„Naturästhetische Theorien und ihr Bezug auf umweltethische Belange”
Martin Braun über einen Text von Martina Maria Keitsch
Einführung:
Martina Maria Keitsch (geb. 1961 in Offenbach a. M.) ist Dozentin an der NTNU Trondheim. Forschungsschwerpunkte: Industrial Ecology, Umweltphilosophie. Sie versucht einen Überblick zu Theorien über schöne Natur im Hinblick auf eine ökologische Ethik zu geben und diese auszulegen. Zunächst werden Grundlagen und Standpunkte der naturethischen Diskussion dargestellt und nach der Vorstellung einiger naturästhetischer Ansätze und ihrer Bedeutung für die Ethik wendet sich die Autorin zeitgenössischen Konzepten zum Verhältnis der ästhetischen Natur und der ökologischen Ethik zu. Der ausgewählte Textteil bei Keitsch behandelt diese kontemporären Konzepte, wobei hier auf zur Lippe, Böhme, Seel und Næss näher eingegangen wird.
Im behandelten Textabschnitt werden zunächst die Ansätze der vier genannten Autoren vorgestellt und einer Kritik unterzogen.
Am ausführlichsten wird auf zur Lippe eingegangen, der bei seiner Konzeption des Sinnenbewusstseins mit einem Rekurs auf u.a. Paläontologie, Evolutionstheorie, Ökologie und Phänomenologie der Ästhetik anthropologische Prämissen zugrunde legen will und versucht, sie von kulturellen Interpretationen unabhängig zu machen. Das Zentrale Problem der Gegenwart sieht er darin, dass der Mensch der modernen technischen Zivilisation seine leiblichen und seelischen Kräfte vergessen hat. Grund dafür ist ein Wertesystem, das die instrumentelle Vernunft heraushebt und ferner eine Technik und Umweltgestaltung, die auf eine Entlastung der Körpers und der Sinne abzielt. (vgl. KEITSCH 2003, 105)
Künstliche Reize tragen ihr übriges zu einem Abbau differenzierter Wahrnehmungsfähigkeit bei. Neben der Naturbeherrschung am Menschen tragen auch wirtschaftliche Instrumentalisierungsstrategien zu einer Entfremdung des Menschen von sich selbst bei.
Die Reduzierung der körperlichen Selbstbestimmung stellt u.a. ein ethisch-ökologisches Problem dar und manifestiert sich als fortschreitende Separierung von anderen Lebewesen der Natur. Hier besteht nach zur Lippe aber auch Potential für eine kritische Analyse der Leiblichkeit in der Suche nach Ergänzungsverhältnissen. (vgl. KEITSCH 2003, 106)
Eine Möglichkeit ist etwa die Auffassung des Körpers als kulturelles und lebensgeschichtliches Medium, also dass mit der Auseinandersetzung des Körpers mit der eigenen Lebensgeschichte auch die Gattungs- und Gesellschaftsgeschichte reflektiert wird.
Durch die Wahrnehmung, die einerseits der Subjektfindung und andererseits auch der Vermittlung des Anderen durch Sinneseindrücke dienen soll, wird vom autonomen Subjekt aus durch eine Interdependenz von Individualität und Interpersonalität eine Verbindung des Einzelnen mit den Zielen der Gemeinschaft ermöglicht, wobei hier auf Gefühle als Bindeglied zum Anderen verwiesen wird. In Lippes „Ethik der Sinnlichkeit“ wird eine individualistische ethische Haltung als Ausgangspunkt für die Gewinnung einer ästhetischen Lebensform betont, iwS. kann ästhetische Erziehung als pädagogisches Mittel zur Übernahme von moralischer und politischer Verantwortung gesehen werden. (vgl. KEITSCH 2003, 107ff.)
Böhmes Konzept besteht im Wesentlichen aus drei programmatischen Schritten:
- Der Philosophie fällt die Aufgabe zu, das Verhältnis des Menschen zur Natur gründlich zu untersuchen
- Gestaltung von neuer Natur muss ins Auge gefasst werden
- Der menschliche Leib liegt im Zentrum des sogenannten Umweltproblems (vgl. KEITSCH 2003, 120)
Zentral sind bei Böhme auch drei Begriffe, die einen Zugang zur ästhetischen Natur symbolisieren.
- Mimesis: Ein Potential der Retrospektive auf die subjektive Beschaffenheit eines Gegenstandes (nicht-manipulative Naturbeziehung).
- Natur als Subjekt: Kommunikative Beziehung zur Natur (sozusagen „das was einen anspricht“).
- Naturallianz: Herrschaftsfreie und nicht-instrumentelle Beziehung zur Natur (das was die Natur begonnen hat wird weitergeführt – aktives Moment) (vgl. KEITSCH 2003, 121ff.)
Bei Seel rückt die Frage nach dem angemessenen Verhältnis des Menschen zur Natur in den Mittelpunkt, wozu er die verschiedenen Wahrnehmungsweisen untersucht und in „Ästhetik der Natur“ drei ästhetische Einstellungen zur Natur vorstellt, die Kontemplation, Korrespondenz und Imagination.
- Kontemplation bedeutet ein Versunkensein in die ziellose Betrachtung eines natürlichen Gegenstandes. Interesselosigkeit bietet einen Schutz vor einer physiozentrischen Vereinnahmung der Natur, vorübergehendes Loslassen vom sinnbefrachteten Netz der sozialen Beziehungen und Ermöglichung einer Distanz diesen gegenüber.
- Korrespondenz, d.h. eine gesteigerte Erfahrung der Natur, die wie bei der Kontemplation eine geglückte Veranschaulichung menschlicher Lebensumstände darstellt, Eindrücke dass in ihr halt so oder so gelebt werden kann, d.h. die Möglichkeit verschiedene Vorstellungen des guten Lebens zu artikulieren, eine Art Möglichkeitsraum. Die erste Korrespondenz ist eine mit dem eigenen Leben, während die zweite als Gegenentwurf zu den eigenen Absichten gesehen wird (zwischen Orientierungsfreiheit und phänomenaler Welt)
- Imagination: Vermittlung von Natur und Kunst durch die Einbildungskraft. Durch die Autonomie der ästhetischen imaginativen Wahrnehmung kann Natur als Kunst erscheinen. (vgl. KEITSCH 2003, 127ff.)
Die drei Kategorien reflektieren die Tatsache, dass Anerkennung der schönen Natur nur im Zustand der menschlichen Trennung von der Natur möglich ist, d.h. ästhetisches Erleben kann man als versuchte Nähe zur Natur sehen. Im ethischen Kontext bedeutet diese Distanz Autonomie, was an Seels Begriff der „freien Natur“ deutlich wird. Durch den Gegensatz der Natur zum vom Menschen geschaffenen, der Nicht-Erzeugbarkeit wird eine Ermöglichung für das ästhetische Erleben gesehen. Dieser Kontrast von Natur und Kultur ist für Seels Freiheitsbegriff bestimmend – aus dem sich der Autonomiebegriff des Menschen ableiten lässt. (vgl. KEITSCH 2003, 135ff.)
Næss versteht die Natur biozentrisch als Gewordenes, das seinen Zweck in sich selbst trägt. Dieser wurde von den Zwecksetzungen der Menschen sozusagen verdrängt und überwältigt. Seine Tiefenökologie will in einer generellen Situationsanalyse grundlegend Werte der Zivilisation auf den Prüfstand stellen und Kritik am Verhältnis Mensch-Natur üben. Næss vertritt eine organizistische und ökokompatibilistische Position. (vgl. KEITSCH 2003, 136)
Welche Umwelt ist schützenswert?
Die genannten Vertreter beziehen sich allesamt auf die natürliche Umwelt, wobei meiner Meinung nach Næss diese Position am radikalsten vertritt und etwaigen Gestaltungsmöglichkeiten am wenigsten Raum lässt, d.h. durch die gleiche Wertigkeit der Natur mit menschlichen Interessen Gestaltungsmöglichkeiten erschwert werden. Auch Seel und zur Lippe vertreten eine eher passive Position gegenüber der Natur und beziehen sich auf die nicht geschaffene Umwelt, die den Menschen durch kontemplative Auseinandersetzung mit dieser zur Reflektion anregen soll und somit eine vermittelnde Wirkung besitzt.
Bei Böhme und seiner Konzeption der Zugänge zu ästhetischer Natur stellt sich ein aktives Moment in Form der Naturallianz zur Verfügung, mittels derer die Möglichkeit gegeben wird, ebenfalls schützenswerte Umwelten zu schaffen (am Beispiel des Englischen Gartens). Atmosphären sind zwar etwas objektiv vorhandenes, aber können in Szene gesetzt werden, es können sozusagen Gefühlsräume gebaut werden. Hier könnte vielleicht versucht werden näher zu bestimmen wo dann die Grenze zwischen nicht-manipulativer (Mimesis), herrschaftsfreier (Naturallianz) und nicht schützenswerter Beziehung zur Natur gezogen wird. Keitsch kritisiert, dass Böhmes Situation-Reiz-Verhältnis deterministische Züge enthielte. Dieser Konzeption könnte auch eine bloße Reaktion auf vorhandene Atmosphären unterstellt werden – was schließlich davon abhängt wie viel Gewicht dem aktiven Moment zugeschrieben wird. Im Endeffekt, so Keitsch, hängt diese Konzeption stark von den gesellschaftlichen Vorstellungen einer Intakten Natur ab, wobei Interpretationen einer intakten, guten und schönen Natur konkurrierende Vorstellungen sind und somit den Anspruch auf Allgemeinheit erschweren, der bei Böhme gestellt wird.
Auch bei Seel, der sich durch marginalästhetische Einflüsse von den anderen Vertretern unterscheiden lässt, also zwar paritätsästhetische Implikationen zulässt, jedoch nach meiner Lesart die Entscheidung mehr beim Subjekt belässt als die anderen Vertreter, d.h. sie nicht als hinreichend oder notwendig expliziert, was in seinen drei Kategorien, die das ästhetische Erleben als versuchte Nähe zur Natur beschreiben zu sehen ist, wobei hier das Eingehen auf dieses Näheverhältnis diese Entscheidungsfreiheit repräsentiert und dem Individuum auch andere Möglichkeiten zur Auseinandersetzung mit Natur gelassen werden als ästhetische, lässt sich trotz dieser Position eine gewisse Schützenswürdigkeit begründen, auf die ich im zweiten Teil des Essays näher eingehen möchte.
Womit kann die Schützenswürdigkeit der Umwelt begründet werden?
Vom Standpunkt einer ästhetischen ökologischen Ethik sind nach Früchtl fünf Kategorisierungen denkbar: Die antiästhetische Ethik und als Unterkategorien der partialästhetischen Ethik die fundamentalästhetische, die marginalästhetische, die paritätsästhetische und die perfektionsästhetische Ethik.
KEITSCH beschreibt die vier vorgestellten Vertreter mittels dreier Mischformen. Demnach vertreten Næss und Böhme paritäts-perfektionsästhetische, Seel paritäts-marginalästhetische und zur Lippe fundamental-perfektionsästhetische Positionen[1].
Ferner bietet sich eine Unterscheidung an, die nach der Reichweite der Umweltverantwortung unterscheidet, also etwa die Abgrenzung des Umweltbegriffs nach anthropozentrischen und physiozentrischen (egalitären oder abgestuften) Positionen. Zu letzteren gehören pathozentrische, biozentrische, ökozentrische und holistische Positionen und generellen ethischen Ansätzen etwa teleologische und deontologische. (vgl. etwa ESER, POTTHAST, S.43f.), wobei die hier behandelten Vertreter bis auf Næss ihre ästhetischen Naturethikkonzepte aus anthropozentrischer Perspektive begründen. Umfassendere Sichtweisen als der Anthropozentrismus in der Ethik würden wahrscheinlich früher oder später zu massiven argumentativen Problemen führen und ein Argument für den Anthropozentrismus ist, dass wir als Menschen Schwierigkeiten haben werden, Rechte von Lebewesen zu verteidigen die wir nicht sind (hier lässt sich wie bei Nagel[2] argumentieren, dass es uns nicht möglich ist die Erlebnisperspektive anderer Lebewesen zu erschließen).
Gemeinsam ist den behandelten Autoren, dass das Ästhetische und das Moralische die Instrumentalisierung der Lebenswelt in ihre Schranken weisen kann, was sie mit einer Ideologiekritik am Zweckrationalismus verbinden. Das Verhältnis von Ethik und Ästhetik ist hierbei als ein relationales aufzufassen, Naess und Böhme stellen dies aus der paritäts-perfektionsästhetischen Perspektive vor, Seel aus einer paritäts-marginalästhetischen und zur Lippe aus der fundamental-perfektionsästhetischen.
Auch, dass der Schutz der ästhetischen Natur mit der Rücksicht auf sich selbst und andere begründet wird, ist den Autoren gemeinsam – Seel, Böhme und zur Lippe beziehen sich ferner auf die symbolische Bedeutung der Natur – sie bietet Gelegenheit zur Reflexion darüber, wie eine Verfassung des Menschen aussehen könnte, die sich auf moralisches Handeln richtet.
Nach meinem Referat wurde diskutiert, dass bei Seel das ästhetische Erleben als versuchte Nähe zur Natur nicht ausreiche um dir Schützenswürdigkeit der Natur zu begründen. Wie Keitsch bereits angemerkt hat, vertritt Seel eine Position, die dem Individuum die Entscheidung lässt, durch die ästhetische Erfahrung die Nähe zur Natur zu suchen, jedoch denke ich dass sich diese Distanz von der Seel spricht nicht bei einem von anderen Menschen geschaffenen Kunstwerk manifestieren kann. Zwar wird der Imagination im Kunstwerk Raum gegeben, doch ist es nicht jene Art von Kontemplation, jene Interesselosigkeit die das beschriebene Loslassen vom sinnbefrachteten Netz sozialer Beziehungen ermöglicht, da meiner Auffassung nach die Auseinandersetzung mit dem Gemachten/“Künstlichen“ im Gegensatz zum Nicht-Machbaren, Nicht-Erzeugbaren immer schon ein Eingebunden sein in eine soziale Dimension bedeutet, zumindest in Auseinandersetzung mit dem Künstler, auch die Sinnbefrachtetheit ist immer eine begleitende Dimension in der Betrachtung des Kunstwerks, einen Schritt weiter gehend meine ich dass das Kunstwerk in jedem Fall schon etwas reproduziertes ist und Natur zumindest in einigen Fällen diese Ursprünglichkeit zur Kontemplation bietet, die ich bei Seel herauslese, die dann eine Ermöglichung zur Korrespondenz bietet (was nicht bedeutet dass ich jegliche Möglichkeit der Korrespondenz beim Kunstwerk negiere). Somit liegt genau darin (in der genannten Ursprünglichkeit) die Schützenswürdigkeit begründet die ich im reproduzierten als bloße Reproduktion nicht verorten kann, sozusagen eine unvollständige Repräsentation der Möglichkeitsräume der Wahrnehmung, die mir die freie Natur im
Gegensatz zur Bedeutungsdruchdrungenheit der in Kontextualität eingebetteten Kunst ermöglicht wird und genau darin sehe ich die Ermöglichung zu Seels Begriff von der menschlichen Freiheit zu gelangen. Abschließend lässt sich wie Keitsch treffend formuliert sagen, dass schöne Natur eine hinreichende, aber keine notwendige Voraussetzung für eine ökologische Ethik sein kann, aber daraus nicht ohne Weiteres die Verantwortung begründet werden kann, eine bestimmte Natur als Lebensmöglichkeit für andere Menschen zu erhalten. Ästhetische Positionen können zwar Bestandteile von umweltethischen Konzeptionen bilden, aber die Schützenswürdigkeit sehe ich aus Motiven legitimiert die im besten Falle ästhetisch begründet sein können.
Fußnoten:
[1] Hier sei auf Früchtls Kategorisierung verwiesen in: FRÜCHTL, J. (1996): Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. [2] Vgl. Nagel, T (1974): „What is it like to be a bat“, Philosophical Review 4 (Bd. 83), S. 435-450.
Literatur:
INGENSIEP, W.; EUSTERSCHULTE, A. (2002): Philosophie der natürlichen Mitwelt. Würzburg: Königshausen & Neumann. KEITSCH, M. M. (2003): Naturästhethik und ökologische Ethik. Hamburg: Kovac.