Toleranzkonzeptionen (T)
4 mal Toleranz nach Rainer Forst
Der ersten Auffassung zufolge, die ich Erlaubnis-Konzeption nenne, bezeichnet Toleranz die Beziehung zwischen einer Autorität oder einer Mehrheit und einer von deren Wertvorstellungen abweichenden Minderheit (oder mehreren Minderheiten). Toleranz besteht darin, dass die Autorität (oder Mehrheit) der Minderheit die Erlaubnis gibt, ihren Überzeugungen gemäß zu leben, solange sie - und das ist die entscheidende Bedingung - die Vorherrschaft der Autorität (oder Mehrheit) nicht in Frage stellt. Als historisches Beispiel kann das Edikt von Nantes von 1598 dienen, das die Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Hugenotten in Frankreich beenden sollte, und in dem Heinrich IV. erklärt: »Um keinen Anlaß zu Unruhen und Streitigkeiten zwischen Unseren Untertanen bestehen zu lassen,
31 Dies analysiere ich in § 38. 3z Das lässt weiterhin die Möglichkeit zu, innerhalb von und zwischen diesen Konzeptionen eine normative Dynamik von Anerkennungskonflikten zu lokalisieren. Dies knüpft an Honneth, Kampf um Anerkennung, an, allerdings ohne eine immanent aus dem Anerkennungsbegriff entfaltete, teleologische Entwicklungsperspektive.
haben Wir erlaubt und erlauben Wir den Anhängern der sogenannten reformierten Religion, in allen Städten und Ortschaften unseres Königreiches und Ländern Unseres Machtbereichs zu leben und zu wohnen, ohne daß dort nach ihnen gesucht wird oder sie bedrückt und belästigt und gezwungen werden, etwas gegen ihr Gewissen zu tun.«i3 Die mehr als 400 Jahre, die zwischen diesem (1685 widerrufenen) Edikt und unserer Gegenwart liegen, sollten freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Form der Toleranz weiterhin aktuell ist und häufig als Minimalforderung von unterdrückten Minderheiten erhoben wird bzw. im Interessenkalkül von Staaten oder Bevölkerungsmehrheiten eine wichtige Rolle spielt.34 Solange das Anderssein der Minderheit sich in Grenzen hält und sozusagen eine »Privatsache« bleibt, so dass kein gleichberechtigter öffentlicher und politischer Status gefordert wird, kann sie dieser Konzeption zufolge aus primär pragmatischen, aber gegebenenfalls auch prinzipiellen normativen Gründen toleriert werden: aus pragmatischen Gründen, da die tolerierte Minderheit nicht die öffentliche Ruhe und Ordnung stört, während aber andererseits ihr Bekämpfen erhebliche Kosten mit sich bringen würde; und aus prinzipiellen Grün-den, da es bspw. - vor dem Hintergrund eines bestimmten Begriffs des Gewissens - als illegitim (und nicht nur, ggfs. aber auch, als unmöglich) angesehen wird, Personen dazu zu zwingen, ihre tiefsten, insbesondere religiösen Überzeugungen aufzugeben, solange diese nicht zu politisch und ethisch »inakzeptablen« Konsequenzen führen. Gemäß der Erlaubnis-Konzeption bedeutet Toleranz also, dass die Autorität oder Mehrheit, die die Macht und Möglichkeit hätte, ein-zuschreiten und die Minderheit zur (zumindest externen) Konformität zu zwingen, deren Differenz »duldet« und auf eine Intervention verzichtet, während die Minderheit gezwungen ist, die Machtposition der Autorität hinzunehmen. Die Toleranzsituation ist somit nicht-reziprok: Die eine Seite erlaubt der anderen gewisse Abweichungen, solange die politisch dominante Stellung der erlaubnisgebenden Seite nicht angetastet wird.35 Toleranz wird hierbei als per-
33 Edikt von Nantes, zit. in Herdtle u. Leeb (Hg.), Toleranz, 69. 34 Ein weiteres, aufschlussreiches historisches Beispiel, das die Variationsbreite der Erlaubnis-Konzeption zeigt, ist das Millet-System des Osmanischen Reiches, vgl. Kymlicka, »Two Models of Pluralism and Tolerance«. 35 Yovel, »Tolerance as Grace and as Rightful Recognition«, 897 f., nennt diese Form der Toleranz » tolerance as grace«, womit einerseits zu Recht die einseitige und will-
missio mali verstanden, als das Dulden einer weder als wertvoll noch als gleichberechtigt angesehenen Überzeugung oder Praxis, die je-doch nicht die »Grenzen des Erträglichen« überschreitet. Es ist diese Auffassung, die Goethe mit seinem (bereits zitierten) Diktum von der Toleranz als Beleidigung vor Augen hatte.36 (z) Die zweite Konzeption der Toleranz, die Koexistenz-Konzeption, gleicht der ersten darin, dass ihr zufolge Toleranz ebenfalls als geeignetes Mittel zur Konfliktvermeidung und zur Verfolgung eigener Ziele gilt und nicht selbst einen Wert darstellt oder auf starken Werten beruht: Toleranz wird vorrangig pragmatisch-instrumentell begründet. Was sich jedoch verändert, ist die Konstellation zwischen den Toleranzsubjekten bzw. -objekten. Denn nun stehen sich nicht Autorität bzw. Mehrheit und Minderheit(en) gegenüber, sondern ungefähr gleich starke Gruppen, die einsehen, dass sie um des sozialen Friedens und ihrer eigenen Interessen willen Toleranz üben sollten. Sie ziehen die friedliche Koexistenz dem Konflikt vor und willigen in Form eines wechselseitigen Kompromisses in die Regeln eines Modus vivendi ein. Die Toleranzrelation ist somit nicht mehr, wie in der Erlaubnis-Konzeption, vertikal, sondern horizontal: die Tolerierenden sind zugleich auch Tolerierte.37 Die Einsicht in die Vorzugswürdigkeit eines Zustands der Toleranz hat hier freilich keinen normativen Charakter, sie ist eine Einsicht in praktische Notwendigkeiten. Somit führt sie nicht zu einem stabilen sozialen Zustand, denn verändert sich das gesellschaftliche Machtverhältnis zugunsten der einen oder anderen Gruppe, fällt für diese der wesentliche Grund für Toleranz weg.3R Die Koexistenz-Konzeption lässt eine schwächere und eine stärkere Lesart zu. Der ersten zufolge ist Toleranz lediglich eine Folge der Ermattung nach intensiven und erfolglosen Konflikten und Kämpfen und wird als eine Art Waffenstillstand angesehen, der nur so lange bestehen bleibt, wie nicht eine der Parteien sich rascher erholt hat und glaubt, ihr nach wie vor vorhandenes Ziel, soziale Dominanz zu er- kürliche Gewährung von Freiheiten bezeichnet ist, andererseits aber ein bestimmtes Motiv (»beneficence«) unterstellt wird, das nur eines unter vielen anderen möglichen ist.
36 Goethe, «Maximen und Reflexionen«, 507. 37 Vgl. Garzön Valdls, »Nimm deine dreckigen Pfoten von meinem Mozart!«,, 474-477. 38 Vgl. Rawls, «Der Gedanke eines übergreifenden Konsenses«, 310; Fletcher, »The Instability of Tolerance«. 44
reichen, aggressiv verfolgen zu können. Eine solche Toleranzsituation ist extrem instabil und von gegenseitigem Misstrauen gekennzeichnet. Die stärkere Lesart orientiert sich an einer modifizierten Version von Hobbes' Leviathan, indem ihr zufolge die Unterordnung der verschiedenen Parteien unter eine möglichst neutrale und (entgegen Hobbes' Argumentation) auch weltanschaulich-religiös zurückhaltende Oberherrschaft es ermöglicht, dass sich dauerhafte Strukturen der Koexistenz und möglicherweise auch der Kooperation entwickeln, da ein von allen Seiten akzeptierter Rechtszustand besteht 39 Zwar ist für die Beteiligten nach wie vor das strategische Kalkül insgesamt handlungsleitend, doch erscheinen in ihm die Vorteile des Zustands der Koexistenz weitaus attraktiver als die anderen Alternativen. Es kann - einem »Liberalismus der Furcht«40 entsprechend - von einer pragmatischen Einsicht in die zu hohen Kosten der Konfrontation wie auch von einer Einsicht in die Schrecken und Grausamkeiten religiöser Konflikte geleitet sein41 und so im Prinzip der Vermeidung des summum malum einen rational-normativen Kern haben. Dieser führt jedoch nicht zu einer Form der wechselseitigen Anerkennung, die über das Dulden der Anderen hinausgeht und auf weitergehenden moralischen oder ethischen Überlegungen beruht. (3) Im Unterschied hierzu geht die Respekt-Konzeption der Toleranz von einer moralisch begründeten Form er wechselseitigen Achtung der sich tolerierenden Individuen bzw. Gruppen aus. Die Toleranzparteien respektieren einander als autonome Personen bzw. als gleichberechtigte Mitglieder einer rechtsstaatlich verfassten politischen Gemeinschaft.42 Obwohl sich ihre ethischen Überzeugungen des guten und wertvollen Lebens und ihre kulturellen Praktiken stark voneinander unterscheiden und in wichtigen Hinsichten inkompatibel sind, anerkennen sie sich gegenseitig - und hier tut sich eine folgenreiche Alternative auf - als ethisch autonome Autoren ihres eigenen Lebens43 oder als moralisch und rechtlich Gleiche in dem Sinne,
39 Zur Idee einer solchen Entwicklung vgl. Dees, »The Justifcation of Tolerance«. 40 Vgl. Shklar, »The Liberalism of Fear<; Williams, Toleranz - eine politische oder moralische Frage?«. 41 Vgl. Margalit, Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, zo8-zlz; auch Becker, »Nachdenken über Toleranz«. 4z Vgl. die (unterschiedlichen) Respektvorstellungen von Scanlon, »The Difficulty of Tolerance«; Yovel, «Tolerance as Grace and as Rightful Recognition; Bobbio, «Gründe für die Toleranz«, 95 f. 43 Weale, Toleration, Individuen Differences, and Respect for Persons«; in einer spezi- 45
dass in ihren Augen die allen gemeinsame Grundstruktur des politisch-sozialen Lebens - die Grundfragen der Zuerkennung von Rechten und der Verteilung sozialer Ressourcen betreffend44 - von Normen geleitet werden sollte, die alle Bürger gleichermaßen akzeptieren können und die nicht eine »ethische Gemeinschaft« (z. B. eine Religionsgemeinschaft) bevorteilen. Grundlage hierfür ist der Respekt der moralischen Autonomie der Einzelnen und ihres »Rechts auf Rechtfertigung« von Normen, die reziprok-allgemeine Geltung beanspruchen. Ungeachtet der (wichtigen, doch hier nicht weiter thematisierten)45 Rechtfertigungsalternative zwischen einer Theorie, die - dem klassischen Liberalismus folgend - das Recht auf eine autonome Lebensgestaltung als zentral ansieht, und einem Ansatz, der den Grundsatz der unparteilichen Rechtfertigung von allgemeinen Normen der Gerechtigkeit betont, fordert die Respekt-Konzeption nicht, dass die sich tolerierenden Parteien die Konzeptionen des Guten der anderen als ebenfalls (oder teilweise) wahr und ethisch gut ansehen und schätzen müssen, sondern dass sie sie (und hier kommt die Alternative wie-der ins Spiel) als autonom gewählt bzw. als nicht unmoralisch oder ungerecht betrachten können. Respektiert wird die Person des Anderen, toleriert werden seine Überzeugungen und Handlungen. Es lassen sich zwei Modelle der Respekt-Konzeption unterscheiden, das Modell formaler Gleichheit und das qualitativer Gleichheit. Ersteres geht von einer strikten Trennung zwischen dem privaten und dem öffentlichen Raum aus, der zufolge ethische Differenzen zwischen Bürgern auf den privaten Bereich beschränkt bleiben sollten und nicht zu Konflikten in der öffentlich-politischen Sphäre führen
fisch «perfektionistischen« Version Raz, Autonomie, Toleranz und das Schadensprinzip«. 44 Vgl. Rawls, «Die Grundstruktur als Gegenstand«. 45 Es wird sich im Laufe der Untersuchung zeigen, inwiefern die zweite Rechtfertigungsalternative vorzuziehen ist, da die erste auf nicht verallgemeinerbaren, liberalen Auffassungen des guten Lebens und der autonomen Person beruht und zudem in der Toleranzbegründung zu Widersprüchen führt - z. B. dort, wo der Respekt allein für «autonom gewählte« Überzeugungen und Lebensformen zu sehr engen Grenzziehungen führte, während andererseits sehr weite Grenzen folgen würden, wollte man Überzeugungen immer dann tolerieren, wenn sie auf selbstständig getroffene Entscheidungen zurückgingen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang aber zu sehen, wie breit die Palette ethischer Respektbegründungen ist, die bei weitem nicht den Respekt für «frei gewählte« Überzeugungen zum alleinigen Zentrum haben; vgl. dazu § 30.4.
dürfen. Als Bürger sind alle gleich, und als Gleiche stehen sie quasi »neben« oder »über« ihren privaten Überzeugungen. Dieses Modell findet sich in liberalen wie auch in republikanischen Versionen, wobei entweder die persönlich-private Freiheit im Zentrum steht oder die politische Gleichheit der Citoyens; ein Beispiel für Letzteres ist die Auffassung französischer Behörden, dass Kopftücher als religiöse Symbole in einer öffentlichen Schule keinen Platz haben.46 Im Kern geht es dem Modell formaler Gleichheit somit um die Verteidigung klassischer Freiheitsrechte der Bürger und um die Vermeidung ethisch begründeter Diskriminierung. Das Modell qualitativer Gleichheit hingegen reagiert darauf, dass bestimmte strikte Regelungen formaler Gleichheit Gefahr laufen, ethisch-kulturelle Lebensformen zu bevorzugen, deren Überzeugungen und Praktiken leichter mit einer solchen Trennung von »privat« und »öffentlich« vereinbar sind bzw. dem bisherigen Verständnis dieser Trennung entsprechen. Das Modell formaler Gleichheit ist so gesehen selbst potenziell intolerant und diskriminierend gegenüber Lebensformen, die eine Art öffentlicher Präsenz beanspruchen, welche der üblichen Praxis und konventionellen Institutionen widerspricht. Nach dem alternativen Modell respektieren sich Personen als solche, die rechtlich-politisch gleich sind und doch unterschiedliche, politisch relevante ethisch-kulturelle Identitäten haben, welche auf besondere Weise berücksichtigt und toleriert werden müssen, weil die diese Identität konstituierenden Werte und Überzeugungen für Personen eine besondere existenzielle Bedeutung haben. Dieser im Sinne der Fairness geforderte Respekt fordert schließlich bestimmte Ausnahmen oder Änderungen von hergebrachten Regeln und Strukturen.47 Wechselseitige Toleranz impliziert diesem Verständnis nach, den Anspruch anderer auf vollwertige Mitgliedschaft in der politischen Gemeinschaft anzuerkennen, ohne zu verlangen, dass sie dazu ihre ethisch-kulturelle Identität in einem reziprok nicht forderbaren Maße aufgeben müssen. (4) In den Diskussionen über das Verhältnis von Multikulturalismus und Toleranz findet sich zuweilen eine vierte Konzeption, die Wertschätzungs-Konzeption genannt werden kann. Sie enthält eine anspruchsvollere Form wechselseitiger Anerkennung als die Res-
46 Vgl. Galeotti, «Zu einer Neubegründung liberaler Toleranz. Eine Analyse der >Affaire du foulard,« und unten § 38. 47 Vgl. dazu unten gg 37 u. 38.
pekt-Konzeption, denn ihr zufolge bedeutet Toleranz nicht nur, die Mitglieder anderer kultureller oder religiöser Gemeinschaften als rechtlich-politisch Gleiche zu respektieren, sondern auch, ihre Überzeugungen und Praktiken als ethisch wertvoll zu schätzen.48 Damit dies allerdings noch eine Konzeption der Toleranz ist und die Ablehnungs-Komponente nicht verloren geht, muss diese Wertschätzung eine beschränkte bzw. »reservierte« sein, bei der die andere Lebensform nicht - zumindest nicht in den entscheidenden Hinsichten - als ebenso gut oder gar besser als die eigene gilt. Man schätzt bestimmte Seiten dieser Lebensform, während man andere ablehnt; doch der Bereich des Tolerierbaren wird durch die Werte bestimmt, die man in einem ethischen Sinne bejaht. So entspricht dieser Toleranzkonzeption bspw. - in liberaler Perspektive - eine Version des Wertepluralismus, der zufolge es innerhalb einer Gesellschaft eine Rivalität zwischen an sich wertvollen, doch inkompatiblen Lebensformen gibt49 bzw. - in kommunitaristischer Perspektive - die Auffassung, dass es bestimmte, sozial geteilte Vorstellungen des guten Lebens gibt, deren partielle Variationen tolerierbar sind.so
§ 3. Toleranz als normativ abhängiger Begriff
Angesichts dieser vier Toleranzkonzeptionen drängt sich die Frage auf, wie zu entscheiden ist, welche von ihnen in einem bestimmten Kontext - wie dem einer ethisch pluralistischen Gesellschaft - die ge-
48 So etwa Bauman, Moderne undAmbivalenz, z85-29o. Bauman führt diese wechselseitige Verbundenheit auf das gemeinsame Bewusstsein der Kontingenz zurück. Vgl. auch Kristeva, Fremde sind wir uns selbst. Ein ganz anders gelagertes Beispiel liefert Apel, « Plurality of the Good? The Problem of Affirmative Tolerance in a Multicultural Society from an Ethical Point of of View«. Er sieht seitens aller Mitglieder einer solidarischen, allumfassenden Argumentationsgemeinschaft eine Pflicht zu «affirmativer Toleranz«, die mit der Wertschätzung der Pluralität kultureller Traditionen einhergeht und ihre aktive Förderung beinhaltet. Nur so könne dem Prinzip der Berücksichtigung der Interessen aller Diskursteilnehmer Rechnung getragen werden. Ein weiteres Beispiel ist die religiös-pluralistische Auffassung von Mensching, Toleranz und Wahrheit in der Religion, der für eine «inhaltliche Toleranz« der Wertschätzung plädiert. 49 So Raz, »,Autonomie, Toleranz und das Schadensprinzip«. 50 Vgl. Sandel, »Moral Argument and Liberal Toleration: Abortion and Homosexuality«.
eignete, bestbegründete Konzeption ist. In Begriffen der Anerkennung formuliert: Sollte diejenige bevorzugt werden, die die »dünnste«, oder vielmehr die, welche die anspruchsvollste Form wechselseitiger Anerkennung impliziert, von der hierarchischen bzw. strategisch-reziproken in der Erlaubnis- bzw. der Koexistenz-Konzeption über die egalitäre in der Respekt-Konzeption bis zu der ethisch »dichten« in der Wertschätzungs-Konzeption? Es scheint, dass der zunächst deskriptiv eingeführte Begriff der Anerkennung ohne weitere Zusatz-annahmen nicht hinreichend ist, um hier zu entscheiden. Aber wichtiger noch ist, dass auf der Basis des bisher über den Begriff der Toleranz Gesagten dieser selbst die Frage nach der besten Konzeption nicht beantworten kann, da ja alle diese Konzeptionen mit Recht beanspruchen können, Interpretationen des Begriffs dar-zustellen. Mehr noch, es zeigt sich sogar, dass in Bezug auf die Frage, welche der unterschiedlichen Begründungen der Toleranz, die in den verschiedenen Konzeptionen angesprochen wurden, die richtige ist, dieser Begriff offen ist. Er bedarf somit, um einen normativen Gehalt zu erhalten und zu einer begründeten Konzeption zu führen, der Füllung durch andere Prinzipien oder Werte. Und obwohl die oben genannten sechs Charakteristika des Konzepts dem Grenzen setzen, was hier an Füllung in Frage kommt, bleibt doch der Begriff der Toleranz selbst ein normativ abhängiger Begriff. ohne andere normative Grundlagen ist er unbestimmt und leer. Ne Geschichte der Toleranz lässt sich denn auch als Geschichte der Begründungen verstehen, die verwendet wurden, um die drei Komponenten der Ablehnung, der Akzeptanz und der Zurückweisung mit Inhalt zu füllen. Diese reichen von religiösen Begründungen über liberale bis zu utilitaristischen oder kommunitären; dies zu analysieren wird Aufgabe des ersten Teils sein. Worauf es an dieser Stelle ankommt, ist einerseits, diese normative Abhängigkeit des Begriffs zu sehen, andererseits aber auch die Kriterien für normative Begründungen zu bestimmen, die aus ihm selbst erwachsen. Eine wichtige Implikation von Ersterem ist, dass die Toleranz an sich entgegen einer weit verbreiteten Meinung kein Wert ist, sondern erst dadurch zu etwas Wertvollem wird - besonders zu einer Tugend -, dass die entsprechen-den Komponenten gut begründet werden. So kann es auch »falsche Toleranz« geben, besonders dort, wo nicht hinzunehmende moralische Vergehen geduldet werden; wie Thomas Manns Settembrini sagt, kann Toleranz zum Verbrechen werden, »wenn sie dem Bösen
gilt«.57 Toleranz ist somit dann eine positive Haltung oder Praxis, wenn sie zu etwas Gutem dient, d. h. wenn sie um willen der Realisierung höherstufiger Prinzipien oder Werte gefordert und dadurch gerechtfertigt ist. Aus dem Begriff der Toleranz selbst folgen allerdings wichtige Kriterien für die gesuchten normativen Grundlagen - denn das Konzept ist normativ, nicht begrifflich abhängig oder gar amorph. Erstens müssen diese Grundlagen (Prinzipien oder Werte) selbst normativ eigen-ständig sein und nicht wieder von anderen Grundlagen abhängen, was zu begrifflichen Unschärfen und zur Gefahr eines unendlichen Regresses führen würde. Und zweitens müssen diese Grundlagen einen höherstufigen Charakter haben, so dass sie in der Lage sind, in einem praktischen Konflikt zu vermitteln und insbesondere die Toleranz wechselseitig verbindlich zu machen und die Grenzen der Toleranz unparteiisch zu ziehen. Es liegt in der Logik des Begriffs der Toleranz, dass er auf solche Begründungen höherer Ordnung angewiesen ist, denn anders können die Akzeptanz- und die Zurückweisungskomponenten nicht die normative Kraft entfalten, derer sie bedürfen, um Personen mit verschiedenen Wertvorstellungen zu binden und gegenseitige Toleranz zu ermöglichen. Diese Forderung erlaubt es letztlich, worauf es mir in dieser Untersuchung ankommt, nicht nur eine der Konzeptionen der Toleranz als im Kontext einer pluralistischen Gesellschaft zu bevorzugende auszuzeichnen, sondern auch eine spezifische Begründung für sie zu liefern, die den Kriterien normativer Eigenständigkeit, moralischer Verbindlichkeit und Unparteilichkeit am besten entspricht und allen anderen Begründungen über-legen ist. Sie erweist sich als die Konzeption, die in der Lage ist, die Paradoxien des Begriffs aufzulösen. Der Begriff der Toleranz ist daher nicht, wie man vermuten könnte, ein im Kern umstrittener Begriff (»essentially contested concept«). W. B. Gallie hat damit Begriffe - er nennt Kunst, Demokratie, soziale Gerechtigkeit - bezeichnet, die nicht nur in ihrer Verwendung zutiefst umstritten sind, sondern für die keine eindeutigen Standards der Begriffsverwendung auszumachen sind: »[I]t is quite impossible to find a general principle for deciding which of two contestant uses of an essentially contested concept really >uses it best<.«52 Zwi-
51 Mann, Der Zauberberg, 713. 52 Gallie, »Essentially Contested Concepts«, 189 (die zuvor genannte Charakterisierung findet sich auf 169: « [T] here are concepts which are essentially contested, con- 50
schen solchen - in neuerer Terminologie: »inkommensurablen« - Verwendungsweisen gibt es folglich Übergänge nur in der Form von Konversionen, d. h. der Erlangung völlig neuer Sichtweisen in einer radikalen Umwendung. Zunächst gilt es hier zu sehen, dass die These Gallies nicht bedeuten kann, dass der Kern eines Begriffs wie dem der Demokratie, der Gerechtigkeit oder der Toleranz vollkommen umstritten ist, denn dann wäre nicht mehr ersichtlich, ob sich die rivalisierenden Deutungen - Gallie nennt sie »Gebrauchsweisen« (»uses«) - wirklich auf den-selben Begriff beziehen. Umstritten können allein die Interpretationen eines Begriffs sein - diesKonzeptionen } , nicht aber der Begriff selbst in seinem Kerngehalt.53 Und wie anhand des Begriffs der Toleranz gesehen, kann dieser zentrale Gehalt spezifische Kriterien für mögliche Verwendungsweisen enthalten. Aus ihm entspringen all-gemeine Regeln für die richtige Verwendung.54 »Umstritten« ist der Begriff der Toleranz somit nicht in seinem »Wesen« und den Standards seiner Verwendung, wohl aber in seinen Interpretationen, denn mit ihm sind eine Reihe von sich in Einzelfragen widerstreiten-den Konzeptionen vereinbar, die, da der Begriff der Toleranz normativ abhängig ist, mit verschiedenen Begründungen verbunden sind. Dann aber ist die Frage, ob - was Gallie bezweifelt - die Prinzipien der richtigen Verwendung des Begriffs dazu dienen können, die »beste« Konzeption zu ermitteln, wie oben ausgeführt, differenziert zu beantworten. Einerseits können aus dem formalen Begriff der Toleranz nicht all die Ressourcen geschöpft werden, die zur Auszeichnung der »besten« Toleranzkonzeption nötig sind, da dies der These von der normativen Abhängigkeit widerspräche. Andererseits sind aus den genannten Paradoxien des Begriffs wesentliche Kriterien für die Beurteilung der Qualität einer Toleranzkonzeption und -begründung zu gewinnen: je nachdem, ob und wie sie diese aufzulösen vermag. Auch wenn es dazu anderer normativer Ressourcen bedarf, sind diese Kriterien doch dem Begriff der Toleranz eigen und stellen in einem formalen Sinne Vorgaben für die vorzuziehende Konzeption dar. cepts the proper use ofwhich inevitably involves endless disputes about their proper uses on the patt of their users.«).