"Ästhetik und Ökologie in Gernot Böhmes Konzeption der 'Atmosphäre'"

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von Lukas Egger


Der Begriff der „Atmosphäre“ wird von Böhme in seinem Aufsatz „Atmosphärisches in der Naturerfahrung“ an Gedichten von Gottfried Benn oder Stefan George sowie an japanischen Haiku erläutert und dargestellt. Diese Vorgehensweise, welche die literarischen Kunstwerke keinesfalls nur als bloße Illustration heranzieht, zeigt bereits prima vista die Verschränkung von Ästhetik und Ökologie, die im Denken Böhmes eine zentrale Rolle spielt.

Ästhetik im Sinne Böhmes versteht sich als allgemeine Theorie der Wahrnehmung und kommt so auf den ursprünglichen, aus der griechischen Antike stammenden Begriff der Ästhetik, auf die aisthesis, die sinnliche Wahrnehmung, zurück. Sie ist damit zugleich eine Kritik an der derzeit vorherrschenden Ausrichtung der Ästhetik am Kunstwerk, welches durch semiotische Lektürearbeit entschlüsselt werden soll. Damit einher geht nämlich immer auch ein normativer Anspruch: kreatives Schaffen wird aus der Perspektive der Kunst gesehen und an ihrem Maßstab gemessen. Böhme hingegen geht es um die ästhetische Arbeit in ihrer ganzen Tragweite und mit all ihren Facetten. Sein Blick reicht vom Warendesign bis zur Landschaftsgestaltung und er erweitert so den ästhetischen Diskurs auf bisher unbehandelte und traditionell eher geringgeschätzte Felder. Der Grund für diese Ausdehnung des ästhetischen Diskurses findet sich in Böhmes unkonventionellem Zugang: sein Interesse gilt nämlich dem Problem der Umwelt und von dieser ökologischen Blickrichtung ausgehend „stellt sie [die Ästhetik; L.E.] sich […] ganz anders dar und hat auch ganz andere Aufgaben“ (1).

Das Umweltproblem sieht Böhme in erster Linie als ein Problem der leiblichen Verfasstheit des Menschen, denn die Veränderungen der Natur spüren wir vor allem am eigenen Leib: „Das Umweltproblem ist deshalb primär eine Frage der Beziehung des Menschen zu sich selbst.“ (2) Jede Veränderung der Umwelt findet Eingang in unser Befinden. Die Ökologie muss also den Menschen miteinbeziehen, sie hat sich der Frage nach dem menschlichen Befinden in seiner Umwelt zu stellen und dieses Problem fällt letztlich in den Bereich der Ästhetik.

Einer solchen ökologischen Ästhetik kann es folglich nie um eine klassische Urteilslogik des Schönen gehen, wie dies durch Kant inauguriert wurde, denn eine solche vertreibt Sinnlichkeit und Natur aus ihrem Feld und beschäftigt sich ausschließlich mit der Frage nach dem Wesen der Kunst und unserer Möglichkeit über sie zu reden. Vielmehr geht es einer ökologisch orientierten Ästhetik um die Frage, wie bestimmte Eigenschaften unserer Umgebung unser Befinden modifizieren. Ihre Aufgabe liegt in der Entwicklung der Sinnlichkeit. Sinnliche Wahrnehmung versteht Böhme nun jedoch nicht entlang der empiristischen Tradition als ein Aufsammeln und Zusammensetzen isolierter Sinnesdaten, sondern betont vor allem ihren imaginativen und emotionalen Charakter. Zur Wahrnehmung gehört das affektive Betroffensein durch das Wahrgenommene, sie ist eine Art und Weise, bei den Dingen zu sein. Deshalb ist der primäre Gegenstand der Wahrnehmung, das, was wir immer zuerst, wenngleich auch auf diffuse und unbestimmte Weise wahrnehmen: die Atmosphäre. Sei es, dass wir ein Museum oder eine Kunstgallerie betreten, sei es, dass wir in einen Park oder ein Kaufhaus gehen, das erste, das uns gleichsam unmittelbar und unmerklich umfängt, ist die Atmosphäre des jeweiligen Ortes.

Einen Vorläufer dieses ästhetischen Ansatzes sieht Böhme selbst in der Kunsttheorie Walter Benjamins, welcher in dem Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ die „Aura“ als das zentrale Charakteristikum eines Kunstwerkes bestimmt, durch welches sich auch das Original von seinen technischen Reproduktionen unterscheidet. Wie bei Böhme so steht schon bei Benjamin der zentrale Begriff der Ästhetik in einem Näheverhältnis zur Natur, wenngleich Böhme die religiöse Provenienz des Begriffes der „Aura“ unterschlägt. Außerdem spricht bereits Benjamin von einem „Atmen“ der Aura, womit er zugleich die leibliche Aufnahme dieser zur Geltung bringt.

Zusätzlich zur Leiblichkeit der Atmosphäre deutet Benjamin bereits etwas an, das erst Böhme vollständig ausbuchstabiert, nämlich deren eigentümliche Stellung zwischen Subjekt und Objekt. Die Atmosphäre ist nämlich weder einfach objektiv in den Dingen vorhanden, noch lässt sie sich gänzlich auf die Seite des Subjektes setzen. Traditionellerweise, so z.B. vor allem in der Kantischen Ästhetik, wurde die atmosphärische Wirkung zwar am Rande bemerkt, aber gerade nicht als Naturphänomen gedeutet, sondern letztlich dem ästhetischen Subjekt zugeschrieben. Kants Interesse galt hauptsächlich der Erfahrung der erhabenen Atmosphäre von Gebirgszügen oder schier endlosen Ozeanen. Aufgrund seines Begriffes von Natur, als „Inbegriff aller Gegenstände vor dem äußeren Sinne“ (3), und der vorherrschenden Ding-Ontologie konnte er jedoch nicht anders, als das „Erhabene“ im Naturschauspiel dem Subjekt anzurechnen. Eine solche Subjektivierung, die davon ausgeht, dass eine Stimmung auf die Natur projiziert wird, ist für Böhme jedoch unvereinbar mit unserer Erfahrung von Atmosphären: Im Rückgriff auf die Leibphilosophie von Herrmann Schmitz – einem weiteren für Böhme wichtigen Vordenker – versucht er zu zeigen, dass uns die Atmosphäre gerade dann auffällig wird, wenn wir mit einer ganz anderen Stimmung in eine Situation hineingeraten. So erscheint uns ein Abend gerade dann melancholisch, wenn wir uns gerade in einer anderen Stimmung befinden, sodass uns die Melancholie gleichsam mit sich fortzieht. Schmitz zeigt uns, so Böhme, dass der Projektion immer eine Introjektion vorhergehe: Gefühle werden und wurden in unserer Kultur vielmehr als etwas außerhalb von uns erfahren, als „Mächte, die erregend in die menschliche Leiblichkeit eingreifen“ (4). Damit stellt sich Schmitz und mit ihm Böhme gegen die lange philosophische Tradition einer Ding-ontologie, die die Dinge in einer formalen Verschlossenheit konzipierte. Böhme versucht hingegen das Ding mit einem Terminus Heideggers durch dessen „Ekstasen“ zu fassen, also durch seine Ausstrahlungen, bzw. durch die „Weisen, aus sich herauszutreten“ (5). In diesem Sinne lassen sich Atmosphären als die Ausstrahlungen von Dingen denken. Sie gehören somit weder einfach zu den Objekten, da sie ja vielmehr die „Sphären ihrer Anwesenheit“ (6) sind, noch sind sie rein subjektiv, sondern nur in dem Maße, wie sie eben durch den menschlichen Leib wahrgenommen werden.

Das Atmosphärische, so Böhme in einem weiteren Schritt, gehört „zu den festen Bestandstücken von Natur“ (7). Es wird zwar erst durch den künstlerischen Zugang zu ihr entdeckt, ist jedoch in unserer Lebenswelt hinreichend bekannt und könnte deshalb die Basis für ökologische Initiativen abgeben, denn schließlich ist der Begriff der Atmosphäre nicht auf einen willkürlich getroffenen Ausschnitt der Natur beschränkt. Natur, als natürliche menschliche Umwelt verstanden, erweist sich somit als Ganze schützenswert für Böhme. Sowohl die Natur in Parkanlagen, als auch jene wilde und unberührte hat ihre eigene Atmosphäre und ist deshalb schützenswert. Letztlich erreicht Böhmes Ansatz Umwelt im ganz allgemeinen Sinn: auch Stadtarchitektur, Warendesign und Mode werden von Böhme nicht vernachlässigt.

Da Böhme den Menschen in seiner Leiblichkeit begreift, zeigt er auf, dass Umwelt unser Befinden auf besondere Weise beeinflusst und eine Veränderung der Umwelt so letztlich Auswirkungen auf uns selbst hat. Auf eigenwillige Weise verschränkt Böhme somit eine anthropozentrische Strategie mit einer ästhetischen Begründung für den Umweltschutz. Doch die Allgemeinheit und Universalität des Begriffs der Atmosphäre, die sich auf den ersten Blick als Vorteil ausgibt, verkehrt sich unter der Hand zu einem Nachteil, an dem Böhmes Ästhetik zumindest in ökologischer Hinsicht krankt. Sein Begriff der Atmosphäre verhält sich analog zu Heideggers Begriff der Stimmung, deren Analyse er in „Sein und Zeit“ vornimmt. Kernbestand des Begriffes ist bei Heidegger, dass wir immer auf die eine oder andere Weise gestimmt sind und dass es folglich keine neutrale, objektive und somit stimmungslose Haltung geben kann, bzw. dass der Versuch eine solche einzunehmen, z.B. in den Wissenschaften, selbst wiederum Resultat einer Wertung, bzw. einer Stimmung ist (bei Heidegger die Angst vor dem Tod). Bezogen auf Böhmes Begriff der Atmosphäre bedeutet dies nun, dass es keine neutrale Atmosphäre geben kann, d.h. dass wir keinen Fleck der Erde kennen, der nicht die eine oder andere Atmosphäre hätte. Unser ge-wohntester Ort beispielsweise, unser Wohnzimmer, umfängt uns beim Betreten sogleich mit einer Atmosphäre der Behaglichkeit, genauso wie ein Krankenhaus oder ein Labor, das vollkommen funktional eingerichtet ist und wo es keinen Schmuck und kein Ornament gibt, natürlich selbst wiederum eine Atmosphäre ausstrahlt. In diesem Sinne ist der Begriff der Atmosphäre ein Gegenpol zu Heideggers Begriff der Stimmung. Daraus ergibt sich für die Ökologie ein prinzipielles Problem: Wenn jeder Raum im weitesten Sinne seine eigene Atmosphäre hat, gibt es keinerlei Grund für die Erhaltung der Natur, da womöglich eine vollkommen technisierte Welt seinen eigenen Charme hätte, so wie Konzerte oder künstlerische Happenings wegen der besonderen Atmosphäre oft in alten unbenutzten Fabriken abgehalten werden. Man denke hier vielleicht auch an einige Texte des italienischen Futuristen Filippo Tommaso Marinetti, der genau dies propagiert (8). Auf der Grundlage einer Konzeption von Atmosphären lässt sich deshalb nur schwer begreiflich machen, warum eine natürliche Umwelt einer durch und durch technisierten Welt vorzuziehen wäre.

Außerdem scheint Böhme nicht den Wandel in den Vorstellungen der Natur Rechnung zu tragen. Er neigt zu einer objektivistischen Beschreibung der Atmosphäre, als Introjektion der Dinge, so als ob es für den Menschen nur mehr darauf ankäme, die Ausstrahlung der Dinge aufzunehmen. Eine Kulturgeschichte, die Böhme selbst heranzieht um Schmitz‘ Theorie der Introjektion zu begründen belehrt uns jedoch eines Besseren: Die Alpen z.B. waren lange Zeit kein Ort der Erhabenheit und majestätischen Größe, sondern vor allem ein unwirtlicher Fleck Erde an dem es die Menschen nicht allzu leicht hatten. Erst die Theorien Kants oder die Italienreise Goethes führten zu einem Umdenken. Aus dieser Perspektive scheint die Arbeit des Künstlers oder des Philosophen wohl eher darin zu bestehen, uns eine andere Sicht auf die Wirklichkeit zu geben, als neue Aspekte an ihr zu entdecken, bzw. unsere Wahrnehmung weniger zu schulen, als vielmehr zu formen. Die Kunst belügt so gesehen mehr als sie entdeckt und Böhme bleibt diesem Wandel der Naturvorstellungen in der Kulturgeschichte Rechenschaft schuldig.


Fußnoten:

(1) Böhme, Gernot: Atmosphäre. Essays nur neuen Ästhetik. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995, S.14 (2) Ebd. (3) Ebd. S.81 (4) Ebd. S.30 (5) Ebd. S.33 (6) Ebd. (7) Ebd. S.68 (8) Dass Marinetti nicht so naiv war wie oft angenommen wird belegt vielleicht das folgende Zitat aus „Die drahtlose Einbildungskraft“: „Diejenigen, welche heutzutage Dinge benutzen wie Telephon, Grammophon, Eisenbahn, Fahrrad, Motorrad, Ozeandampfer, Luftschiff, Flugzeug, Kinematograph und große Tageszeitungen, denken nicht daran, daß diese verschiedenen Kommunikations-, Verkehrs- und Informationsformen auch entscheidenden Einfluss auf ihre Psyche ausüben.“


Literatur:

Gernot Böhme: „Atmosphärisches in der Naturerfahrung“ in: Atmosphäre, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1995, S.66-84