Über Charmides (Ausschnitte W. Fischer) (PJS)

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Exzerpte aus Wolfgang Fischer: Sokrates pädagogisch. (hrsgg. von Jörg Ruhloff und Christian Schönherr). Würzburg 2004. S. 96ff

Elenchos Charmides

Die Rahmenhandlung, ein literarisches Kabinettstück Platons ist in verkürzter, alle platonischen Tiefsinnigkeiten auslassender Form schnell erzählt. Sokrates ist gerade wohlbehalten aus dem Kriegslager von Potideia nach Athen zurückge­kehrt, — der Dialog spielt also im Jahre 429 —, und flugs macht er sich auf, Leute an den üblichen Orten, wo sich jung und alt zu begegnen pflegen, zu treffen, also in den Palästren, das sind gewissermaßen die Sportanlagen der Gymnasien. Man kommt ins Reden, und bald schon erkundigt sich Sokrates, ob es unter den inzwischen Herangewachsenen ein paar gebe, die durch Klugheit oder Schönheit oder (am liebsten) durch beides hervorstächen. Kurz und gut: einer wird ihm besonders empfohlen. Es ist Charmides, ein vielleicht 16jähriger Junge aus bestem Hause, wenn man Platons fast immer unakkurate chronologische Hinweise — danach müßte Charmides 18 sein — außer acht läßt.

Alsbald betritt Charmides die Szene, umgeben von einem Schwarm von jun­gen Liebhabern, die ihn wie ein Götterbild anstarren. Auch Sokrates kann sich der faszinierenden Wohlgestalt des Knaben nicht entziehen, möchte jedoch gern erfahren, ob dieser auch „in seiner Seele” gut geraten ist. Das bestätigt ihm der anwesende Vetter und Vormund des Charmides, das ist jener Kritias, der später das Haupt der 30 Tyrannen werden sollte, die 403 ihr Schreckensregime in Athen errichtet hatten. Er sagt, daß der Junge ein „philosophos”, also ein nach Wissen Strebender sei, und überdies ein beachtliches dichterisches Talent habe. Kritias und Sokrates veranlassen unter einem etwas windigen Vorwand, den ich jetzt übergehe, daß Charmides in den Kreis der Alteren tritt und zwischen beiden Platz nimmt, Sokrates mit einem geradezu unwiderstehlichen Blick anschauend. „In diesem Moment”, so berichtet Sokrates, „warf ich einen Blick unter seinen Umhang [himation]. Da entbrannte ich und war nicht mehr bei mir selbst und kam zu der Überzeugung, daß Kydias” — ein mir unbekannter Mensch — „in Lie­besdingen doch sehr weise war, als er im Gespräch über einen schönen Jungen einem anderen riet: ,Das Hirschkalb soll sich hüten, wenn es dem Löwen begeg­net, daß es ihm nicht zur Beute falle.”` Mit einiger Mühe faßt sich Sokrates wie-der und verheißt Charmides, der gelegentlich an Kopfschmerzen leidet, ihn viel-leicht kurieren zu können, wobei davon auszugehen sei, daß man körperliche Gebrechen nicht abwenden könne, ohne vorher die Seele zu behandeln.

Damit ist Sokrates bei seinem Pragma gelandet, und zum Einstieg in das Gespräch mit Charmides greift er auf, daß Kritias lachend erwähnt hatte, Char­mides zeichne sich nicht bloß in seinem Außeren vor allen Altersgenossen aus, sondern auch dadurch, daß er der bei weitem besonnenste von allen sei (157 D). Besonnenheit – eine etwas schwache Übersetzung von griechisch Sophrosyne – galt in Griechenland als eine der ursprünglich mythisch-religiös fundierten vier .Kardinal"-Tugenden (neben Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Tapferkeit). Sie um-schreibt ungefähr, daß jemandes Denken, Trachten und Handeln, nicht über die Stränge (seiner Möglichkeiten und des Sich-Geziemenden) schlagen, nicht zu hoch hinaus führen, also nicht maßlos werden darf, was an ihrem Gegensatz recht deutlich wird: Der Unbesonnene ist hybrid und ohne Scheu, er respektiert keine Grenzen, die ihm von Natur und Gesetz gezogen sind. – Allmählich, d. h. im Laufe der Zeit, büßte die Sophrosyne (und die anderen Tugenden gleichfalls) ihr mythisches Fundament, ihre fraglos bestimmende Bestimmtheit dem Inhalte nach ein: Sie wurde zu einer substanzlabilen, in Erosion befindlichen sozialen Konvention, geriet – vor allem durch die Sophisten – gegen Ende des 5. Jahr­hunderts in den Strudel der Um- und Abwertung, und für einige wurde sie gar gleichbedeutend mit „Unmännlichkeit”: Eine „Tugend” der Schwachen, die „im Namen des Naturgesetzes überwunden werden muß” (vgl. B. Witte).

Man sollte diesen Hintergrund des Zerfalls ehemals unproblematischer ver­bindlicher Normen nicht aus den Augen verlieren, wenn Sokrates sich den wegen seiner Besonnenheit gelobten Charmides elenktisch vornimmt. Dieser erklärt sich, selber ein bißchen schwankend, ob er nun besonnen sei oder nicht, einver­standen, gemeinsam mit Sokrates der Sache auf den Grund zu gehen, und ein erster Schritt besteht darin, daß „betrachtet und erwogen” werden müsse – sechs-mal kommen das Wort Skepsis und entsprechende Verbalformen innerhalb von weniger als zehn Zeilen vor (!) (158 E) –, daß also erwogen werden müsse, wel­che Vorstellung er – Charmides – von der Besonnenheit habe; denn ohne eine .Wahrnehmung" und Vorstellung von ihr wäre die Rede von seinem Besonnen-sein nichts als leerer Schall und Rauch, wäre der Gebrauch eines Wortes ohne jede Bedeutung (- so als würde jemand heute von sich sagen, er sei Trallala, weil es Mode ist und sich gerade gut macht, Trallala zu sein). „Was behauptest du (also)”, fragt Sokrates, „was deiner Meinung nach die Besonnenheit ist?” (159 A fin.)

Charmides „zögerte erst ein wenig und wollte mit einer Antwort nicht so recht herausrücken. Dann aber sagte er, die Besonnenheit scheine ihm dies zu sein, alles sittsam-geordnet und ruhig zu tun, sowohl wenn man auf der Straße geht als auch, wenn man sich unterhält, und so auch bei allen anderen Verrich­tungen. Es scheint mir, sagte er, das, wonach du fragst, zusammengefaßt eine Art von Gemächlichkeit (oder Ruhe) zu sein.” [hesychiötes]

Sokrates hakt sogleich ein und schlägt vor, gemeinsam zu betrachten, ob an der von Charmides geäußerten konventionell üblichen, verbreiteten Auffassung etwas Haltbares ist. Zuvor jedoch vergewissert er sich, daß sie beide – Sokrates und Charmides – doch wohl darin übereinstimmen, daß die Sophrosyne etwas Schönes ist – und ,‚schön`, griechisch kalós, ist nicht bloß ein ästhetisches Prä­dikat, sondern auch ein ethisches mit einem Bedeutungsspektrum, das von nützlich, zweckmäßig bis zu edel, anständig, rühmlich reicht. – Es gibt seitens Char­mides keinen Einwand, die Besonnenheit nicht für etwas Schönes zu halten: Man hat also en passant eine basale Prämisse oder Voraussetzung gesetzt bzw. akzep­tiert: Besonnenheit ist etwas Schönes.

Dieser Einlassung begegnete Sokrates mit ca. einem Dutzend ziemlich bana­ler, redundanter Rückfragen, die allesamt darauf hinausliefen, daß sowohl was die körperlichen als auch was die geistigen Tätigkeiten anbelangt das, was aus der Schnelligkeit und Behendigkeit heraus geschieht, schöner zu sein scheint als all das, was langsam und gemächlich betrieben wird. Kein „normaler”, einigermaßen bei Verstande seiender Mensch, dem pflichtet Charmides bei, wird z. B. den, der beim Lernen schwer und langsam von Begriff ist oder der im sportlichen Wettlauf gemächlich dahintreibt oder der bei irgendwelchen Beratungen nur mühselig und zeitaufwendig etwas Wichtiges erfaßt, eher loben als den, der all dieses zügig und schnell verrichtet. Da Sokrates und Charmides jedoch überein gekommen waren, daß die Besonnenheit sozusagen grundsätzlich etwas Schönes sei, so wie auch wir noch immer geneigt sein dürften, die Besonnenheit positiv zu würdigen, kann die These, sie sei so etwas wie Ruhe nicht stimmen; denn das Ruhige und Bedächtige hat sich ja gerade in vielen Fällen nicht als schön, als klon gezeigt.

Nun kommt Sokrates zur Sache und deckt den in die Rolle eines Echos gedrängten Jungen mit einer Kanonade von Fragen ein, deren Antworten Sokrates auch gleich selber hätte liefern können. Ich führe eine Auswahl dieser Fragenredundanz – insgesamt sind es deren elf oder zwölf – vor; alle beziehen sich auf die These des Charmides, daß die Besonnenheit eine gewisse Geruhsamkeit oder Gemächlichkeit sei.

...

„Es hat also den Anschein, Charmides, daß überhaupt alles, sowohl was die Seele als auch was den Körper betrifft, schöner ist, wenn es aus der Schnelligkeit und Zügigkeit hervorgeht als aus der Bedächtigkeit und Langsamkeit?”

Charmides, wohl ziemlich überrascht, aber – so scheint es – nicht am Boden zer­stört, stimmt Sokrates' Schlußfolgerungen über den Vorzug des Schnellen zu. Seine Meinung, Besonnenheit könne als eine gewisse Gemächlichkeit (oder Ge­ruhsamkeit) allen Handelns begriffen oder erläutert werden, ist ihm unter der Generalprämisse, sie sei etwas schlechterdings Schönes, mithin den Menschen Auszeichnendes und für ihn Erstrebenswertes, als unhaltbar demonstriert wor­den – auch wenn Sokrates die Einschränkung nachträglich macht, daß in man­chen Fällen dem Handeln die Bedächtigkeit durchaus besser ansteht als ein for­ciertes Tempo. Das ändert logisch nichts daran, daß Charmides alles Handeln umfassender Satz gescheitert ist: Seine Zustimmung, daß beispielsweise ein ge­ruh- und mühsames Sich-Erinnern oder ein Nicht-vom-Flecke-Kommen beim Lesen weniger schön ist als ein müheloses und schnelles, widerspricht dem, daß das angegebene Ruhige der Besonnenheit etwas Schönes sei: Die Besonnenheit qua Bedächtigkeit wäre zwar manchmal schön, manchmal jedoch häßlich, jedenfalls nicht durchwegs schön, wie unterstellt.‑

Sokrates geht nun nicht etwa darauf ein, mit Charmides eine differenzierte oder angemessenere Aussage über die Besonnenheit herauszuarbeiten, so wie er auch nicht vor seiner Prüfung und Widerlegung den Jungen aufgefordert hatte, er möge ihm – erstens – erklären, was das exakt bedeute, daß in seinen Augen die Besonnenheit eine Art bzw. eine gewisse Geruhsamkeit sei, und – zweitens –, ob seine These oder „Definition” die Wörter Besonnenheit und Ruhigkeit äquivalent im Sinne von austauschbar gebrauche oder ob die hervorgehobene Ruhe nur ein wichtiges, aber untergeordnetes Moment der Besonnenheit sei; denn das Wört­chen „ist” kann grammatisch Identität bzw. Aquivalenz anzeigen (2 x 2 = 4) oder auch ein (Klassen-)Subordinationsverhältnis wie in dem Satz: „Der Löwe ist ein Raubtier” oder auch eine qualitativ unbestimmte, prädikatzuordnende Konjunk­tion wie in dem Urteil: „Das Wetter ist regnerisch”, oder „X ist gestorben” usw. Das alles scheint Sokrates nicht zu interessieren, und so fordert er Charmides auf, eine bessere, überlegtere Antwort zu geben: „Noch einmal also, Charmides, und streng den Verstand etwas mehr an, schau auf dich selbst und überlege dir, wozu dich die Besonnenheit macht und wie beschaffen sie wohl sein muß, wenn sie dich (besonnen) macht, und dann sage, das alles zusammennehmend, frank und frei heraus, was sie dir zu sein scheint.” Nach einigem Nachdenken gibt Charmides eine zweite These ab: „Also ich glaube, die Besonnenheit bewirkt, daß der Mensch scheu ist und bescheiden. Besonnenheit ist (mithin) (ein Empfinden) der Scheu.” (160 E) Das klingt in unseren Ohren, aus dem Munde eines ca. 16jäh­rigen, ebenso befremdlich wie leicht blasiert bis lächerlich, war es aber wohl damals nicht, wenn man bedenkt, daß die erwähnte Scheu oder Zurückhaltung als Gegensatz zur Hybris traditionell der Sophrosyne zukam. Charmides rekurriert diesmal also auf eine traditionsgeprägte Bestimmung – wie wenn heute jemand beispielsweise die Toleranz gemäß ihrer liberalen Auffassung in der „Aufklärung” als Duldung jedweder religiöser oder weltanschaulicher Doktrin erläutern würde.

Sokrates geht diesmal beinahe noch aggressiver vor als im ersten Durchgang. Er zitiert – selbst die Tradition aufgreifend – einen Vers aus Homers Odyssee, wonach die Scheu dann nicht gut ist, wenn sie einen darbenden Mann begleitet. Damit hat er den Jungen erneut in einen Widerspruch verwickelt; denn man war unmittelbar nach Charmides' zweiter Behauptung über die Besonnenheit und vor Sokrates' Homerzitierung in einem Zwischengedanken übereingekommen, daß nach wie vor die Besonnenheit als etwas schlechthin Schönes und Gutes und zudem als etwas gelten solle, das den Menschen gut macht. In eine logische Figur übersetzt ist also folgendes passiert. Charmides behauptet (1), Besonnenheit ist gleich Scheu. Sokrates und Charmides setzen voraus (2), Besonnenheit ist etwas Gutes, Schönes. Nun hat Homer recht, wenn er (3) für wenigstens einen Fall, nämlich den des Notleidens, zeigt, Scheu ist nichts Gutes, Schönes; denn das Darben, Notleiden, gar Verhungern ist nichts, was gut und erstrebenswert ge­nannt zu werden verdient. Daraus folgt (4): Besonnenheit ist nicht gleich Scheu — wenn die Besonnenheit etwas universal, schlechthin Gutes, die sie ausmachen-de Scheu aber nicht durchweg, sondern höchstens partial gut (und schön) ist. Das ist m. E. logisch korrekt, aber wiederum fällt auf, daß Sokrates sich weder von Charmides erläutern läßt, was er mit Scheu meint und wie das Wörtchen „ist” zu verstehen sei, noch daß er das Homerzitat als einen problematischen Einwand dem Jungen zum Bedenken aufgibt; denn man könnte auch die Auffassung ver­treten, daß selbst die „Not” nicht rechtfertigt, sich der Scheu zu entledigen, bzw. „daß man nicht einfach dem Leben den größten Wert beimessen soll”, wie Sokra­tes im Dialog Kriton (48 B) selbst formuliert — als einen Gedanken, der zu prü­fen ist. Man gewinnt den Eindruck, Sokrates gehe es gar nicht um eine unvorein­genommene Erörterung der Sache, sondern allein darum, den Gesprächspartner auf die erstbeste sich bietende Manier aufs Kreuz zu legen, d. h. ihm nachzuwei­sen, daß er lauter Unsinn oder herkömmliche, unbedachte Floskeln o. ä. von sich gibt. Und ich kann mir vorstellen, daß sich so manchem Pädagogen der Gegen-wart die Haare ob der Art sträuben, wie Sokrates mit dem Jungen umspringt: Nämlich nicht auf dessen Ansichten, Überzeugungen milde-verstehenserpicht und durch Belehrungen, durch Korrekturen u. ä. förderlich eingehend, sondern ihm ausschließlich das Falsche, Fehlerhafte, Ungereimte seiner Rede um die Ohren schlagend. Aber schon jetzt sollte angesichts solcher Bedenklichkeiten, falls sie sich bestätigen sollten, nicht unbeachtet bleiben, daß vielleicht die mo­derne pädagogische Umgangsweise einer gewissen generellen Nachsicht von der durchaus fragwürdigen (geheimen) Unterstellung abhängen könnte, daß Fal­sches, Ungereimtes, bei gründlichem Nachdenken sich als nicht haltbar Heraus-stellendes bloß der defiziente Modus, also der pädagogisch behebbare Mangel an wahrer Einsicht, an Wissen, an Aufklärung sei — und nicht Symptom einer mög­lichen, unabwendbaren Ünwissenheit, angesichts derer die prävalente intellek­tuelle Schonung des anderen unbegründet, ihn über das vom Menschen erreich-bare Wissen täuschend wäre.

Aber für solche Reflexionen, falls sie denn sich aufdrängen sollten, ist der Zeitpunkt noch nicht gekommen. Ich kehre zur Darstellung der sokratischen Elenktik am Beispiel des Charmides zurück. Dieser räumt ein, daß auch seine zweite These durch Sokrates widerlegt worden ist, daß sie also kein Wissen, was die Besonnenheit sei, zum Ausdruck gebracht hatte, sondern bloß eine traditio­nelle Meinung, die logisch der Prüfung nicht standgehalten hat; denn die Scheu (wie vorher die Ruhe) können nur dann beanspruchen, mehr als eine bestreitbare, höchstens eingeschränkt gültige Bestimmung der Besonnenheit zu sein, wenn hierfür ein zwingender Beweis erbracht werden kann, denn was weder bewiesen werden kann noch unmittelbar jedermann evident ist, mag Vermutung o. ä. genannt werden, ist jedoch kein Wissen. Bewiesen ist aber auf keinen Fall, woge-gen auch nur ein einziges Beispiel, das unter die vorgelegte begriffliche (oder gesetzmäßige) Bestimmtheit, also die Bestimmung der Besonnenheit – erstens – als Ruhe oder Scheu in allem Handeln und – zweitens – als etwas Gutes und Schö­nes gehört, ins Treffen geführt werden kann. Ausnahmen bestätigen eben nicht die Regel – und man darf den Satz, Besonnenheit sei Scheu, als eine den Wortgebrauch bestimmende Regel lesen –, sondern sie vernichten deren Nimbus beanspruchter allgemeiner Gültigkeit, und d. h. auch deren Nimbus, es handele sich um Wissen und nicht bloß um eine Vermutung, eine Meinung, eine verbreitete oder auch nur eine private Überzeugung. Sokrates scheint also elenktisch die „Wissensfähigkeit” von Aussagen, d. h. deren Ünhaltbarkeit bzw. deren bewiesen und damit ineins den Wahrheit- oder Richtigkeitsgestus des irgend etwas Großes Behauptenden – hier des Knaben Charmides – im Visier gehabt zu haben. –

Charmides fügt seinen beiden gescheiterten, will jetzt sagen: seinen beiden nicht als Wissen über die Besonnenheit infrage kommenden Einlassungen, die ihn subjektiv überdies höchstens als besonnen im Sinne einer unbedachten Konven­tion und/oder Tradition erscheinen lassen, mithin gerade nicht als besonnen unabhängig von gängigen Fremd- und Selbsterwartungen – Charmides fügt also den beiden anderen Thesen noch eine weitere hinzu, die er irgendwo von irgend-wem aufgeschnappt zu haben behauptet. Das – die Herkunft – ist Sokrates egal; denn nicht von wem irgendeine Sentenz stamme sei von Belang – so äußert er sich (161 C) –, sondern einzig und allein, ob sie richtig sei oder nicht. Auch die dritte These wird nach dem gehabten Prüfungsschema zügig und ohne jede Bemühung, ihren eventuellen Sinn oder ihre begrenzte Berechtigung aufzuspü­ren, der Ünhaltbarkeit überführt, und alsbald gibt sich der Junge geschlagen, ohne daß man den Eindruck gewinnt, daß die ihm zuteil gewordene Lektion von ihm anders empfunden wird als eine wohltätige Ernüchterung. Da sie, die dritte These, jedoch offensichtlich von seinem Vormund Kritias stammt, der sowieso schon seit längerem darauf brannte, in das für sein Mündel, den er wegen der ihm innewohnenden Besonnenheit so hoch gelobt hatte, und für ihn unvorteilhafte Gespräch einzugreifen, übernimmt er deren Verteidigung. Aus diesem 2. Teil des Dialogs, der streckenweise sachlich außerordentlich anspruchsvoll, sprachlich hingegen reichlich mühselig, ja gequält ist und in dem Charmides keine tragende Rolle mehr spielt, greife ich ein kleines Stück auf, in dem Sokrates' Elenktik – wohl angesichts des hohen intellektuellen Niveaus und auch der Hartnäckigkeit seines Partners – erheblich stärker gefordert ist als im Umgang mit jungen Leuten oder einfacheren Gemütern. Kritias bestimmt, nachdem die Ausgangsfassung seiner Überzeugung – nämlich: Besonnenheit sei das Tun des Seinen – nebst einigen Modifikationen und Erweiterungen derselben der Prüfung nicht haben standhalten können, in einem weiteren Anlauf die Besonnenheit neu. Ich zitiere (165 B ff.): „Jetzt aber will ich” — „alles Vorherige sei dir geschenkt” — „darüber Rede stehen, falls du nicht (gleich) zustimmst, daß Besonnenheit das Erkennen seiner selbst ist.” Mit dieser Formel greift Kritias auf die berühmte Inschrift am Apollontempel zu Delphi zurück. Dort fand sich der Besucher mit den Worten konfrontiert (griechisch:) gnothi sautón (Erkenne dich selbst), und Kritias legt Wert auf die Feststellung, daß damit kein lebenspraktisch-nützlicher Ratschlag von der Art, „lebe nicht über deine Verhältnisse” erteilt wird, auch nicht eine Aufforderung zur moralischen Identifizierung und Qualifizierung seines empiri­schen Charakters (ä la „Ich neige zur Liederlichkeit"), sondern daß damit die Tugend der Besonnenheit als ein spezifisches, dem Menschen qua Menschen zukommendes und abzuverlangendes prinzipielles Wissen auf den Punkt gebracht ist. So jedenfalls kann man Platons an dieser Stelle undurchsichtige Schreiberei interpretieren.

Elenchos Kritias

Kritias also erklärt, daß die Besonnenheit Selbsterkenntnis sei, und er erwar­tet, nicht zuletzt wohl darum, weil Gott, weil Apollon gewissermaßen für die Wahrheit der Erklärung bürgt, daß Sokrates damit übereinstimmt, womit das Problem der Besonnenheit vom Tisch wäre. Darauf Sokrates: „Aber Kritias, du gehst [mit deiner Zustimmungsaufforderung] mit mir um, als behauptete ich, das zu wissen, worüber ich (allemal nur) Fragen stelle, und als könnte ich dir zustim­men, wenn ich es bloß wollte. Dem ist aber nicht so. Vielmehr suche ich immer (wenn du etwas sagst) mit dir (gemeinsam) nach einer Festsetzung (bzw. Bestä­tigung) des Gesagten, weil ich es selber nicht weiß. Wenn ich (das Gesagte) dann gründlich überlegt habe, (dann) will ich mitteilen, ob ich zustimme oder nicht. Darum halte an dich, bis ich (diese These) gründlich erwogen habe” (griechisch: heos An skepsomai). — In dieser Zwischenbemerkung rekapituliert Sokrates sein übliches elenktisches Vorgehen. Er setzt bei dem an, was jemand vorträgt, ohne zuzustimmen, ohne es zu verwerfen, i. d. R. auch, ohne (sogleich) eine konträre Auffassung zu äußern. (Ausnahmen z. B. Laches 198 B, Kriton 47 A ff.) Danach wird in gemeinsamer Anstrengung auf der Basis von Fragen erforscht bzw.. geprüft, ob sich das Vorgetragene als Wissen beweisen, demonstrieren läßt oder ob es sich bloß um eine mehr oder weniger ansehnliche Meinung oder Überzeugung handelt, sie mag auf Gott, die Tradition, die Konvention, die Erfahrung oder auf was auch immer als Gewährsinstanz oder Beweisunterlage rekurrieren — sie ersetzen offensichtlich nicht ohne weiteres, was einen Satz in den Rang von Wissen erhebt. Falls — endlich — die Prüfung nicht zur Entdeckung irgendwelcher Blößen führt, es mögen der Behauptung widersprechende Fälle oder unbemerkt eingeflossene unbewiesene Voraussetzungen oder nicht bedachte Folgeprobleme u. ä. m. sein, dann würde Sokrates' Zustimmung nicht auf sich warten lassen; denn das Vorgetragene hätte sich als hieb- und stichfest, als Wissen, pathetisch: als Wahrheit erwiesen, und dem, aber auch nur dem, kann sich keiner entziehen. Genau betrachtet läge nicht einmal Zustimmung vor, weil des Abwägens von Gründen ein Ende wäre, wenn man auf dem absoluten Grund angelangt ist. – So ungefähr könnte Sokrates' Gedankengang gewesen sein, und es ist klar, daß sich hieran manche Fragen anschließen – und wohl auch Platons Überbietung der sokratischen Elenktik durch die Metaphysik oder Dialektik seiner Ideenlehre, die genau diesen absoluten Grund als wißbar, wenn auch nicht diskursiv mitteilbar zum Gegenstand hat. – Nach dem kurzen Intermezzo, in dem Sokrates Kritias gegenüber die Eigenart seines Vorgehens als des ausschließlichen und rückhaltlo­sen Prüfens von möglichen Wissensansprüchen kurz verdeutlicht, beginnt die Untersuchung der Behauptung, daß Besonnenheit das Erkennen bzw. die Er­kenntnis seiner selbst, also ein bestimmtes Wissen bedeutet. Zunächst möchte Sokrates von Kritias hören, welches Werk denn jenes Wissen von sich selbst bewirkt; denn gemeinhin ist Wissen von der Art, daß dank seiner etwas hervorgebracht, zustande gebracht wird: Das medizinische Fachwissen etwa schafft (und erhält) die Gesundheit, das Fachwissen des Architekten schlägt sich im Bauen von Bauwerken nieder, usw. Und so müßte denn auch die Besonnenheit als ein Wissen von sich selbst ein einschlägiges Werk vorweisen können, das sie hervorbringt, widrigenfalls sie dem simplen logischen Schluß zum Opfer fiele: a) alles Wissen bringt etwas hervor; b) die Besonnenheit ist Wissen; c) die Beson­nenheit kann kein Werk vorzeigen, das sie zustande bringt; d) und ergo: Die Besonnenheit ist kein Wissen.

Aber mit Kritias ist nicht so leicht fertig zu werden wie mit Charmides! Er weist Sokrates etwas einfältigen und schnellfertigen Versuch, seine Behauptung, Besonnenheit sei ein bestimmtes Wissen, sei Erkenntnis von sich selbst, dadurch ad absurdum zu führen, daß normalerweise zum Wissen ein vorzeigbares Werk gehört, der Besonnenheit aber ein solches fehlen könnte, und sie folglich nicht als ein Wissen ausgegeben werde dürfe, als fehlerhaft zurück. Denn – so argu­mentiert er – auch die Künste des Rechnens und der Geometrie – gemeint sind die reinen mathematischen Disziplinen, die doch wohl unstreitig vom Charakter des Wissens sind – haben kein Werk zu bieten, das den nützlichen Bauten der Architektur oder den Produkten der sonstigen Fachleute entspricht. Kurz: So­krates ignoriere schlicht, daß Wissen nicht gleichartig ist; seine Prämisse, alles Wissen bringe ein Werk hervor, sei erweislich falsch. Darum sei seine, Sokrates' erste Frage gewissermaßen ein Schuß, der ins Leere geht, was Sokrates zugesteht.

Seine nächste Frage knüpft an das Wissen der reinen Wissenschaften an. So wenig sie auch ein Werk vorzeigen können wie etwa die Medizin oder die ande­ren „technischen” Disziplinen, so ist ihnen doch wie diesen eigen, daß sie sich auf einen Gegenstand außerhalb ihrer selbst beziehen: Die Zahlen bzw. Größen sind nicht das Rechnen bzw. das Wissen um die zwischen ihnen bestehenden Ver­hältnisse; die Diagonale im Quadrat ist nicht die Erkenntnis ihrer Länge im Ver­hältnis zum Inhalt des Quadrats. Fremdreferentialität scheint mithin, so die Stoßrichtung von Sokrates' zweitem Einsatz, für Wissen durchgängig konstitutiv zu sein. „Worauf (nun aber)”, auf welches Gegenständliche, so fragt er Kritias, „bezieht sich die Besonnenheit, das von der Besonnenheit selbst als einem Wissen verschieden ist?” (Und zu ergänzen wäre: Denn hat sie keinen Gegenstand außer sich, dann kann sie auch kein Wissen sein, wenn Fremdreferentialität die notwendige, wenn auch vielleicht nicht hinreichende Bedingung ist, um sinnvoll von Wissen — welcher Art auch immer — reden zu dürfen. Kritias wäre logisch widerlegt, er gebrauchte das Wort ,‚Wissen` unbedacht. Seine Behauptung, Besonnen­heit sei Erkenntnis, Wissen seiner selbst, fiele in Ermangelung eines angebbaren Gegenstandes in sich zusammen, und selbstverständlich kann Kritias als Gegenstand nicht z. B. das empirische Subjekt angeben; denn er hat, wie erinnerlich, das delphische ,Erkenne dich selbst' ausdrücklich aus der Dimension einer psycholo­gischen oder moralischen Selbstbetrachtung herausgenommen.)

Kritias' Replik auf Sokrates' Aufforderung, den „externen” Gegenstand der Besonnenheit als ein Wissen zu nennen, hat etwas Imponierendes an sich. Er hält Sokrates vor, immer noch davon auszugehen, daß alles Wissen untereinander gleichförmig, einander ähnlich sein müsse. Erst — so ist zu interpretieren — siedel­te er die Gleichheit bei der Erbringung eines nützlichen Werkes an. Jetzt ist es die Beziehung auf ein „Objekt”, ist es die „Fremdreferentialität”, auf der er insistiert. Ich zitiere Kritias (166 B f.): Eine solche Gleichheit „gibt es jedoch nicht. Viel-mehr beziehen sich alle anderen Arten von Wissen auf etwas anderes (und) nicht auf sich selbst. Besonnenheit allein aber ist ein Wissen von allem sonstigen — ich ergänze: lebensweltlichen, handwerklich-technischen, „reinen” — Wissen und (zugleich) von sich selbst.” Und er fügt dieser Differenzbestimmung, die die Besonnenheit als ein Wissen (des Wissens) verteidigt, obwohl diesem nichts Gegenständliches wie allem sonstigen Wissen korrespondiert, gegen Sokrates gerichtet, hinzu: „Und das” — gemeint ist: die Einmaligkeit des Wissens seiner selbst im Vergleich und Unterschied zum übrigen Wissen — „dürfte dir nicht ent­gangen sein ... Aber du hast es (eben) auf nichts anderes abgesehen als darauf, mich (unter allen Umständen) zu widerlegen, und du läßt außer acht, worum es bei der Untersuchung eigentlich geht.”

In gewisser Weise bringt Kritias mit diesen Worten zum Ausdruck, was man­che von Sokrates' (vor allem erwachsenen) Gesprächspartnern empfunden haben dürften, nur daß sie ihr Unbehagen nicht zu begründen vermochten. Und tat-sächlich drängt sich mitunter der Eindruck auf, daß die sokratische Elenktik sozusagen einem diabolischen Geist entstammt, dem an nichts anderem als am Verneinen und Widerlegen gelegen ist. Mag Kritias' Bemerkung, Sokrates dürfte doch wohl nicht entgangen sein, daß das Wissen seiner selbst nicht mit dem übri­gen Wissen in einen Topf geworfen werden könne, nun als ehrliches Kompliment gemeint gewesen sein oder nicht, — sie markiert jedenfalls (und nicht gänzlich aus der Luft gegriffen), daß Sokrates' Vorgehen als der Versuch erlebt und aufgefaßt werden kann, und so auch erlebt und aufgefaßt worden ist und ihm den Groll vie­ler eingebracht hat, hier sei jemandem jedes Mittel recht, um einen anderen zu demütigen und kleinzukriegen. Und fällt er nicht beim ersten Schlag, da er ihn zu parieren imstande war, dann setzt Sokrates zum zweiten oder dritten Male an, und dabei kümmert ihn nicht — das will Kritias demonstrieren —, daß er — Sokrates — ihm durchaus bewußte Differenzen — etwa im weiten Felde des Wissens — unterschlägt. Die Hauptsache scheint ihm zu sein, Menschen zu irritieren und zu blamieren.

Auf Kritias' Vorhaltung, Sokrates gehe es nur ums Widerlegen und der Unter­suchungsgegenstand sei von ihm (allemal) bloß als ein Sachproblem vorgescho­ben, entgegnete dieser mit einer Spur von Entrüstung: „Wie kannst du das nur annehmen! Als ob ich, wenn ich dich (schon) widerlegen will und falls ich dich widerlege, dies aus einem anderen Grund tue, weshalb ich auch mich in dem, was ich sage, erforsche: aus der Besorgnis nämlich, ich könnte unvermerkt etwas zu wissen meinen, was ich doch nicht weiß ... Oder meinst du nicht auch, es sei gera­dezu für alle Menschen ein gemeinsames Gut, daß über jedes, was ist, Klarheit geschaffen wird in bezug darauf, wie es sich verhält?”

Mit diesen Worten beschwichtigt Sokrates die Verärgerung des Kritias, und die Prüfung von dessen Behauptung über die Besonnenheit nimmt ihren Fortgang und nähert sich dem Höhepunkt. Ich konzentriere die Darstellung auf das für das Begreifen der Elenktik Wesentliche. Als erstes wird noch einmal in zuge­spitzter Präzision Kritias' Aussage formuliert: „Dies also”, fragt Sokrates, „ist es, was du wohl sagen willst, daß das Besonnensein, die Besonnenheit und das Erkennen seiner selbst bedeuten, zu wissen, was man weiß und was man nicht weiß?” Der Besonnene wäre mithin exakt jener Mensch, der von allem (seinem) sonstigen Wissen und auch von seinem Nichtwissen ein selbstreferentielles und einzigartiges Wissen hätte. Kritias akzeptiert diese Formulierung – und ebenfalls, daß in einem neuerlichen Anlauf zu untersuchen ist, – erstens – „ob das (über­haupt) möglich ist oder nicht, von dem, was man weiß und was man nicht weiß, auch zu wissen, daß man es weiß bzw. nicht weiß, und – zweitens –, sofern sol­ches wenigstens möglich ist, welchen Nutzen wir von einem solchen Wissen haben.” Ich verdeutliche diese Aufgabe, die Sokrates sich und Kritias stellt. Pro­blematisch ist hierbei nicht, daß man überhaupt etwas wissen kann, auch nicht, daß man vieles oder manches nicht weiß. Im klassischen antiken Beispiel: Ärzte wissen von Krankheiten, ihrer Symptomatik, Entstehung, Verlauf und wie sie zu heilen sind, worüber eine reiche Literatur, etwa die sog. Hippokratischen Schrif­ten, im Umlauf war. Die Genesung ihrer Patienten zeigt zulänglich, daß sie nicht aufs Geratewohl therapiert, herumgedoktert haben, sondern aus erworbener oder erfundener (und im Erfolg bewährter) Sachkenntnis. Gleichzeitig wissen Ärzte jedoch nicht, in welchen Fällen ihr fachliches Handeln nützlich oder schädlich ist. Dieser etwas befremdliche Satz betrifft natürlich nicht den unmittelbaren Heilerfolg in seinem Gewinn für Arzt und Patient, sondern etwa dies, ob ein dank ärztlicher Kunst und Pflicht (vgl. Laches) Genesener später ein blutrünsti­ger Despot wird, den an seiner Krankheit sterben zu lassen für die Stadt und ihre Bürger besser, vorteilhafter gewesen wäre. Kurz: Ärzte wissen und wissen nicht – und das gilt durchweg und ist unproblematisch. Problematisch aber ist – und just das soll doch laut Kritias' Überzeugung die Besonnenheit als etwas Schönes, Erstrebenswertes und ganz und gar nicht Nebulöses ausmachen –, ob man von seinem Wissen und Nichtwissen wiederum ein Wissen haben kann – und falls ja, ob ein solches Wissen, das sich gewissermaßen auf sich selbst statt forschend oder produzierend auf einen Gegenstand außerhalb seiner selbst bezieht, irgend-einen Nutzen verspricht – etwa derart, daß man mit seiner Hilfe oder aus seinem Vermögen heraus besser als durch eine gewöhnliche Examinierung einen Fach-mann von einem Scharlatan unterscheiden kann. Dahinter steckt vermutlich die Auffassung, daß etwas, das zur Gänze unnütz ist, wohl nicht verdient, als etwas Erstrebenswertes deklariert zu werden. Oder mit Sokrates' Worten aus einem anderen Dialog (Euthydemos 288 D/E): Die äußerste Bedingung für eine „rech­te” Erkenntnis ist dies, daß „sie uns etwas nützt / zu irgend etwas förderlich ist.”

Nachdem dies — das Problem — formuliert ist, geht es zum dritten Male zur Sache. In einer „ersten Runde” konfrontiert Sokrates seinen Partner mit diversen Arten (oder Fällen) der menschlichen Aktivität, denen allesamt eigentümlich ist, daß sie selbstreferentiell — auf sich selbst bezogen — offensichtlich Blödsinn erge­ben. Ich greife drei Beispiele heraus: Sokrates fragt: „Gibt es ein Hören, das zwar keinen Ton hört, wohl aber sich selbst und das übrige Hören und auch das Nicht-Hören?” Und: „Kannst du dir eine Begierde vorstellen, die nicht eine Begierde nach irgendeiner Lust ist, sondern nach sich selbst und nach (allen) anderen Be­gierden?” Und: „(Hast du schon einmal) eine Meinung von Meinungen und von sich selbst (festgestellt), die jedoch (schlechterdings) nichts meint, worauf sonst sich Meinungen beziehen?” Kritias stimmt in allen von Sokrates aufgebotenen Fällen ohne zu zögern zu, daß die Selbstbezüglichkeit psychischer Akte etwas Absurdes an sich hat, aber er bleibt dabei, daß das, was für Akte des Wahrneh­mens, des Begehrens, des Meinens u. a.m. zutreffen mag, darum noch lange nicht auch für das Wissen gelten muß. Logisch gesprochen: Die Induktion durch Analogien, d. h. das Herbeiführen einer als bewiesen geltenden Schlußfolgerung aus prämissenhaft fungierenden ähnlichen Fällen für den Fall X, gibt keinen zwingenden Beweis ab. (Beispiel: Von Nero bis Hitler mögen alle Diktatoren blutrünstige Gesellen gewesen sein. Daraus allein folgt nicht, daß sich ein neuer Diktator mit Blut besudeln wird. Das folgte logisch nur, wenn der Begriff der Diktatur die Blutrünstigkeit implizierte. Dann aber wäre das Urteil, auch der neue Diktator würde blutrünstig sein, in gewissem Sinne sinnlos; denn würde er es nicht sein, wäre er kein Diktator. Alles Gewicht fällt auf die Korrektheit des Begriffs und liegt nicht auf der Ebene analoger oder gleicher Fälle. Darum: „Wahrscheinlichkeitsschluß".) Das ist auch Sokrates klar, und so begnügt er sich am Ende der ersten Runde mit der Feststellung, daß es in Sachen des Wissens höchst ungewöhnlich wäre, wenn hier die Selbstbezüglichkeit nicht auch etwas so Abwegiges ergäbe wie beispielsweise beim Hören, da doch wohl kein Hören — das wird nicht weiter erörtert — sein „normales”, an Geräusche gebundenes Hören und Nicht-Hören zu hören vermag.

Man tritt in die zweite Runde des Elenchos ein, nachdem die erste nichts gebracht hat, was Kritias' Theorie als die Behauptung von etwas schier Unmög­lichem, allerdings auch nicht als etwas einsichtig Möglichem gezeigt hat. Dieses Mal nimmt sich Sokrates das einzigartige selbstreferentielle Wissen direkt vor, um mit Kritias zusammen seiner Möglichkeit skeptisch Umschau haltend auf den Grund zu kommen: „Ein solches Wissen”, fragt er, „ist doch wohl (gleich allem Wissen) ein Wissen von irgend etwas und hat etwas an sich, kraft (oder vermöge) dessen es sich auf etwas bezieht. Nicht wahr?” Kritias stimmt zu. Und nun wird es kompliziert. Wieder operiert Sokrates mit einem Analogienbündel, wovon ich exemplarisch die erste Analogie aufgreife. Sokrates begehrt die Zustimmung oder Nicht-Zustimmung des Kritias zu folgendem: „Vom Größeren”, – also von etwas, dem wir zusprechen, größer zu sein –, „vom Größeren (also) sagen wir doch, daß es etwas an sich habe, kraft (oder vermöge) dessen es größer sei als etwas?” Einfacher gesprochen: „Vom Größeren sagen wir doch, daß es eine Eigenschaft habe, (nämlich) die, größer als etwas zu sein.” Kritias stimmt dieser Trivialität zu, ebenso der nächsten, daß das Größere allemal größer ist in bezug auf etwas Kleineres. Dem schließt Sokrates, wiederum als Frage verpackt, eine Art Gedankenexperiment an: „Wenn wir nun etwas Größeres fänden, das größer ist als das (sonstige) Größere und als es selbst, dagegen nicht größer als das, womit verglichen sonst das Größere größer ist, (dann) müßte diesem (seltsamen Größeren) doch auf alle Fälle zukommen, größer zu sein als es selbst und auch kleiner. Oder nicht?” Kritias scheint ein Genie des Begreifens gewesen zu sein; denn er bestätigt umgehend, daß das, was in dieser nicht gerade sonnenklaren, um nicht zu sagen: kaum nachvollziehbaren, verquasten „Frage” angesprochen werde, sich mit Notwenigkeit so verhalte, wie Sokrates es dargelegt habe. Nach meinem Dafürhalten und sogleich rückübertragen auf das Problem der Möglich­keit des selbstbezüglichen Wissens ist folgendes gemeint (und ich halte mich in der Interpretation der Aussage formal an den platonischen Text): Wenn wir bei unserer Untersuchung auf ein Wissen stoßen würden, das über alles übliche (gegenständliche) Wissen und damit in gewissem Sinne eben auch über sich selbst (als ,normales` Wissen) hinausragt, das jedoch nicht gleichsam ausbricht aus dem, worin ansonsten Wissen Wissen ist, also aus der Bezogenheit auf etwas (denn dann könnten wir gar nicht mehr von Wissen sprechen, sondern hätten es viel-leicht mit einer Eingebung oder Offenbarung zu tun,) dann müßte einem solchen Wissen zukommen, daß es zugleich bzw. in einem a) ein größeres, höheres, her-aus-, alles andere überragendes Wissen und b) in seiner Selbstbezogenheit ein das andere nicht überragendes, also kein höheres, größeres Wissen ist. Oder in Kurz-form: In der Selbstbezogenheit ist das Größere, um ein solches zu sein, notwen­dig auch zugleich das Kleinere, worauf es sich bezieht. Das aber, daß das über sich selbst Herausragende um seiner Selbstbezüglichkeit willen zugleich das Nicht-Herausragende ist, widerspricht sich selbst, wäre eine Art hölzernes Eisen, logisch ein Unding.

Kritias leuchtet das ein, und unausgesprochen wohl auch, daß erstens derarti­ges ganz und gar unmöglich, logisch ein Unding ist, und daß zweitens in der Übertragung des Arguments auf das Problem der Möglichkeit eines Wissens des Wissens und des Nicht-Wissens man in einem ähnlichen Widerspruch landen könnte. Das wird im Gespräch nicht weiter vertieft, vielmehr ist der Punkt erreicht, an dem Kritias sich dem Gewicht der von Sokrates ans Licht gehobenen Argumentationsschwäche seiner Einlassung nicht entziehen kann. Mit anderen Worten: Ihm fällt nichts mehr ein, was er der von Sokrates in seinem Sinne nicht widerlegten, aber per analogiam problematisierten und einer Widerlegung nahekommenden Möglichkeit eines Wissens des Wissens und des Nicht-Wissens entgegenstellen könnte. Zu einem gleichen Ergebnis kommt es auch — ich führe das nicht aus — bei der sich anschließenden Erörterung des Nutzens eines selbstrefe­rentiellen Wissens: Es zeigt sich keiner, was bedeuten würde, falls das negative Resultat der Untersuchung endgültig sein sollte, daß ein ,Wissen von sich selbst' entweder nicht die richtige Definition der Besonnenheit sein bzw. ausmachen kann, dann nämlich, wenn sie etwas das Handeln qualifizierendes Gutes, Schö­nes, Erstrebenswertes ist, — die „Definition”, aber nicht schon die Sache wäre gescheitert — oder daß die gar nicht mögliche und nutzlose Besonnenheit qua Wissen des Wissens und des Nicht-Wissens ein Wort ohne allen aufweisbaren Sinn immer schon gewesen oder inzwischen geworden sein könnte. Kurz: Sokrates und Kritias kommen in ihrer Untersuchung der Kritias-These zu keiner Klarheit, zu keiner Lösung der von Sokrates aufgeworfenen Probleme, die sich einstellen, wenn man skeptisch sich nach dem umschaut, was unbedacht, d. h. als ob es erwiesen wäre, als stillschweigend, „geheim” fungierende Voraussetzung einer Wissensbehauptung zugrunde liegt.

Kritias kann sich dem substantiellen Gewicht der kritischen Rückfragen von Sokrates nicht entziehen. Das betrifft — ich mache es kurz und gehe auf den restlichen Inhalt des Dialogs nicht näher ein — sowohl die Erörterung der Möglich­keit als auch die Erörterung der Nützlichkeit eines Wissens des Wissens und des Nicht-Wissens. Man kommt zu keiner Klarheit.

Das aber heißt für Sokrates selbstverständlich nicht schon, daß er nunmehr „mit Bestimmtheit” für die Unmöglichkeit und die Nutzlosigkeit des Besonnen­heitswissens eintreten könne; denn vielleicht kommt einmal ein sehr bedeutender Mann, der alle sich ihm — Sokrates — aufdrängenden Zweifel zu beseitigen ver­mag. Nur für jetzt (175 B) liegen die Dinge so, daß nicht zwingend bewiesen werden konnte, daß die Besonnenheit dies sei, was man ziemlich „großspurig” und auch einigermaßen achtlos behauptet hatte, nämlich ein Wissen davon, was man weiß und was man nicht weiß. Aber das — so räumt Sokrates — wie öfters — etwas tiefstaplerisch ein — könne schlicht darin seinen Grund haben, daß er untauglich sei, eine solche Untersuchung gut und richtig zu führen. In der Schlußpassage des Dialogs heißt es: „Jetzt mißlingt uns (beiden) auf der ganzen Linie (eine ordentliche, Klarheit bringende Untersuchung), und wir können (einfach) nicht herausfinden, was unter allem Seienden (jenes höchst Erstrebenswer­te) ist, das der, der den Dingen ihren Namen gegeben hat, mit der Bezeichnung ,Besonnenheit` versehen hat.” Das aber wird nicht triumphierend gesagt, als seien die Unhaltbarkeitsüberführung einer These und darin (!) die Widerlegung dessen, der sie vertritt, also die Destruktion eines Wissensdünkels, das Optimum oder Ultimum dessen, was menschliche Vernunft je erreichen kann. Sokrates ist m. E. weder ein dogmatischer Agnostiker, der zwar anerkennt, daß es so etwas wie Wahrheit gibt, nur leider nicht für den menschlichen „Geist”, noch ist er ein Nihilist, für den es definitiv keine Wahrheit, sondern nur das Nichts gibt: Das aporetische Resultat hinsichtlich dessen, was die Besonnenheit ist, wird durchaus als ein mögliches Verfehlen des Sinnes einer These bei aller noch so schlüssigen, vielleicht — niemand weiß es — sogar endgültigen Destruktion von bloß Scheinwahrem interpretiert. Von hier aus wird plausibel, daß am Ende eines sokrati­schen Elenchos aller Ausweglosigkeit zum Trotze, in die man geraten ist, häufig die Bitte des Widerlegten steht, ein andermal über dieses oder jenes weiter zu reden. Im Dialog "Charmides" ist es der Junge, der, obwohl Sokrates und Kritias zu keinem Ergebnis gelangt sind, die von seinem Vormund unterstützte Absicht äußert, von nun an nicht von Sokrates' Seite zu weichen; denn er, Charmides, habe diesen Umgang nötig. Sokrates fühlt sich durch diesen Entschluß der beiden einigermaßen überrumpelt, vermag aber nicht, dem Drängen eines so reizvol­len und aufgeschlossenen Knaben zu widerstehen. Mit dieser hübschen Episode endet der Dialog. Aber man sollte, worauf die Apologie hinweist und was durch den Prozeß bestätigt wird, nicht übersehen, daß die meisten der Untersuchun­gen, die Sokrates geführt hat, weniger versöhnlich ausgeklungen sein dürften. Denn wer ist schon erpicht darauf oder darüber erfreut, sich den Boden unter den Füßen wegziehen zu lassen, auch wenn dieser (Boden) nur die Konsistenz von Pudding hat? —



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Sokrates (PR Hrachovec, 2007/08)