"Zum Verhältnis von Natur und Ontologie im Spätwerk von Maurice Merleau-Ponty"

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von Lukas Egger


Der Umweltschutz bzw. die ökologische Bewegung, die seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zu einem massentauglichen Phänomen avancierte, teilt das unausgesprochene theoretische Fundament mit jener Entwicklung, gegen die sie sich eigentlich wendet, also der Ausbeutung der Natur durch Industrie und Technik, welche spätestens seit der industriellen Revolution in einem solchen Maße durchgeführt wird, dass sie in der Tat bedenklich ist. Die theoretische Grundlage bildet sowohl auf der Seite der Zerstörung der Natur durch den Menschen, als auch dort, wo dieser in ethischem Verantwortungsbewusstsein zum Schutz der Natur auffordert, ein Verständnis des Menschen als jenem Wesen, das sich durch eine solche Distanz von der Natur auszeichnet, dass es sowohl in seiner Macht liegt sie zu zerstören, als auch seine schützende Hand über sie zu legen. Der Umweltschutz erweist sich so als Ausläufer einer Tradition, die die Probleme, die einen Schutz der Natur erst notwendig machten und auf den Plan riefen, selbst hervorbrachte und er wiederholt beständig deren unausgesprochene Dogmen, deren Ursprung bis zur antiken Philosophie und der christlichen Lehre zurückverfolgt werden können: der Mensch ist nicht von dieser Welt, er ist in seinem Wesen ausgezeichnet durch seinen Geist und kann deshalb mit dieser Welt verfahren, wie es ihm beliebt. Zu hinterfragen bleiben hier nicht nur die Richtigkeit dieser Dogmen sondern auch und vor allem deren ungeheure Konsequenzen.

Einen Autor wie Merleau-Ponty im Zusammenhang mit dieser Thematik heranzuziehen ist deshalb nur auf den ersten Blick befremdlich. Zwar konnte er durch seinen frühen Tod im Jahre 1961 nicht mehr an der regen Diskussion über Natur- und Umweltschutz teilnehmen – eine Chance, die er aufgrund seines politischen Sendungsbewusstseins wohl kaum verabsäumt hätte – seine späten Schriften zur Natur und Ontologie geben uns jedoch einen Leitfaden an die Hand, diese Debatte mit anderen Augen zu sehen, beschäftigt er sich doch in seinen letzten Lebensjahren vor allem mit dem Verhältnis zwischen Natur und Ontologie. In seinen Vorlesungen zur Natur am Collège de France und in seinen letzten Schriften, vor allem in „Das Sichtbare und das Unsichtbare“, finden sich einige Fragmente seiner Bemühungen, die klassische Seinslehre, die sich vor allem durch die Dichotomie von Subjekt und Objekt auszeichnet und dessen prominentesten Vertreter Merleau-Ponty in Descartes sieht, zu überwinden und Ansätze zu einer neuen Sicht auf die Natur zu geben.

Die cartesische Unterscheidung – fast braucht man sie nicht mehr zu erwähnen, so geläufig ist sie dem Philosophen und so unmittelbar einleuchtend ist sie auch dem philosophischen Laien – zwischen der ausgedehnten Substanz der Natur und der denkenden Substanz des menschlichen Geistes lässt keine weiteren Modi der Existenz von Gegenständen zu. Etwas ist entweder ausgedehnt oder Geist, dazwischen gibt es keine Alternative und deshalb ist Natur für ihn durch einen „fehlerfreien Automatismus“ (1) gekennzeichnet. Der Mensch, der hingegen durch sein Geist-Sein bestimmt wird, ist in einer solchen Konzeption radikal von der Natur abgeschnitten. Diese Vorstellung vom Menschen spiegelt sich auch in den im Anschluss an Descartes entstehenden Naturwissenschaften wider: der Automatismus der Natur wird zu durchschauen versucht, um ihn für den Menschen nutzbar zu machen und so beschrieben, als wäre der Wissenschaftler ein unbeteiligter Beobachter, der das Geschehen als ein reines Sehen von oben, quasi aus der Sicht Gottes, betrachtete. Dass eine Ausbeutung der Natur Rückwirkungen auf uns selbst haben könnte, kann durch diese theoretischen Vorgaben verständlicherweise nicht in den Blick genommen werden.

Die Dominanz der Naturwissenschaften in der abendländischen Tradition, vor allem seit dem 19. Jahrhundert, führten in der Folge dazu, dass sie allein definieren, was „Sein“ bedeutet und, weil sich in den einzelnen Wissenschaften zunehmend ein Operationalismus breitmacht, der „das Sein auf das, was für ihn handhabbar ist, auf wissenschaftliche Erkenntnisobjekte“ beschränkt und deshalb „immer nur physisch-mathematische Relationen“ (2) findet, scheint die klassische Ontologie unsere Vorstellung vom Sein und der Natur zwar subtiler, aber stärker denn je zu prägen. In unserer Vorstellung von Natur zeigt sich, so Merleau-Ponty, am Deutlichsten die Notwendigkeit der Veränderung unserer Ontologie, weil der Naturbegriff „privilegierter Ausdruck“ (3) einer Ontologie ist.

Was einer solchen Ontologie nun widerspricht, ist unsere tägliche Erfahrung „von der Natur und vom Geist in uns, von der Verbindung aus Seele und Leib, die wir sind“ (4). Bereits in seiner frühen „Phänomenologie der Wahrnehmung“ hatte Merleau-Ponty gezeigt, dass unsere phänomenale Erfahrung des Leibes den klassischen Vorstellungen widerspricht und die Dichotomie von Subjekt und Objekt unterläuft. Später macht er sich nun daran, dies auch von unserer Erfahrung der Natur im weitesten Sinne, also einer Natur, die auch uns, unser Leib-Sein umfasst, darzulegen, denn „unsere innere und äußere Erfahrung der Natur [kann; L.E.] dazu beitragen, eine andere Ontologie zu zeichnen, und aus diesem Grund ziehen wir sie zu Rate“ (5). „Für uns muß die Natur in uns also zum Beispiel einen Bezug zur Natur außer uns haben, die außerhalb von uns liegende Natur muß sogar von der Natur, die wir sind, enthüllt werden. Wir suchen den nexus und nicht die Aufstellung unter dem Blick Gottes.“ (6)

Das zentrale Problem, das sich Merleau-Ponty stellt, ist also der nexus, der Zusammenhang zwischen Natur und (menschlichem) Leib. Der Mensch, der in der Tradition nur als ein „Loch im Sein“ in den Blick genommen wurde, soll jetzt, „an dem Punkt“ gefasst werden, „an dem er in der Natur auftaucht“ (6) und so nicht als „Loch“, sondern als „Falte“ im Sein begriffen werden. Die Schwierigkeit dabei ist jedoch, die reflexive Tätigkeit des Menschen, sein Geist-Sein, das nicht geleugnet werden kann, von der Natur ausgehend zu begreifen und nicht als eine von einem göttlichen Wesen hinabgestiegene Möglichkeit zu fassen. Merleau-Ponty sucht deshalb eine „Art von Reflexion“ (7) die sich bereits auf der Ebene des Leibes abspielt und findet sie in dessen Fähigkeit sich selbst sehen und berühren zu können. Was sich auf den ersten Blick wie eine Banalität ausnimmt, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung zu jenem Ort der Reflexion, der das Leib-Sein, und damit Natur, mit der sprachlich-abstrakten Reflexionstätigkeit verbindet. Der Leib ist nicht nur in der Lage seine Umgebung wahrzunehmen, auf die er immer bezogen bleibt, sondern kann seinen Blick auch auf sich wenden, kann sich selbst betrachten (wenn auch nur partiell) und sich selbst berühren. Das Wort „Reflexion“ muss in diesem Zusammenhang in seiner ursprünglichen Bedeutung, die vom Lateinischen „reflectere“ herstammt und wörtlich „Zurückbiegung“ bedeutet, verstanden werden. Es bedeutet also schon seit jeher die Fähigkeit, sich auf sich zurück zu beziehen und somit „das In-sich-zusammenrollen eines Objekt-Körpers“ (8), welcher so eine „Falte“ bzw. einen „Hohlraum“ einrichtet.

Diese „stumme Eigenreflexion des Leibes“ (9) bildet in der Folge die Grundlage für unsere Fähigkeit der Reflexion und unser Leib ist in dieser Weise bereits in einer vermeintlich rein materiellen Sphäre sprachlich geprägt: „Ein bewegliches Sinnesorgan (das Auge, die Hand) ist schon eine Sprache, denn es ist ein Fragen (die Bewegung) und eine Antwort (Wahrnehmung als Erfüllung eines Vorhabens), sprechen und verstehen. Es ist eine stillschweigende Sprache […]“. (10) Diese perzeptive Sprache und die gesprochene Sprache, „die immer einen Faden Schweigen enthält“, und damit die natürliche Wahrnehmung und die vermeintlich göttliche Reflexionstätigkeit, sind auf diese Weise nicht prinzipiell voneinander getrennt, ihr Unterschied ist „nur relativ“ (11), da die Sprache die Strukturen der Wahrnehmung auf einer anderen Ebene weiterführt und somit den Logos der wahrgenommenen Natur fortsetzt.

Diese Überlegungen bilden Bruchstücke der Ontologie Merleau-Pontys, die er mit dem Namen „Fleisch“ verknüpft wissen wollte. Die Natur bildet einen bevorzugten Ort der Ontologie Merleau-Pontys, nicht nur weil der Naturbegriff für ihn privilegierter Ausdruck einer jeden Ontologie darstellt und er zentrale Bestandstücke dieser auf dem Wege der Auseinandersetzung mit der klassischen Naturphilosophie aber auch Naturwissenschaft gewinnt, sondern vor allem, weil sie sehr stark von der Wahrnehmung ausgeht. Natur kann, so Merleau-Ponty letztlich nur „durch die wahrgenommene Natur gedacht werden“ (12). Dies bedeutet nun jedoch nicht, dass er sich im Grunde nur mit einer Anthropologie beschäftigt, die sich darum bemüht, zu erforschen, wie Natur wahrgenommen wird und welche Phantasien kulturell in sie projiziert werden. Vielmehr versucht Merleau-Ponty die wahrgenommene Natur als jene Ordnung zu begreifen, die eine Kultur und deren Gesetze erst ermöglicht.

Natur umfasst bei Merleau-Ponty letztlich die gesamte wahrgenommene Welt: Da auch die menschliche Kultur und deren Artefakte im Grunde auf dem Logos der Natur beruhen, kann er Natur nicht als gesonderten Bereich fassen. Vielmehr lassen sich für ihn Natur und Kultur nicht prinzipiell scheiden, da, wie wir gesehen haben, die Kultur den Logos der natürlichen Welt weiterführt. Eine explizite Antwort auf die Frage, was schützenswerte Umwelt sei, bleibt Merleau-Ponty deshalb schuldig. Letztlich muss man jedoch einräumen, dass für ihn wohl die gesamte Natur als schützenswert gilt, und, dass Natur aufgrund seines anthropozentrischen Ansatzes mit Umwelt zusammenfällt. Die Frage, warum eine natürliche Umwelt einer technisierten vorzuziehen sei, bleibt bei Merleau-Ponty jedoch offen.

Ähnlich wie Martin Heidegger, der sich zeit seines Lebens dagegen wehrte, eine ausformulierte Ethik vorzulegen, die mit Grundsätzen und elaborierten Argumentationsgängen vorschreiben will, was als gut zu gelten habe und was nicht, beklagt Merleau-Ponty das Fehlen eines grundsätzlichen Ethos, das sich bereits in unseren Vorstellungen von Natur und Mensch äußert. Er begründet die Notwendigkeit von Umweltschutz in seinen Texten deshalb nicht explizit, sondern geht in seiner Befragung der Fundamente des abendländischen Denkens davon aus, dass sich ein anderes Verständnis von Natur, Mensch und ihrer Zusammengehörigkeit auch in unserem Umgang mit Natur bekunden würde.


Fußnoten:

(1) Merleau-Ponty, Maurice: Natur: Aufzeichnungen von Vorlesungen am Collège de France 1956-1960, München: Fink, 2000, S.280 (2) Ebd. S.278 (3) Ebd. S.279 (4) Ebd. S.281 (5) Ebd. S.280 (6) Ebd. S.284 (7) Ebd. S.286 (8) Ebd. (9) Merleau-Ponty, Maurice: Das Sichtbare und das Unsichtbare, München: Fink, 1994, S.201 (10) Merleau-Ponty, Maurice: Natur, S.280 (11) Ebd. S.289 (12) Ebd. S.294


Literatur:

Maurice Merleau-Ponty: „Natur und Logos: der menschliche Leib“, in: Die Natur: Vorlesungen am Collège de France 1956-1960, München, Wilhelm Fink, 2000, S.275-300