn eine Schädigung von Luft, Wasser und Boden durch einzelne Menschen ist stets zugleich eine Schädigung von Luft, Wasser und Boden als kollektive Güter. Es ist somit Aufgabe des Staates, die Erhaltung von Natur und Umwelt als Menschheitsrecht über rechtliche Normen entsprechend zu verankern.
* Fehlende bzw. nicht ausreichende gesellschaftliche und wissenschaftliche Kontroll- und Steuerungsmechanismen
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Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass Wetzel die Schützenswürdigkeit der Natur in mehrfacher Hinsicht begründet:
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* Schutz der Lebensgrundlage des Menschen
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* Schutz der Existenz der Menschheit selbst, da diese Teil der Natur ist
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* Einheit von Natur und Gesellschaft aufgrund des Bei-sich-selbst-seins der Gesellschaft in der Natur als dem Anderen ihrer selbst
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* Verringerung der enormen volkswirtschaftlichen Folgekosten von Naturzerstörung
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* Natur- und Umweltschutz als Menschheitsrecht
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Aufbauend auf diesen Argumenten definiert Wetzel Grundsätze einer ökologisch orientierten gesellschaftspolitischen Praxis (17): die Betrachtung der Natur für sich und an sich im Sinne eines „sinnlichen Erscheinens der Idee der Einheit von Gesellschaft und Natur“ (18); die Orientierung der Technik an dieser Praxis der Einheit von Gesellschaft und Natur; die Legitimität des allgemeinen Interesses an der Erhaltung der Natur im Sinne eines Menschheitsrechtes durch Verankerung des Schutzes von Natur und Umwelt als Staatsaufgabe; sowie ein weltumspannender Bewusstseinswandel in Bezug auf das Verhältnis der Gesellschaft zur Natur. Für die konkrete praktische Umsetzung bedarf es dazu Ansätzen auf gesellschaftlicher wie auf individueller Ebene.
  
  
 
'''Fußnoten:'''
 
'''Fußnoten:'''
  
(1) William Leiss, „Naturbeherrschung: die größte politische Tragödie der Neuzeit?“, in: Gernot Böhme, Alexandra Manzei (Hrsg.), Kritische Theorie der Technik und Natur, (München, Fink, 2003), S. 9
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(1) Manfred Wetzel, Praktisch-politische Philosophie, Bd. 2: Natur und Gesellschaft, (Würzburg, Könighausen & Neumann, 2004), S. 5
(2) Ebd., S. 135 f.
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(2) Ebd., S. 13
(3) Ebd., S. 138
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(3) Ebd., S. 5 f.
(4) Vgl. ebd., S. 140 ff.
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(4) Ebd., S. 65
(5) Ebd., S. 143
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(5) Ebd., S. 18
(6) Ebd., S. 150
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(6) Ebd., S. 23
(7) Ebd., S. 140
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(7) Vgl. ebd., S. 65 f.
(8) Ebd., S. 140
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(8) Ebd., S. 36
(9) Ebd., S. 136
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(9) Vgl. ebd., S. 52 f.
(10) Ebd., S. 136 f.
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(10) Vgl. ebd., S. 37.
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(11) Ebd., S. 67
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(12) Ebd., S. 45
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(13) Ebd., S. 48
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(14) Ebd., S. 8
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(15) Vgl. ebd., S. 29 f.
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(16) Vgl. ebd., S. 76 ff.
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(17) Vgl. ebd., S. 84 f.
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(18) Ebd., S. 84

Version vom 10. Juni 2009, 12:37 Uhr

Welche Umwelt ist schützenswert?

Manfred Wetzel spricht in seinem Werk Praktisch-politische Philosophie, Band 2: Natur und Gesellschaft in erster Linie von Natur und nur am Rande von Umwelt. Er geht von folgender Definition der Natur aus: „Natur ist ein ganzheitliches, knappes, universelles, nicht stückwerkstechnologisch bearbeitbares, weil nicht beliebig regenerierbares Gut. Natur ist ein unersetzliches, unerläßliches, alternativloses, nicht beliebig belastbares, weil irreversibel zerstörbares Gut.“ (1) Und er konkretisiert weiter: „Natur ist ein unbedingt zu erhaltendes, im Umgang zu schonendes, in der unvermeidlichen Nutzung unter Optimierungszwang zu stellendes und im Hinblick auf die unvermeidlichen Schäden soweit wie irgend möglich zu regenerierendes Gut.“ (2)

Natur wird von Wetzel damit als wertvolles Gut betrachtet: Natur zeichnet sich aus seiner Sicht durch eine Fülle von Eigenschaften aus, die häufig aus schädigenden Eingriffen des Menschen in die Natur abgeleitet werden und damit implizit bereits eine Handlungsanweisung für die Gesellschaft ausdrücken. Allein die Universalität der Natur ist eine positive Beschreibung; alle anderen Eigenschaften, wie etwa knapp, unerlässlich, unersetzlich, alternativlos, nicht stückwerkstechnologisch bearbeitbar, nicht beliebig regenerierbar, nicht beliebig belastbar oder irreversibel zerstörbar beziehen sich auf (negative) Eingriffe des Menschen in die Natur. Auch Ganzheitlichkeit wird von Wetzel klar über Naturschäden hergeleitet: Die Stückwerksartigkeit menschlichen Tuns wird dann zu einem Problem, „wenn die Anzahl dieser Eingriffe so groß und deren Folgen oder ‚Nebenwirkungen’ […] im Raum als ‚Summations- und Distanzschäden’ und in der Zeit als ‚Langzeitfolgen’, ‚Altlasten’ etc. von solcher Art sind, daß das stückwerksartige Tun zu einem ganzheitlichen Tun wird, weil es ganzheitliche Folgen hat.“ (3)

Den universellen Charakter der Natur beschreibt Wetzel sehr anschaulich über den Zusammenhang von Natur und Gesellschaft. Dabei führt er auch den Begriff der Umwelt ein: „Die Natur ist für die Gesellschaft und die Gesellschaften und in einem damit für die in der Gesellschaft und in einzelnen Gesellschaften lebenden Menschen (i.) Lebensraum und Umwelt als dieser ganz allgemeine, in der Zeit existierende materielle Aufenthaltsraum, (ii.) Material und Mittel in Gestalt von Stoffen und Kräften, die in den vielfältigsten besonderen Formen direkt oder indirekt zur Befriedigung von Bedürfnissen dienen, (iii.) eine praktisch unübersehbare Fülle individueller ganzheitlicher organischer Systeme, d.s. Flüsse, Seen und Meere, Wälder, Berge und Gebirge, überhaupt eine Einheit bildenden Naturteile wie z.B. quasi-abgeschlossene Landschaften, die pflanzlichen Organismen als Individuen, Arten und Gattungen, schließlich die tierischen Organismen wiederum als Individuen, Arten und Gattungen einschließlich des Menschen in Gestalt seiner organisch-materiellen Grundlage, die noch mal eine Sonderstellung unter den tierischen Organismen wie in der Natur überhaupt inne hat. “ (4)

Wetzel geht also von einem äußerst breiten Ansatz von Natur aus: Der Begriff Natur umfasst auch den Begriff Umwelt im Gegensatz zu anderen Ansätzen, die den Begriff Umwelt als den umfassenderen ansehen. Natur beinhaltet für Wetzel alle Aspekte der materiellen Lebensgrundlage und der Lebensformen selbst. Der Mensch zeichnet sich dabei durch eine Sonderstellung aus, nicht nur im klassischen Sinn einer Sonderstellung unter den tierischen Organismen, sondern vielmehr auch durch die Doppelbindung zur Natur. Er ist Teil der Natur allein durch die Tatsache, dass er ein individuelles, ganzheitliches, organisches System darstellt. Zugleich ist er jedoch auch Teil der Gesellschaft. Wetzel differenziert hierbei klar zwischen Natur und Gesellschaft: „Natur ist der Inbegriff und die Gesamtheit von Materie. Gesellschaft ist der Inbegriff und die Gesamtheit von Kommunikation.“ (5) Der Mensch als Individuum und die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit sind damit zwar eindeutig von der Natur zu unterscheiden, können jedoch nicht vom Naturbezug getrennt werden: „Der Gesellschaft insgesamt wie auch jedem Subjekt im einzelnen ist der Naturbezug von Haus aus, ursprünglich eigen und kann daher nicht einmal theoretisch, sondern allenfalls rein abstrakt in Gedanken, im Sinne einer gänzlich abstrakten Negation, weggedacht werden […].“ (6) Diese Doppelbindung von Mensch und Natur, von Gesellschaft und Natur bildet jenes Spannungsfeld, in dem sämtliche Handlungen der Menschen im Hinblick auf die Natur stattfinden.

Der Mensch kann nämlich der Natur eher passiv oder eher aktiv gegenüber treten, also die Natur als Gegebenes hinnehmen, benutzen und gebrauchen oder als Gegenstand von Eingriff und Umgestaltung betrachten. Die Eingriffe des Menschen in die Natur können also auf unterschiedliche Art und Weise erfolgen, je nach dem, auf welcher Einstellung das praktische Verhalten beruht: Die stückwerksartige Einstellung betrachtet die Natur als ein unbegrenzt zur Verfügung stehendes Reservoir an Lebensräumen und Umwelt, an Materialien und Mitteln und an organischen Systemen. Die ökologisch orientierte Einstellung geht hingegen davon aus, dass die Natur nicht unbegrenzt zur Verfügung steht, sondern Kreisläufen und Gesetzmäßigkeiten der Selbstregulation und Selbsterhaltung unterliegt. Die integrativ-teleologische Einstellung geht noch einen Schritt weiter und betrachtet die Natur als ein System von Zwecken, das auch die Gesellschaft umfasst, sodass ihre Zerstörung zugleich eine Zerstörung von Gesellschaft und Mensch nach sich zieht. (7)

Technik spielt dabei eine wesentliche Rolle: „Allen Formen der Technik […] ist eines gemeinsam: Sie befinden sich im Überschneidungs-, Durchdringungs- und Verflechtungsbereich von Natur und Gesellschaft […]. Die Verfahren und Gerätschaften, die Anlagen und die Produkte der Technik sind buchstäblich die Gravur der Gesellschaft in die Natur […].“ (8) Insbesondere die Formulierung „Gravur der Gesellschaft in die Natur“ zeigt, dass für Wetzel der Zusammenhang von Mensch und Natur eher negativ konnotiert ist in Form einer Naturaneignung und Ausübung von Macht über die Natur.

Technik wird als Gesamtheit und Inbegriff aller gesellschaftlich vermittelten Naturaneignungen und Naturgestaltungen verstanden, wobei Wetzel drei Möglichkeiten unterscheidet: symbolische Form der Technik (Aneignung von Natur unter Beibehaltung ihrer Beschaffenheit), klassische Form der Technik (Aneignung und Gestaltung der Natur durch Umwandlung von Naturelementen) sowie vermeintlich autonome Form der Technik (gekennzeichnet durch die Glaubenshaltungen, dass es keine Grenzen der Machbarkeit gibt und dass der Mensch nahezu vollständig und in jeder Hinsicht ersetzbar ist). (9) Nach Wetzel ist mit der (vermeintlich) autonomen Form der Technik nunmehr ein Wendepunkt erreicht, an dem ihre Auflösung beginnt. Es bedarf einer kritischen Selbstreflexion von Naturwissenschaft und Technik, eines selbstreflexiv-kritischen Hinausgehens über die Methoden und ihre Anwendung in Natur und Gesellschaft.

Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass für Wetzel die Natur in ihrer Gesamtheit schützenswert ist, also jene Natur, die für die einzelnen Menschen ebenso wie für die Gesellschaft

  • Lebensraum und Umwelt,
  • Material und Mittel in Form von Stoffen und Kräften, die der Befriedigung von Bedürfnissen dienen,
  • ebenso wie eine unübersehbare Fülle individueller ganzheitlicher organischer Systeme, d.s. Flüsse, Seen und Meere, Wälder, Berge und Gebirge ebenso wie pflanzliche und tierische Organismen, zu denen auch der Mensch zählt, darstellt.

Interessant erscheint die Tatsache, dass Wetzel kaum auf ästhetische Aspekte eingeht. Lediglich an einer Stelle verweist er auf unterschiedliche Formen der Erschließung und Erfahrung von Natur und die dahinter stehenden Absichten, die praktisch-ökonomisch, erkennend-theoretisch oder ästhetisch sein können. (10)


Womit kann die Schützenswürdigkeit der Umwelt begründet werden?

Manfred Wetzel betrachtet in seinem Werk Praktisch-politische Philosophie, Band 2: Natur und Gesellschaft die Natur in ihrer Gesamtheit als schützenswert, wobei er diese Schützenswürdigkeit in mehrfacher Hinsicht begründet.

Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet die Tatsache der Naturbeschädigung und Naturzerstörung: „[…] die Beschädigung und Zerstörung der Natur [hat] qualitativ einen Charakter und quantitativ ein Ausmaß angenommen, daß die Fortexistenz der Natur als Lebensraum, als Lebensmittel und als entwickelte Mannigfaltigkeit organischer Systeme prinzipiell in Frage gestellt ist.“ (11) Damit ist für Wetzel auch ein erstes zentrales Argument für die Schützenswürdigkeit der Natur verbunden: Ohne Natur kann der Mensch nicht existieren. Sie ist unabdingbare Lebensgrundlage der gesamten Menschheit, da sie Lebensraum und Umwelt, Material und Mittel in Form von Stoffen und Kräften, die der Befriedigung von Bedürfnissen dienen, und zugleich eine Fülle individueller ganzheitlicher organischer Systeme, d.s. Flüsse, Seen und Meere, Wälder, Berge und Gebirge ebenso wie pflanzliche und tierische Organismen, zu denen auch der Mensch zählt, darstellt. Dadurch dass der Mensch aber selbst ein individuelles ganzheitliches organisches System ist, ist auch er selbst gefährdet, wenn die Natur beschädigt oder gar zerstört wird. Es geht also nicht nur um die Natur als Lebensgrundlage der Menschheit, sondern auch um die Existenz der Menschheit selbst.

Wetzel verknüpft Natur und Gesellschaft nicht nur auf der Ebene der Materie, sondern auch auf der Ebene der Anschauungen: „Die Natur ist das Andere der Gesellschaft, aber die Gesellschaft ist in ihrem Anderen bei sich selbst.“ (12). In allen Lebensbereichen – Nahrung, Kleidung, Baulichkeiten, Energie, Werkzeuge, Mobilität – bedarf die Gesellschaft der Natur als dem Anderen ihrer selbst. Das (menschliche) Subjekt ist also durch sein In-der-Welt-sein in Form eines In-der-Natur- und In-der-Gesellschaft-seins der Schnittpunkt von Natur und Gesellschaft. Dieses Verhältnis von Natur und Gesellschaft kann „als das Bei-sich-selbst-sein der Gesellschaft in der Natur als dem Anderen ihrer selbst im allgemeinen und als die Gravur der Gesellschaft in der Natur, mithin als die Technik im besonderen“ (13) gefasst werden. Auch auf der Ebene der Anschauungen bilden also Natur und Gesellschaft eine Einheit, wobei die Gesellschaft von der Natur abhängig ist und nicht umgekehrt.

Wetzel führt auch ökonomische Argumente an: Jede aktive Zerstörung der Natur oder auch jede Inkaufnahme einer Zerstörung kann auf betriebswirtschaftlicher Ebene zu Gewinnen führen, auf volkswirtschaftlicher Ebene jedoch ist sie mit hohen Kosten verbunden, die in Summe die Einzelgewinne deutlich überschreiten. Die Natur muss nach Wetzel daher als ökonomisches Gut betrachtet werden: „Die Natur ist auch ein ökonomisches Gut und sie kann nur – wenn überhaupt – noch erhalten resp. regeneriert werden, wenn sie als ökonomisches Gut im Ge-und Verbrauch ihren kostenträchtigen, sachangemessenen, sozial ausdifferenzierten und belohnungs-/bestrafungsdefiniten Preis hat.“ (14)

Die gegenwärtige Ökonomie steht diesem Ansatz allerdings diametral entgegen. Sie kann anhand von vier Maximen beschrieben werden: Minimax-Prinzip der Nutzung (maximale wirtschaftliche Nutzung bei minimaler Zerstörung), nutzungsgerechte Anwendung des Verursacher-Prinzips (zu zahlen haben jene, die aus einem Eingriffsverzicht einen Nutzen ziehen, an jene, die aus einem Eingriffsverzicht einen wirtschaftlichen Schaden erleiden), optimaler Verschmutzungsgrad (zulässige Verschmutzung der Natur bis zur Grenzverschmutzung) und Schonung und Erhaltung im Rahmen und nach Maßgabe des wirtschaftlich Vertretbaren (keine Schonung, die auf Dauer kostspieliger ist als Nutzung). (15) Doch es sind nach Wetzel gerade diese vier Maximen, die zu gewaltigen Naturschädigungen mit enormen volkswirtschaftlichen Folgekosten geführt haben: Dem Argument, dass Natur- und Umweltschutz immer Kosten verursacht, die nur bei entsprechender wirtschaftlicher Leistung eines Landes gedeckt werden können, begegnet er mit dem Hinweis, dass gerade unterlassener Natur- und Umweltschutz der teuerste Schutz für Natur, Umwelt und Gesellschaft ist.

Wetzel begründet die Schützenswürdigkeit der Natur letztlich auch über eine moralphilosophisch-ethische Linie, auf der er seine ökologisch orientierte Politik aufsetzt. (16) Er unterscheidet dabei moralische Werte und Normen von positiv-rechtlich gesetzten bzw. kulturell-lebensweltlich verankerten. Die moralischen Werten und Normen lassen sich wiederum in drei Gruppen unterteilen, jene, die legitimerweise erzwungen werden können, jene, die eines guten Willens bedürfen, und jene, die auf einer Einbettung in kulturell-lebens¬welt¬liche Verhältnisse basieren. Im Hinblick auf die Verbindlichkeit einer ökologisch orientierten Politik sind für Wetzel die erste und die dritte Gruppe moralischer Werte und Normen relevant. Natur- und Umweltschutz werden demnach über moralische Werte begründet.

Natur- und Umweltschutz, die sauberes Wasser, reine Luft und fruchtbaren Boden sichern sollen, decken dabei (ebenso wie Nahrung, Kleidung oder Wohnung) elementare Bedürfnisse aller Menschen ab. Auf solche elementare Bedürfnisse gibt es nicht nur einen moralischen Anspruch, sondern auch einen Rechtsanspruch der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Wetzel spricht hierbei von Menschheitsrechten, die sich von Menschenrechte dadurch unterscheiden, dass sie kein Individualrecht darstellen, sondern ein Recht der gesamten Gesellschaft.

Derartige Menschheitsrechte können nur auf kollektiver Ebene durchgesetzt werden, denn eine Schädigung von Luft, Wasser und Boden durch einzelne Menschen ist stets zugleich eine Schädigung von Luft, Wasser und Boden als kollektive Güter. Es ist somit Aufgabe des Staates, die Erhaltung von Natur und Umwelt als Menschheitsrecht über rechtliche Normen entsprechend zu verankern.

Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass Wetzel die Schützenswürdigkeit der Natur in mehrfacher Hinsicht begründet:

  • Schutz der Lebensgrundlage des Menschen
  • Schutz der Existenz der Menschheit selbst, da diese Teil der Natur ist
  • Einheit von Natur und Gesellschaft aufgrund des Bei-sich-selbst-seins der Gesellschaft in der Natur als dem Anderen ihrer selbst
  • Verringerung der enormen volkswirtschaftlichen Folgekosten von Naturzerstörung
  • Natur- und Umweltschutz als Menschheitsrecht

Aufbauend auf diesen Argumenten definiert Wetzel Grundsätze einer ökologisch orientierten gesellschaftspolitischen Praxis (17): die Betrachtung der Natur für sich und an sich im Sinne eines „sinnlichen Erscheinens der Idee der Einheit von Gesellschaft und Natur“ (18); die Orientierung der Technik an dieser Praxis der Einheit von Gesellschaft und Natur; die Legitimität des allgemeinen Interesses an der Erhaltung der Natur im Sinne eines Menschheitsrechtes durch Verankerung des Schutzes von Natur und Umwelt als Staatsaufgabe; sowie ein weltumspannender Bewusstseinswandel in Bezug auf das Verhältnis der Gesellschaft zur Natur. Für die konkrete praktische Umsetzung bedarf es dazu Ansätzen auf gesellschaftlicher wie auf individueller Ebene.


Fußnoten:

(1) Manfred Wetzel, Praktisch-politische Philosophie, Bd. 2: Natur und Gesellschaft, (Würzburg, Könighausen & Neumann, 2004), S. 5 (2) Ebd., S. 13 (3) Ebd., S. 5 f. (4) Ebd., S. 65 (5) Ebd., S. 18 (6) Ebd., S. 23 (7) Vgl. ebd., S. 65 f. (8) Ebd., S. 36 (9) Vgl. ebd., S. 52 f. (10) Vgl. ebd., S. 37. (11) Ebd., S. 67 (12) Ebd., S. 45 (13) Ebd., S. 48 (14) Ebd., S. 8 (15) Vgl. ebd., S. 29 f. (16) Vgl. ebd., S. 76 ff. (17) Vgl. ebd., S. 84 f. (18) Ebd., S. 84