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Exzerpte aus '''Wolfgang Fischer: ''Sokrates pädagogisch''. (hrsgg. von Jörg Ruhloff und Christian Schönherr). Würzburg 2004. S. 96ff'''
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== Elenchos Charmides ==
 
== Elenchos Charmides ==
  
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Sokrates hakt sogleich ein und schlägt vor, gemeinsam zu betrachten, ob an der von Charmides geäußerten konventionell üblichen, verbreiteten Auffassung etwas Haltbares ist. Zuvor jedoch vergewissert er sich, daß sie beide – Sokrates und Charmides – doch wohl darin übereinstimmen, daß die Sophrosyne etwas Schönes ist – und ,‚schön`, griechisch kalós, ist nicht bloß ein ästhetisches Prä­dikat, sondern auch ein ethisches mit einem Bedeutungsspektrum, das von nützlich, zweckmäßig bis zu edel, anständig, rühmlich reicht. – Es gibt seitens Char­mides keinen Einwand, die Besonnenheit nicht für etwas Schönes zu halten: Man hat also en passant eine basale Prämisse oder Voraussetzung gesetzt bzw. akzep­tiert: Besonnenheit ist etwas Schönes.
 
Sokrates hakt sogleich ein und schlägt vor, gemeinsam zu betrachten, ob an der von Charmides geäußerten konventionell üblichen, verbreiteten Auffassung etwas Haltbares ist. Zuvor jedoch vergewissert er sich, daß sie beide – Sokrates und Charmides – doch wohl darin übereinstimmen, daß die Sophrosyne etwas Schönes ist – und ,‚schön`, griechisch kalós, ist nicht bloß ein ästhetisches Prä­dikat, sondern auch ein ethisches mit einem Bedeutungsspektrum, das von nützlich, zweckmäßig bis zu edel, anständig, rühmlich reicht. – Es gibt seitens Char­mides keinen Einwand, die Besonnenheit nicht für etwas Schönes zu halten: Man hat also en passant eine basale Prämisse oder Voraussetzung gesetzt bzw. akzep­tiert: Besonnenheit ist etwas Schönes.
  
Dieser Einlassung begegnete Sokrates mit ca. einem Dutzend ziemlich bana­ler, redundanter Rückfragen, die allesamt darauf hinausliefen, daß sowohl was die körperlichen als auch was die geistigen Tätigkeiten anbelangt das, was aus der Schnelligkeit und Behendigkeit heraus geschieht, schöner zu sein scheint als all das, was langsam und gemächlich betrieben wird. Kein „normaler”, einigermaßen bei Verstande seiender Mensch, dem pflichtet Charmides bei, wird z. B. den, der beim Lernen schwer und langsam von Begriff ist oder der im sportlichen Wettlauf gemächlich dahintreibt oder der bei irgendwelchen Beratungen nur mühselig und
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Dieser Einlassung begegnete Sokrates mit ca. einem Dutzend ziemlich bana­ler, redundanter Rückfragen, die allesamt darauf hinausliefen, daß sowohl was die körperlichen als auch was die geistigen Tätigkeiten anbelangt das, was aus der Schnelligkeit und Behendigkeit heraus geschieht, schöner zu sein scheint als all das, was langsam und gemächlich betrieben wird. Kein „normaler”, einigermaßen bei Verstande seiender Mensch, dem pflichtet Charmides bei, wird z. B. den, der beim Lernen schwer und langsam von Begriff ist oder der im sportlichen Wettlauf gemächlich dahintreibt oder der bei irgendwelchen Beratungen nur mühselig und zeitaufwendig etwas Wichtiges erfaßt, eher loben als den, der all dieses zügig und schnell verrichtet. Da Sokrates und Charmides jedoch überein gekommen waren, daß die Besonnenheit sozusagen grundsätzlich etwas Schönes sei, so wie auch wir noch immer geneigt sein dürften, die Besonnenheit positiv zu würdigen, kann die These, sie sei so etwas wie Ruhe nicht stimmen; denn das Ruhige und Bedächtige hat sich ja gerade in vielen Fällen nicht als schön, als klon gezeigt.
zeitaufwendig etwas Wichtiges erfaßt, eher loben als den, der all dieses zügig und
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schnell verrichtet. Da Sokrates und Charmides jedoch überein gekommen waren,
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Nun kommt Sokrates zur Sache und deckt den in die Rolle eines Echos gedrängten Jungen mit einer Kanonade von Fragen ein, deren Antworten Sokrates auch gleich selber hätte liefern können. Ich führe eine Auswahl dieser Fragenredundanz – insgesamt sind es deren elf oder zwölf – vor; alle beziehen sich auf die These des Charmides, daß die Besonnenheit eine gewisse Geruhsamkeit oder Gemächlichkeit sei.
daß die Besonnenheit sozusagen grundsätzlich etwas Schönes sei, so wie auch wir
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noch immer geneigt sein dürften, die Besonnenheit positiv zu würdigen, kann die
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These, sie sei so etwas wie Ruhe nicht stimmen; denn das Ruhige und Bedächtige hat sich ja gerade in vielen Fällen nicht als schön, als klon gezeigt.
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Nun kommt Sokrates zur Sache und deckt den in die Rolle eines Echos ge-
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„Es hat also den Anschein, Charmides, daß überhaupt alles, sowohl was die Seele als auch was den Körper betrifft, schöner ist, wenn es aus der Schnelligkeit und Zügigkeit hervorgeht als aus der Bedächtigkeit und Langsamkeit?”
drängten Jungen mit einer Kanonade von Fragen ein, deren Antworten Sokrates
 
auch gleich selber hätte liefern können. Ich führe eine Auswahl dieser Fragenre-
 
dundanz – insgesamt sind es deren elf oder zwölf – vor; alle beziehen sich auf die These des Charmides, daß die Besonnenheit eine gewisse Geruhsamkeit oder sei.
 
Gemächlichkeit sei. Sokrates fragt:
 
„Was nun ist besser, wenn man beim Elementarlehrer die gleichen Buchstaben
 
rasch oder wenn man sie langsam schreibt?” – „Rasch.” „Und wie steht es mit dem Lesen? (Was ist da besser:) Schnell oder langsam?” –
 
„(Ebenfalls) schnell.
 
„Und auch beim Wettlaufen, beim Weitsprung und bei allen körperlichen 06un-
 
gen ist doch wohl das, was gewandt und schnell geschieht, schön, was jedoch müh-
 
sam und ruhig, häßlich?” – „Offensichtlich.”
 
„Und einen anderen zu belehren, ist doch viel schöner, wenn es rasch und zügig als
 
wenn es gemächlich und langsam erfolgt?” – „Ja.”
 
„Und was ist schöner: Wenn man sich langsam und bedächtig an etwas erinnert
 
und auf etwas besinnt, oder wenn das unverzüglich und schnell geschieht?” –
 
„»Unverzüglich und schnell.”
 
„Und die Geistesgegenwart ist doch eine gewisse Behendigkeit und nicht eine
 
Bedächtigkeit der Seele?” – „Das ist wahr.” Sc, „Und wenn die Seele über etwas Nachforschungen anstellt oder wenn man berat‑
 
schlagt, da scheint doch, meine ich, nicht der das Lob zu verdienen, der am lang-
 
samsten ist und nur mühsam einen Entschluß faßt oder etwas herausfindet, son-
 
dern der andere, der solches am leichtesten und am schnellsten tut?” – „So ist es.”
 
Endlich zieht Sokrates ein Fazit.
 
  
„Es hat also den Anschein, Charmides, daß überhaupt alles, sowohl was die Seele
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Charmides, wohl ziemlich überrascht, aber – so scheint es – nicht am Boden zer­stört, stimmt Sokrates' Schlußfolgerungen über den Vorzug des Schnellen zu. Seine Meinung, Besonnenheit könne als eine gewisse Gemächlichkeit (oder Ge­ruhsamkeit) allen Handelns begriffen oder erläutert werden, ist ihm unter der Generalprämisse, sie sei etwas schlechterdings Schönes, mithin den Menschen Auszeichnendes und für ihn Erstrebenswertes, als unhaltbar demonstriert wor­den – auch wenn Sokrates die Einschränkung nachträglich macht, daß in man­chen Fällen dem Handeln die Bedächtigkeit durchaus besser ansteht als ein for­ciertes Tempo. Das ändert logisch nichts daran, daß Charmides alles Handeln umfassender Satz gescheitert ist: Seine Zustimmung, daß beispielsweise ein ge­ruh- und mühsames Sich-Erinnern oder ein Nicht-vom-Flecke-Kommen beim Lesen weniger schön ist als ein müheloses und schnelles, widerspricht dem, daß das angegebene Ruhige der Besonnenheit etwas Schönes sei: Die Besonnenheit qua Bedächtigkeit wäre zwar manchmal schön, manchmal jedoch häßlich, jedenfalls nicht durchwegs schön, wie unterstellt.‑
als auch was den Körper betrifft, schöner ist, wenn es aus der Schnelligkeit und Sokt
 
Zügigkeit hervorgeht als aus der Bedächtigkeit und Langsamkeit?”
 
  
Charmides, wohl ziemlich überrascht, aber – so scheint es – nicht am Boden zer­stört, stimmt Sokrates' Schlußfolgerungen über den Vorzug des Schnellen zu. Seine Meinung, Besonnenheit könne als eine gewisse Gemächlichkeit (oder Ge­ruhsamkeit) allen Handelns begriffen oder erläutert werden, ist ihm unter der Generalprämisse, sie sei etwas schlechterdings Schönes, mithin den Menschen Auszeichnendes und für ihn Erstrebenswertes, als unhaltbar demonstriert wor­den – auch wenn Sokrates die Einschränkung nachträglich macht, daß in man­chen Fällen dem Handeln die Bedächtigkeit durchaus besser ansteht als ein for­ciertes Tempo. Das ändert logisch nichts daran, daß Charmides alles Handeln umfassender Satz gescheitert ist: Seine Zustimmung, daß beispielsweise ein ge­ruh- und mühsames Sich-Erinnern oder ein Nicht-vom-Flecke-Kommen beim Lesen weniger schön ist als ein müheloses und schnelles, widerspricht dem, daß das angegebene Ruhige der Besonnenheit etwas Schönes sei: Die Besonnenheit qua Bedächtigkeit wäre zwar manchmal schön, manchmal jedoch häßlich, jeden-falls nicht durchwegs schön, wie unterstellt.‑
 
 
Sokrates geht nun nicht etwa darauf ein, mit Charmides eine differenzierte oder angemessenere Aussage über die Besonnenheit herauszuarbeiten, so wie er auch nicht vor seiner Prüfung und Widerlegung den Jungen aufgefordert hatte, er möge ihm – erstens – erklären, was das exakt bedeute, daß in seinen Augen die Besonnenheit eine Art bzw. eine gewisse Geruhsamkeit sei, und – zweitens –, ob seine These oder „Definition” die Wörter Besonnenheit und Ruhigkeit äquivalent im Sinne von austauschbar gebrauche oder ob die hervorgehobene Ruhe nur ein wichtiges, aber untergeordnetes Moment der Besonnenheit sei; denn das Wört­chen „ist” kann grammatisch Identität bzw. Aquivalenz anzeigen (2 x 2 = 4) oder auch ein (Klassen-)Subordinationsverhältnis wie in dem Satz: „Der Löwe ist ein Raubtier” oder auch eine qualitativ unbestimmte, prädikatzuordnende Konjunk­tion wie in dem Urteil: „Das Wetter ist regnerisch”, oder „X ist gestorben” usw. Das alles scheint Sokrates nicht zu interessieren, und so fordert er Charmides auf, eine bessere, überlegtere Antwort zu geben: „Noch einmal also, Charmides, und streng den Verstand etwas mehr an, schau auf dich selbst und überlege dir, wozu dich die Besonnenheit macht und wie beschaffen sie wohl sein muß, wenn sie dich (besonnen) macht, und dann sage, das alles zusammennehmend, frank und frei heraus, was sie dir zu sein scheint.” Nach einigem Nachdenken gibt Charmides eine zweite These ab: „Also ich glaube, die Besonnenheit bewirkt, daß der Mensch scheu ist und bescheiden. Besonnenheit ist (mithin) (ein Empfinden) der Scheu.” (160 E) Das klingt in unseren Ohren, aus dem Munde eines ca. 16jäh­rigen, ebenso befremdlich wie leicht blasiert bis lächerlich, war es aber wohl damals nicht, wenn man bedenkt, daß die erwähnte Scheu oder Zurückhaltung als Gegensatz zur Hybris traditionell der Sophrosyne zukam. Charmides rekurriert diesmal also auf eine traditionsgeprägte Bestimmung – wie wenn heute jemand beispielsweise die Toleranz gemäß ihrer liberalen Auffassung in der „Aufklärung” als Duldung jedweder religiöser oder weltanschaulicher Doktrin erläutern würde.
 
Sokrates geht nun nicht etwa darauf ein, mit Charmides eine differenzierte oder angemessenere Aussage über die Besonnenheit herauszuarbeiten, so wie er auch nicht vor seiner Prüfung und Widerlegung den Jungen aufgefordert hatte, er möge ihm – erstens – erklären, was das exakt bedeute, daß in seinen Augen die Besonnenheit eine Art bzw. eine gewisse Geruhsamkeit sei, und – zweitens –, ob seine These oder „Definition” die Wörter Besonnenheit und Ruhigkeit äquivalent im Sinne von austauschbar gebrauche oder ob die hervorgehobene Ruhe nur ein wichtiges, aber untergeordnetes Moment der Besonnenheit sei; denn das Wört­chen „ist” kann grammatisch Identität bzw. Aquivalenz anzeigen (2 x 2 = 4) oder auch ein (Klassen-)Subordinationsverhältnis wie in dem Satz: „Der Löwe ist ein Raubtier” oder auch eine qualitativ unbestimmte, prädikatzuordnende Konjunk­tion wie in dem Urteil: „Das Wetter ist regnerisch”, oder „X ist gestorben” usw. Das alles scheint Sokrates nicht zu interessieren, und so fordert er Charmides auf, eine bessere, überlegtere Antwort zu geben: „Noch einmal also, Charmides, und streng den Verstand etwas mehr an, schau auf dich selbst und überlege dir, wozu dich die Besonnenheit macht und wie beschaffen sie wohl sein muß, wenn sie dich (besonnen) macht, und dann sage, das alles zusammennehmend, frank und frei heraus, was sie dir zu sein scheint.” Nach einigem Nachdenken gibt Charmides eine zweite These ab: „Also ich glaube, die Besonnenheit bewirkt, daß der Mensch scheu ist und bescheiden. Besonnenheit ist (mithin) (ein Empfinden) der Scheu.” (160 E) Das klingt in unseren Ohren, aus dem Munde eines ca. 16jäh­rigen, ebenso befremdlich wie leicht blasiert bis lächerlich, war es aber wohl damals nicht, wenn man bedenkt, daß die erwähnte Scheu oder Zurückhaltung als Gegensatz zur Hybris traditionell der Sophrosyne zukam. Charmides rekurriert diesmal also auf eine traditionsgeprägte Bestimmung – wie wenn heute jemand beispielsweise die Toleranz gemäß ihrer liberalen Auffassung in der „Aufklärung” als Duldung jedweder religiöser oder weltanschaulicher Doktrin erläutern würde.
  

Version vom 4. Dezember 2007, 13:41 Uhr

Exzerpte aus Wolfgang Fischer: Sokrates pädagogisch. (hrsgg. von Jörg Ruhloff und Christian Schönherr). Würzburg 2004. S. 96ff

Elenchos Charmides

Die Rahmenhandlung, ein literarisches Kabinettstück Platons ist in verkürzter, alle platonischen Tiefsinnigkeiten auslassender Form schnell erzählt. Sokrates ist gerade wohlbehalten aus dem Kriegslager von Potideia nach Athen zurückge­kehrt, — der Dialog spielt also im Jahre 429 —, und flugs macht er sich auf, Leute an den üblichen Orten, wo sich jung und alt zu begegnen pflegen, zu treffen, also in den Palästren, das sind gewissermaßen die Sportanlagen der Gymnasien. Man kommt ins Reden, und bald schon erkundigt sich Sokrates, ob es unter den inzwischen Herangewachsenen ein paar gebe, die durch Klugheit oder Schönheit oder (am liebsten) durch beides hervorstächen. Kurz und gut: einer wird ihm besonders empfohlen. Es ist Charmides, ein vielleicht 16jähriger Junge aus bestem Hause, wenn man Platons fast immer unakkurate chronologische Hinweise — danach müßte Charmides 18 sein — außer acht läßt.

Alsbald betritt Charmides die Szene, umgeben von einem Schwarm von jun­gen Liebhabern, die ihn wie ein Götterbild anstarren. Auch Sokrates kann sich der faszinierenden Wohlgestalt des Knaben nicht entziehen, möchte jedoch gern erfahren, ob dieser auch „in seiner Seele” gut geraten ist. Das bestätigt ihm der anwesende Vetter und Vormund des Charmides, das ist jener Kritias, der später das Haupt der 30 Tyrannen werden sollte, die 403 ihr Schreckensregime in Athen errichtet hatten. Er sagt, daß der Junge ein „philosophos”, also ein nach Wissen Strebender sei, und überdies ein beachtliches dichterisches Talent habe. Kritias und Sokrates veranlassen unter einem etwas windigen Vorwand, den ich jetzt übergehe, daß Charmides in den Kreis der Alteren tritt und zwischen beiden Platz nimmt, Sokrates mit einem geradezu unwiderstehlichen Blick anschauend. „In diesem Moment”, so berichtet Sokrates, „warf ich einen Blick unter seinen Umhang [himation]. Da entbrannte ich und war nicht mehr bei mir selbst und kam zu der Überzeugung, daß Kydias” — ein mir unbekannter Mensch — „in Lie­besdingen doch sehr weise war, als er im Gespräch über einen schönen Jungen einem anderen riet: ,Das Hirschkalb soll sich hüten, wenn es dem Löwen begeg­net, daß es ihm nicht zur Beute falle.”` Mit einiger Mühe faßt sich Sokrates wie-der und verheißt Charmides, der gelegentlich an Kopfschmerzen leidet, ihn viel-leicht kurieren zu können, wobei davon auszugehen sei, daß man körperliche Gebrechen nicht abwenden könne, ohne vorher die Seele zu behandeln.

Damit ist Sokrates bei seinem Pragma gelandet, und zum Einstieg in das Gespräch mit Charmides greift er auf, daß Kritias lachend erwähnt hatte, Char­mides zeichne sich nicht bloß in seinem Außeren vor allen Altersgenossen aus, sondern auch dadurch, daß er der bei weitem besonnenste von allen sei (157 D). Besonnenheit – eine etwas schwache Übersetzung von griechisch Sophrosyne – galt in Griechenland als eine der ursprünglich mythisch-religiös fundierten vier .Kardinal"-Tugenden (neben Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Tapferkeit). Sie um-schreibt ungefähr, daß jemandes Denken, Trachten und Handeln, nicht über die Stränge (seiner Möglichkeiten und des Sich-Geziemenden) schlagen, nicht zu hoch hinaus führen, also nicht maßlos werden darf, was an ihrem Gegensatz recht deutlich wird: Der Unbesonnene ist hybrid und ohne Scheu, er respektiert keine Grenzen, die ihm von Natur und Gesetz gezogen sind. – Allmählich, d. h. im Laufe der Zeit, büßte die Sophrosyne (und die anderen Tugenden gleichfalls) ihr mythisches Fundament, ihre fraglos bestimmende Bestimmtheit dem Inhalte nach ein: Sie wurde zu einer substanzlabilen, in Erosion befindlichen sozialen Konvention, geriet – vor allem durch die Sophisten – gegen Ende des 5. Jahr­hunderts in den Strudel der Um- und Abwertung, und für einige wurde sie gar gleichbedeutend mit „Unmännlichkeit”: Eine „Tugend” der Schwachen, die „im Namen des Naturgesetzes überwunden werden muß” (vgl. B. Witte).

Man sollte diesen Hintergrund des Zerfalls ehemals unproblematischer ver­bindlicher Normen nicht aus den Augen verlieren, wenn Sokrates sich den wegen seiner Besonnenheit gelobten Charmides elenktisch vornimmt. Dieser erklärt sich, selber ein bißchen schwankend, ob er nun besonnen sei oder nicht, einver­standen, gemeinsam mit Sokrates der Sache auf den Grund zu gehen, und ein erster Schritt besteht darin, daß „betrachtet und erwogen” werden müsse – sechs-mal kommen das Wort Skepsis und entsprechende Verbalformen innerhalb von weniger als zehn Zeilen vor (!) (158 E) –, daß also erwogen werden müsse, wel­che Vorstellung er – Charmides – von der Besonnenheit habe; denn ohne eine .Wahrnehmung" und Vorstellung von ihr wäre die Rede von seinem Besonnen-sein nichts als leerer Schall und Rauch, wäre der Gebrauch eines Wortes ohne jede Bedeutung (- so als würde jemand heute von sich sagen, er sei Trallala, weil es Mode ist und sich gerade gut macht, Trallala zu sein). „Was behauptest du (also)”, fragt Sokrates, „was deiner Meinung nach die Besonnenheit ist?” (159 A fin.)

Charmides „zögerte erst ein wenig und wollte mit einer Antwort nicht so recht herausrücken. Dann aber sagte er, die Besonnenheit scheine ihm dies zu sein, alles sittsam-geordnet und ruhig zu tun, sowohl wenn man auf der Straße geht als auch, wenn man sich unterhält, und so auch bei allen anderen Verrich­tungen. Es scheint mir, sagte er, das, wonach du fragst, zusammengefaßt eine Art von Gemächlichkeit (oder Ruhe) zu sein.” [hesychiötes]

Sokrates hakt sogleich ein und schlägt vor, gemeinsam zu betrachten, ob an der von Charmides geäußerten konventionell üblichen, verbreiteten Auffassung etwas Haltbares ist. Zuvor jedoch vergewissert er sich, daß sie beide – Sokrates und Charmides – doch wohl darin übereinstimmen, daß die Sophrosyne etwas Schönes ist – und ,‚schön`, griechisch kalós, ist nicht bloß ein ästhetisches Prä­dikat, sondern auch ein ethisches mit einem Bedeutungsspektrum, das von nützlich, zweckmäßig bis zu edel, anständig, rühmlich reicht. – Es gibt seitens Char­mides keinen Einwand, die Besonnenheit nicht für etwas Schönes zu halten: Man hat also en passant eine basale Prämisse oder Voraussetzung gesetzt bzw. akzep­tiert: Besonnenheit ist etwas Schönes.

Dieser Einlassung begegnete Sokrates mit ca. einem Dutzend ziemlich bana­ler, redundanter Rückfragen, die allesamt darauf hinausliefen, daß sowohl was die körperlichen als auch was die geistigen Tätigkeiten anbelangt das, was aus der Schnelligkeit und Behendigkeit heraus geschieht, schöner zu sein scheint als all das, was langsam und gemächlich betrieben wird. Kein „normaler”, einigermaßen bei Verstande seiender Mensch, dem pflichtet Charmides bei, wird z. B. den, der beim Lernen schwer und langsam von Begriff ist oder der im sportlichen Wettlauf gemächlich dahintreibt oder der bei irgendwelchen Beratungen nur mühselig und zeitaufwendig etwas Wichtiges erfaßt, eher loben als den, der all dieses zügig und schnell verrichtet. Da Sokrates und Charmides jedoch überein gekommen waren, daß die Besonnenheit sozusagen grundsätzlich etwas Schönes sei, so wie auch wir noch immer geneigt sein dürften, die Besonnenheit positiv zu würdigen, kann die These, sie sei so etwas wie Ruhe nicht stimmen; denn das Ruhige und Bedächtige hat sich ja gerade in vielen Fällen nicht als schön, als klon gezeigt.

Nun kommt Sokrates zur Sache und deckt den in die Rolle eines Echos gedrängten Jungen mit einer Kanonade von Fragen ein, deren Antworten Sokrates auch gleich selber hätte liefern können. Ich führe eine Auswahl dieser Fragenredundanz – insgesamt sind es deren elf oder zwölf – vor; alle beziehen sich auf die These des Charmides, daß die Besonnenheit eine gewisse Geruhsamkeit oder Gemächlichkeit sei.

...

„Es hat also den Anschein, Charmides, daß überhaupt alles, sowohl was die Seele als auch was den Körper betrifft, schöner ist, wenn es aus der Schnelligkeit und Zügigkeit hervorgeht als aus der Bedächtigkeit und Langsamkeit?”

Charmides, wohl ziemlich überrascht, aber – so scheint es – nicht am Boden zer­stört, stimmt Sokrates' Schlußfolgerungen über den Vorzug des Schnellen zu. Seine Meinung, Besonnenheit könne als eine gewisse Gemächlichkeit (oder Ge­ruhsamkeit) allen Handelns begriffen oder erläutert werden, ist ihm unter der Generalprämisse, sie sei etwas schlechterdings Schönes, mithin den Menschen Auszeichnendes und für ihn Erstrebenswertes, als unhaltbar demonstriert wor­den – auch wenn Sokrates die Einschränkung nachträglich macht, daß in man­chen Fällen dem Handeln die Bedächtigkeit durchaus besser ansteht als ein for­ciertes Tempo. Das ändert logisch nichts daran, daß Charmides alles Handeln umfassender Satz gescheitert ist: Seine Zustimmung, daß beispielsweise ein ge­ruh- und mühsames Sich-Erinnern oder ein Nicht-vom-Flecke-Kommen beim Lesen weniger schön ist als ein müheloses und schnelles, widerspricht dem, daß das angegebene Ruhige der Besonnenheit etwas Schönes sei: Die Besonnenheit qua Bedächtigkeit wäre zwar manchmal schön, manchmal jedoch häßlich, jedenfalls nicht durchwegs schön, wie unterstellt.‑

Sokrates geht nun nicht etwa darauf ein, mit Charmides eine differenzierte oder angemessenere Aussage über die Besonnenheit herauszuarbeiten, so wie er auch nicht vor seiner Prüfung und Widerlegung den Jungen aufgefordert hatte, er möge ihm – erstens – erklären, was das exakt bedeute, daß in seinen Augen die Besonnenheit eine Art bzw. eine gewisse Geruhsamkeit sei, und – zweitens –, ob seine These oder „Definition” die Wörter Besonnenheit und Ruhigkeit äquivalent im Sinne von austauschbar gebrauche oder ob die hervorgehobene Ruhe nur ein wichtiges, aber untergeordnetes Moment der Besonnenheit sei; denn das Wört­chen „ist” kann grammatisch Identität bzw. Aquivalenz anzeigen (2 x 2 = 4) oder auch ein (Klassen-)Subordinationsverhältnis wie in dem Satz: „Der Löwe ist ein Raubtier” oder auch eine qualitativ unbestimmte, prädikatzuordnende Konjunk­tion wie in dem Urteil: „Das Wetter ist regnerisch”, oder „X ist gestorben” usw. Das alles scheint Sokrates nicht zu interessieren, und so fordert er Charmides auf, eine bessere, überlegtere Antwort zu geben: „Noch einmal also, Charmides, und streng den Verstand etwas mehr an, schau auf dich selbst und überlege dir, wozu dich die Besonnenheit macht und wie beschaffen sie wohl sein muß, wenn sie dich (besonnen) macht, und dann sage, das alles zusammennehmend, frank und frei heraus, was sie dir zu sein scheint.” Nach einigem Nachdenken gibt Charmides eine zweite These ab: „Also ich glaube, die Besonnenheit bewirkt, daß der Mensch scheu ist und bescheiden. Besonnenheit ist (mithin) (ein Empfinden) der Scheu.” (160 E) Das klingt in unseren Ohren, aus dem Munde eines ca. 16jäh­rigen, ebenso befremdlich wie leicht blasiert bis lächerlich, war es aber wohl damals nicht, wenn man bedenkt, daß die erwähnte Scheu oder Zurückhaltung als Gegensatz zur Hybris traditionell der Sophrosyne zukam. Charmides rekurriert diesmal also auf eine traditionsgeprägte Bestimmung – wie wenn heute jemand beispielsweise die Toleranz gemäß ihrer liberalen Auffassung in der „Aufklärung” als Duldung jedweder religiöser oder weltanschaulicher Doktrin erläutern würde.

Sokrates geht diesmal beinahe noch aggressiver vor als im ersten Durchgang. Er zitiert – selbst die Tradition aufgreifend – einen Vers aus Homers Odyssee, wonach die Scheu dann nicht gut ist, wenn sie einen darbenden Mann begleitet. Damit hat er den Jungen erneut in einen Widerspruch verwickelt; denn man war unmittelbar nach Charmides' zweiter Behauptung über die Besonnenheit und vor Sokrates' Homerzitierung in einem Zwischengedanken übereingekommen, daß nach wie vor die Besonnenheit als etwas schlechthin Schönes und Gutes und zudem als etwas gelten solle, das den Menschen gut macht. In eine logische Figur übersetzt ist also folgendes passiert. Charmides behauptet (1), Besonnenheit ist gleich Scheu. Sokrates und Charmides setzen voraus (2), Besonnenheit ist etwas Gutes, Schönes. Nun hat Homer recht, wenn er (3) für wenigstens einen Fall, nämlich den des Notleidens, zeigt, Scheu ist nichts Gutes, Schönes; denn das Darben, Notleiden, gar Verhungern ist nichts, was gut und erstrebenswert ge­nannt zu werden verdient. Daraus folgt (4): Besonnenheit ist nicht gleich Scheu — wenn die Besonnenheit etwas universal, schlechthin Gutes, die sie ausmachen-de Scheu aber nicht durchweg, sondern höchstens partial gut (und schön) ist. Das ist m. E. logisch korrekt, aber wiederum fällt auf, daß Sokrates sich weder von Charmides erläutern läßt, was er mit Scheu meint und wie das Wörtchen „ist” zu verstehen sei, noch daß er das Homerzitat als einen problematischen Einwand dem Jungen zum Bedenken aufgibt; denn man könnte auch die Auffassung ver­treten, daß selbst die „Not” nicht rechtfertigt, sich der Scheu zu entledigen, bzw. „daß man nicht einfach dem Leben den größten Wert beimessen soll”, wie Sokra­tes im Dialog Kriton (48 B) selbst formuliert — als einen Gedanken, der zu prü­fen ist. Man gewinnt den Eindruck, Sokrates gehe es gar nicht um eine unvorein­genommene Erörterung der Sache, sondern allein darum, den Gesprächspartner auf die erstbeste sich bietende Manier aufs Kreuz zu legen, d. h. ihm nachzuwei­sen, daß er lauter Unsinn oder herkömmliche, unbedachte Floskeln o. ä. von sich gibt. Und ich kann mir vorstellen, daß sich so manchem Pädagogen der Gegen-wart die Haare ob der Art sträuben, wie Sokrates mit dem Jungen umspringt: Nämlich nicht auf dessen Ansichten, Überzeugungen milde-verstehenserpicht und durch Belehrungen, durch Korrekturen u. ä. förderlich eingehend, sondern ihm ausschließlich das Falsche, Fehlerhafte, Ungereimte seiner Rede um die Ohren schlagend. Aber schon jetzt sollte angesichts solcher Bedenklichkeiten, falls sie sich bestätigen sollten, nicht unbeachtet bleiben, daß vielleicht die mo­derne pädagogische Umgangsweise einer gewissen generellen Nachsicht von der durchaus fragwürdigen (geheimen) Unterstellung abhängen könnte, daß Fal­sches, Ungereimtes, bei gründlichem Nachdenken sich als nicht haltbar Heraus-stellendes bloß der defiziente Modus, also der pädagogisch behebbare Mangel an wahrer Einsicht, an Wissen, an Aufklärung sei — und nicht Symptom einer mög­lichen, unabwendbaren Ünwissenheit, angesichts derer die prävalente intellek­tuelle Schonung des anderen unbegründet, ihn über das vom Menschen erreich-bare Wissen täuschend wäre.

Aber für solche Reflexionen, falls sie denn sich aufdrängen sollten, ist der Zeitpunkt noch nicht gekommen. Ich kehre zur Darstellung der sokratischen Elenktik am Beispiel des Charmides zurück. Dieser räumt ein, daß auch seine zweite These durch Sokrates widerlegt worden ist, daß sie also kein Wissen, was die Besonnenheit sei, zum Ausdruck gebracht hatte, sondern bloß eine traditio­nelle Meinung, die logisch der Prüfung nicht standgehalten hat; denn die Scheu (wie vorher die Ruhe) können nur dann beanspruchen, mehr als eine bestreitbare, höchstens eingeschränkt gültige Bestimmung der Besonnenheit zu sein, wenn hierfür ein zwingender Beweis erbracht werden kann, denn was weder bewiesen werden kann noch unmittelbar jedermann evident ist, mag Vermutung o. ä. genannt werden, ist jedoch kein Wissen. Bewiesen ist aber auf keinen Fall, woge-gen auch nur ein einziges Beispiel, das unter die vorgelegte begriffliche (oder gesetzmäßige) Bestimmtheit, also die Bestimmung der Besonnenheit – erstens – als Ruhe oder Scheu in allem Handeln und – zweitens – als etwas Gutes und Schö­nes gehört, ins Treffen geführt werden kann. Ausnahmen bestätigen eben nicht die Regel – und man darf den Satz, Besonnenheit sei Scheu, als eine den Wortgebrauch bestimmende Regel lesen –, sondern sie vernichten deren Nimbus beanspruchter allgemeiner Gültigkeit, und d. h. auch deren Nimbus, es handele sich um Wissen und nicht bloß um eine Vermutung, eine Meinung, eine verbreitete oder auch nur eine private Überzeugung. Sokrates scheint also elenktisch die „Wissensfähigkeit” von Aussagen, d. h. deren Ünhaltbarkeit bzw. deren bewiesen und damit ineins den Wahrheit- oder Richtigkeitsgestus des irgend etwas Großes Behauptenden – hier des Knaben Charmides – im Visier gehabt zu haben. –

Charmides fügt seinen beiden gescheiterten, will jetzt sagen: seinen beiden nicht als Wissen über die Besonnenheit infrage kommenden Einlassungen, die ihn subjektiv überdies höchstens als besonnen im Sinne einer unbedachten Konven­tion und/oder Tradition erscheinen lassen, mithin gerade nicht als besonnen unabhängig von gängigen Fremd- und Selbsterwartungen – Charmides fügt also den beiden anderen Thesen noch eine weitere hinzu, die er irgendwo von irgend-wem aufgeschnappt zu haben behauptet. Das – die Herkunft – ist Sokrates egal; denn nicht von wem irgendeine Sentenz stamme sei von Belang – so äußert er sich (161 C) –, sondern einzig und allein, ob sie richtig sei oder nicht. Auch die dritte These wird nach dem gehabten Prüfungsschema zügig und ohne jede Bemühung, ihren eventuellen Sinn oder ihre begrenzte Berechtigung aufzuspü­ren, der Ünhaltbarkeit überführt, und alsbald gibt sich der Junge geschlagen, ohne daß man den Eindruck gewinnt, daß die ihm zuteil gewordene Lektion von ihm anders empfunden wird als eine wohltätige Ernüchterung. Da sie, die dritte These, jedoch offensichtlich von seinem Vormund Kritias stammt, der sowieso schon seit längerem darauf brannte, in das für sein Mündel, den er wegen der ihm innewohnenden Besonnenheit so hoch gelobt hatte, und für ihn unvorteilhafte Gespräch einzugreifen, übernimmt er deren Verteidigung. Aus diesem 2. Teil des Dialogs, der streckenweise sachlich außerordentlich anspruchsvoll, sprachlich hingegen reichlich mühselig, ja gequält ist und in dem Charmides keine tragende Rolle mehr spielt, greife ich ein kleines Stück auf, in dem Sokrates' Elenktik – wohl angesichts des hohen intellektuellen Niveaus und auch der Hartnäckigkeit seines Partners – erheblich stärker gefordert ist als im Umgang mit jungen Leuten oder einfacheren Gemütern. Kritias bestimmt, nachdem die Ausgangsfassung seiner Überzeugung – nämlich: Besonnenheit sei das Tun des Seinen – nebst einigen Modifikationen und Erweiterungen derselben der Prüfung nicht haben standhalten können, in einem weiteren Anlauf die Besonnenheit neu. Ich zitiere (165 B ff.): „Jetzt aber will ich” — „alles Vorherige sei dir geschenkt” — „darüber Rede stehen, falls du nicht (gleich) zustimmst, daß Besonnenheit das Erkennen seiner selbst ist.” Mit dieser Formel greift Kritias auf die berühmte Inschrift am Apollontempel zu Delphi zurück. Dort fand sich der Besucher mit den Worten konfrontiert (griechisch:) gnothi sautón (Erkenne dich selbst), und Kritias legt Wert auf die Feststellung, daß damit kein lebenspraktisch-nützlicher Ratschlag von der Art, „lebe nicht über deine Verhältnisse” erteilt wird, auch nicht eine Aufforderung zur moralischen Identifizierung und Qualifizierung seines empiri­schen Charakters (ä la „Ich neige zur Liederlichkeit"), sondern daß damit die Tugend der Besonnenheit als ein spezifisches, dem Menschen qua Menschen zukommendes und abzuverlangendes prinzipielles Wissen auf den Punkt gebracht ist. So jedenfalls kann man Platons an dieser Stelle undurchsichtige Schreiberei interpretieren.

Elenchos Kritias

Kritias also erklärt, daß die Besonnenheit Selbsterkenntnis sei, und er erwar­tet, nicht zuletzt wohl darum, weil Gott, weil Apollon gewissermaßen für die Wahrheit der Erklärung bürgt, daß Sokrates damit übereinstimmt, womit das Problem der Besonnenheit vom Tisch wäre. Darauf Sokrates: „Aber Kritias, du gehst [mit deiner Zustimmungsaufforderung] mit mir um, als behauptete ich, das zu wissen, worüber ich (allemal nur) Fragen stelle, und als könnte ich dir zustim­men, wenn ich es bloß wollte. Dem ist aber nicht so. Vielmehr suche ich immer (wenn du etwas sagst) mit dir (gemeinsam) nach einer Festsetzung (bzw. Bestä­tigung) des Gesagten, weil ich es selber nicht weiß. Wenn ich (das Gesagte) dann gründlich überlegt habe, (dann) will ich mitteilen, ob ich zustimme oder nicht. Darum halte an dich, bis ich (diese These) gründlich erwogen habe” (griechisch: heos An skepsomai). — In dieser Zwischenbemerkung rekapituliert Sokrates sein übliches elenktisches Vorgehen. Er setzt bei dem an, was jemand vorträgt, ohne zuzustimmen, ohne es zu verwerfen, i. d. R. auch, ohne (sogleich) eine konträre Auffassung zu äußern. (Ausnahmen z. B. Laches 198 B, Kriton 47 A ff.) Danach wird in gemeinsamer Anstrengung auf der Basis von Fragen erforscht bzw.. geprüft, ob sich das Vorgetragene als Wissen beweisen, demonstrieren läßt oder ob es'sich bloß um eine mehr oder weniger ansehnliche Meinung oder Überzeugung handelt, sie mag auf Gott, die Tradition, die Konvention, die Erfahrung oder auf was auch immer als Gewährsinstanz oder Beweisunterlage rekurrieren — sie ersetzen offensichtlich nicht ohne weiteres, was einen Satz in den Rang von Wissen erhebt. Falls — endlich — die Prüfung nicht zur Entdeckung irgendwelcher Blößen führt, es mögen der Behauptung widersprechende Fälle oder unbemerkt eingeflossene unbewiesene Voraussetzungen oder nicht bedachte Folgeprobleme u. ä. m. sein, dann würde Sokrates' Zustimmung nicht auf sich warten lassen; denn das Vorgetragene hätte sich als hieb- und stichfest, als Wissen, pathetisch: als Wahrheit erwiesen, und dem, aber auch nur dem, kann sich keiner entziehen. Genau betrachtet läge nicht einmal Zustimmung vor, weil des Abwägens von Gründen ein Ende wäre, wenn man auf dem absoluten Grund angelangt ist. – So



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Sokrates (PR Hrachovec, 2007/08)