„Naturbeherrschung: die größte politische Tragödie der Neuzeit?“

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Dr. Judith Brunner-Popela über einen Text von William Leiss


Welche Umwelt ist schützenswert?

William Leiss spricht in seinem Artikel Naturbeherrschung: die größte politische Tragödie der Neuzeit? ausschließlich von Natur, ohne sie explizit zu definieren. Der Artikel ist jedoch Teil des Buches Kritische Theorie der Technik und der Natur von Gernot Böhme und Alexandra Manzei, die in ihrem Vorwort die Begriffe Natur, Gesellschaft und Technik definieren, indem sie auf den begriffgeschichtlichen Ursprung zurückgehen: „Natur (physis) ist nach dem Sophisten Antiphon und ihm folgend Aristoteles der Bereich des Seienden, das von sich aus da ist und inneren Entwicklungsprinzipien folgt, während Technik (techné) und Gesellschaft (nomos) dasjenige Seiende bezeichnet, das vom Menschen gemacht bzw. gesetzt ist.“ (1) Während ursprünglich diese drei Bereiche scharf voneinander abgegrenzt wurden, zeigt sich nunmehr eine wechselseitige Verflechtung und Abhängigkeit: Heutzutage haben wir es nach Böhme und Manzei mit einer gesellschaftlich konstituierten und technisierten Natur zu tun.

Ausgangspunkt des Artikels von Leiss ist der Verweis auf das Thema der Herrschaft über die Natur im Sinne von Francis Bacon. Dieser entwickelte eine Neue Wissenschaft auf Basis einer praktischen und experimentellen Einstellung zur Welt. Wenn dabei von Macht des Menschen über die Natur gesprochen wird, ist nach Leiss die „Fähigkeit, natürliche Prozesse zu steuern, und zwar systematisch und ohne Einschränkung zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse einschließlich – um es mit Bacons eigenen Worten zu sagen – ‚aller Bewerkstelligungen und möglichen Bewerkstelligungen, angefangen von der Unsterblichkeit (wenn sie möglich wäre) bis hin zu den geringsten mechanischen Verrichtungen’“ (2) gemeint.

Leiss geht es offensichtlich um menschliche Eingriffe in die Natur, die er unter dem Blickwinkel katastrophenträchtiger Risiken analysiert. „Als katastrophenträchtige Risiken definiere ich das Potential eines Schadens für Menschen und andere Wesen von einer Größe, dass der Fortbestand von tierischen Spezies, unsere eigene eingeschlossen, in Frage gestellt ist. Damit handelt es sich nicht nur um Risiken, die die gegenwärtigen Generationen lebender tierischer Spezies betreffen, sondern auch die zukünftigen (vielleicht alle zukünftigen).“ (3). Hieraus wird ersichtlich, dass er vor allem auf den Schutz der tierischen Lebewesen einschließlich der Menschheit abzielt.

Dies kann anhand der von ihm angeführten Beispiele für katastrophenträchtige Risiken anschaulich dargestellt werden: Nach Leiss entstehen vor allem durch die gegenwärtigen Entwicklungen im Bereich der Molekularbiologie katastrophenträchtige Risiken, die im Vergleich zu früheren Risiken völlig neue institutionelle Antworten erforderlich machen, da die Konsequenzen für den Menschen beträchtlich sein können. Mögliche Risiken ergeben sich dabei durch: biotechnisch erzeugte Krankheitserreger, die in Kriegen oder im Terrorismus eingesetzt werden; zufällige bzw. unbeabsichtigte Folgen der Genforschung, etwa durch genetische Manipulation von Viren und Bakterien, die zu gänzlich neuen Organismen führt, die in die Umwelt gelangen; (un)beabsichtigte Folgen genetischer Manipulation an Menschen und anderen Tieren, durch die die existierende Spezies verändert oder eine neue Variante der Spezies geschaffen wird; Manipulation der DNA durch Erweiterung der derzeitigen vier Nukleinsäuren (Adenin, Thymin, Cytosin, Guanin) auf sechs; neue Entwicklungen im Zusammenwirken von Bio- und Nanotechnologie sowie Robotik. (4)

Leiss scheint jedoch auch eine über tierische Organismen hinausgehende Natur als schützenswert zu erachten, wie das Beispiel des nuklearen Winters als katastrophenträchtiges Risiko zeigt. Er verweist nämlich auf die durch einen Einsatz von nuklearen Waffen ausgelöste Umweltkatastrophe, die u.a. zu einer Verringerung der Sonneneinstrahlung führt. Überdies würde es durch die freigesetzte Strahlung zu tief greifenden genetischen Folgen für Pflanzen und Tiere kommen.

Im Zusammenhang mit der Entwicklung der Nanotechnologien in Kombination mit Biotechnologien stellt Leiss durch einen Verweis auf einen Essay von Bill Joy, der sich wiederum auf ein Buch von Eric Drechsler bezieht, sogar auf die Schutzwürdigkeit der gesamten Biosphäre ab: „Eine unmittelbare Folge der Faustischen Wette, die wir eingehen, um die bedeutende Wirkungsmacht der Nanotechnologie zu erhalten, ist, dass wir ein ernstes Risiko eingehen – das Risiko, das [sic!] wir nämlich die Biosphäre, von der alles Leben abhängt, zerstören könnten.“ (5)

Leiss wendet sich offensichtlich klar und deutlich gegen alle Möglichkeiten, die Natur willkürlich zu manipulieren. Insbesondere die Bio-/Gentechnologie ist aus seiner Sicht mit derart hohen Risiken verbunden, dass er den Besitz des Wissens und der technischen Methoden für die Menschheit als zu gefährlich erachtet. Er spricht in diesem Zusammenhang sehr kritisch von der Herrschaft über die Natur: „Das Projekt, das man als Herrschaft über die Natur kennt, scheint ein Spiel mit dem Teufel gewesen zu sein […].“ (6) Leiss strebt eine Balance an, in der die Vorteile neuer Technologien genutzt und die Nachteile bzw. Schäden vermieden werden können.

Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass für Leiss die Natur in ihrer Gesamtheit schützenswert ist, also

  • die Gesamtheit der lebenden organischen Substanzen, Pflanzen, Tiere, Mikroorganismen und nicht zuletzt der Menschen,
  • wobei der Schwerpunkt auf der tierischen Spezies, einschließlich der menschlichen, liegt.

Interessant erscheint die Tatsache, dass Leiss nicht auf ästhetische Aspekte im Hinblick auf Natur eingeht.


Womit kann die Schützenswürdigkeit der Umwelt begründet werden?

William Leiss betrachtet in seinem Artikel Naturbeherrschung: die größte politische Tragödie der Neuzeit? also die Natur in ihrer Gesamtheit als schützenswert, wobei er diese Schützenswürdigkeit in mehrfacher Hinsicht begründet.

Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht die Möglichkeit katastrophenträchtiger Risiken, jener Risiken, die das Potential eines enormen Schadens für Menschen und andere Wesen haben und deren Fortbestand in Frage stellen. Die Natur muss demnach vor Eingriffen der Menschen durch technologische Entwicklungen geschützt werden, um die Existenz der tierischen Spezies einschließlich der Menschheit, aber auch der Biosphäre, zu sichern.

Insbesondere muss die Natur im Hinblick auf ihre Abstufungen des Seins geschützt werden: „Abstufungen im Sein (unorganische und organische Materie, Pflanzen, Insekten, höhere Tiere, Menschen) sind schon immer die Basis des ethischen und religiösen Systems der Menschheit gewesen und sind es noch. Insbesondere ist Selbstbewusstsein als das schlechthin essentielle Unterscheidungskriterium für menschliche Existenz angesehen worden; doch […] gibt es offenbar selbst unter erfahrenen Wissenschaftlern eine Neigung, mit der Durchkreuzung dieser Grade des Seins […] gelegentlich zu experimentieren.“ (7). Er kritisiert Forschungsaktivitäten, durch die Lebewesen konstruiert oder grundlegend verändert werden können, und vergleicht diese Entwicklung sogar mit Mary Shelleys berühmten Roman Frankenstein. Leiss nennt die mit Biotechnologie verbundenen katastrophenträchtigen Risiken moralische Risiken: „Wir haben es mit einem moralischen Risiko zu tun, wenn wir bestimmte Handlungsmöglichkeiten ins Auge fassen. Ziele, die durch wissenschaftliche Manipulation der Natur realisiert werden könnten, und zwar von der Art, dass sie die Ordnung des Seins so, wie sie der Mensch bisher erfahren hat, ändern.“ (8)

Leiss wendet sich offensichtlich strikt gegen wissenschaftliche Forschungen, die willkürlich bestehende Spezies verändert oder neue schafft, ohne die damit verbundenen Risiken zu kennen, geschweige denn in Grenzen halten zu können. Er geht von einer natürlichen Ordnung des Seins aus, die vom Menschen gottähnlich geändert wird. Die vormodernen Beziehungen zwischen Mensch und Natur seien bestimmt gewesen durch werthaltige Kategorien des Seins, und es ist für Leiss eine moralische Frage, diese Grade des Seins unangetastet zu lassen.

Eine weitere Begründung für den Schutz der Natur besteht für Leiss in der fehlenden Kontrolle und Steuerung des wissenschaftlichen Fortschritts. Mit den neuen technologischen Möglichkeiten wurde ein „Fortschritt ohne natürliche Grenzen mit der Tendenz einer unendlichen Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten des Menschen in der Welt“ (9) eingeleitet. Das Problem besteht nach Leiss darin, dass dieser Fortschritt auf technologischer Ebene nicht mit einem entsprechenden Fortschritt auf sozialer Ebene einhergeht. Leiss bezweifelt, dass sich die sozialen Institutionen bereits so weit entwickelt haben, dass sie den neuen Machtmöglichkeiten gewachsen sind: „Es gibt eine große und stetig wachsende Kluft zwischen der bleibenden Mangelhaftigkeit der menschlichen Handlungsinstanz […], die mit den tiefen und religiösen Zerrissenheiten der Menschheit mitgegeben sind, auf der einen Seite und dem ungeheuren Anwachsen der Macht, die der Menschheit durch technische Mittel zur Verfügung steht, auf der anderen. […] Dieser Widerspruch droht, wenn er nicht gelöst wird, die größte politische Tragödie der Neuzeit zu werden.“ (10).

Leiss fordert demnach Schutz-, Kontroll- und Steuerungsmechanismen ein. Es müsse möglich sein, dass Wissen auch abgelehnt oder unterdrückt werden kann, was in Anbetracht der neuzeitlichen Form der Forschungsarbeit (breit verfügbares Wissen, kleine Forschungsgruppen, die weltweit verteilt sind, relativ geringer technischer Aufwand, starke Interessen der Wirtschaft und der Staaten an den Forschungsergebnissen, hohes Tempo der Innovationen usw.) in der Praxis schwierig sein könnte. Umso wichtiger wäre daher eine freiwillige, jedoch umfassende Selbstkontrolle der Wissenschaft. Im Umkehrschluss würde nämlich der Ansatz von Leiss bedeuten, dass bei ausreichender Kontrolle und Steuerung durch die Gesellschaft und die Wissenschaft selbst der Schutz der Natur gewährleistet wäre, sodass einer Weiterentwicklung in Wissenschaft und Forschung nichts entgegensteht. Die einander entgegen stehenden Kräfte – Wissenschaft und Technologie auf der einen Seite und die sozialen Institutionen auf der anderen Seite – müssten wieder in ein produktives und verantwortungsbewusstes Gleichgewicht gebracht werden, sodass die Natur vor unüberlegten und willkürlichen Eingriffen der Menschen geschützt werden kann.

Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass Leiss die Schützenswürdigkeit der Natur in mehrfacher Hinsicht begründet:

  • Schutz der Existenz der tierischen Spezies einschließlich der Menschheit und der Biosphäre
  • Schutz der natürlichen Ordnung des Seins bzw. der Grade des Seins
  • Fehlende bzw. nicht ausreichende gesellschaftliche und wissenschaftliche Kontroll- und Steuerungsmechanismen


Fußnoten:

(1) William Leiss, „Naturbeherrschung: die größte politische Tragödie der Neuzeit?“, in: Gernot Böhme, Alexandra Manzei (Hrsg.), Kritische Theorie der Technik und Natur, (München, Fink, 2003), S. 9 (2) Ebd., S. 135 f. (3) Ebd., S. 138 (4) Vgl. ebd., S. 140 ff. (5) Ebd., S. 143 (6) Ebd., S. 150 (7) Ebd., S. 140 (8) Ebd., S. 140 (9) Ebd., S. 136 (10) Ebd., S. 136 f.