Verstehen 2 (LWBT)

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"Verstehen" amorph gebraucht, "Verstehen" mehrdeutig.

Amporphes und propositionales Verstehen

"Du hast mit der Hand eine Bewegung gemacht; hast Du etwas damit gemeint? - Ich dachte, Du meintest, ich solle zu Dir kommen".
Die Frage ist, ob man fragen darf, "was hast Du gemeint" Auf diese Frage aber kommt ein Satz zur Antwort. Während, wenn man so nicht fragendarf, das Meinen - sozusagen - amorph ist. Und "ich meine etwas mit dem Satz" ist dann von derselben Form wie: "dieser Satz ist nützlich", oder "dieser Satz greift in mein Leben ein".

Könnte man aber antworten: "ich habe etwas mit dieser Bewegung gemeint, was ich nur durch diese Bewegung ausdrücken kann"?

Zuerst einmal: beide Arten des Verstehens unterscheiden Sprache von anderen Abläufen.

Wir unterscheiden doch Sprache, von dem, was nicht Sprache ist. Wir sehen Striche und sagen, wir verstehen sie; und andere, und sagen, sie bedeuten nichts (oder, uns nichts). Damit ist doch eine allgemeine Erfahrung charakterisiert, die wir nennen könnten: "etwas als Sprache verstehen" - ganz abgesehen davon, was wir aus dem gegebenen Gebilde herauslesen. 

Ich sehe eine deutsche Aufschrift und eine chinesische: Ist die chinesische etwa ungeeignet etwas mitzuteilen? - Ich sage, ich habe Chinesisch nicht gelernt. Aber das Lernen der Sprache fällt als blosse Ursache, Geschichte, aus der Gegenwart heraus. Nur auf seine Wirkungen kommt es an, und die sind Phänomene, die eben nicht eintreten, wenn ich das Chinesische anschaue. (Warum sie nicht eintreten, ist ganz gleichgültig.)

Erlebnisse sind ein passiver Modus der Spracherfahrung

Geben wir denn den Worten, die uns gesagt werden, willkürliche Interpretationen? Kommt nicht das Erlebnis des Verstehens mit dem Erlebnis des Hörens der Zeichen, wenn wir 'die Sprache der Andern verstehen'?

Wenn mir jemand etwas sagt und ich verstehe es, so geschieht mir dies ebenso, wie, daß ich, was er sagt, höre.
Und hier ist Verstehen das Phänomen, welches sich einstellt, wenn ich einen deutschen Satz höre, und welches dieses Hören vom Hören eines Satzes einer mir nicht geläufigen Sprache unterscheidet.

Die Chiffre: ein Übergang

Denken wir an eine Chiffre: Ein Satz sei uns in der Chiffre gegeben und auch der Schlüssel, dann ist uns natürlich, in gewisser Beziehung, Alles zum Verständnis der Chiffre gegeben. Und doch würde ich, gefragt "verstehst Du diesen Satz in der Chiffre", etwa antworten: Nein, ich muß ihn erst entziffern; und erst, wenn ich ihn z.B. ins Deutsche übertragen hätte, würde ich sagen "jetzt verstehe ich ihn".
Wenn man hier die Frage stellte: "In welchem Augenblick der Übertragung (aus der Chiffre ins Deutsche) verstehe ich den Satz", so würde man einen Einblick in das Wesen des Verstehens erhalten.

Ich sage einen Satz "ich sehe einen schwarzen Kreis"; aber auf die Wörter kommt es doch nicht an; setzen wir also statt dieses Satzes "a b c d e". Aber nun kann ich nicht ohne weiteres mit diesem Zeichen den oberen Sinn verbinden (es sei denn, daß ich es als ein Wort auffasse und dies als Abkürzung des oberen Satzes). Diese Schwierigkeit ist doch aber sonderbar. Ich könnte sie so ausdrücken: Ich bin nicht gewöhnt statt 'ich' 'a' zu sagen und statt 'sehe' 'b', und statt 'einen' 'c', etc.. Aber damit meine ich nicht, daß ich, wenn ich daran gewöhnt wäre, mit dem Worte 'a' sofort das Wort 'ich' assoziieren würde; sondern, daß ich nicht gewöhnt bin 'a' an der Stelle von 'ich' zu gebrauchen - in der Bedeutung von 'ich'.

Verstehen ist auch aktiv aufzufassen

"Ich sage das nicht nur, ich meine auch etwas damit". - Wenn man sich überlegt, was dabei in uns vorgeht, wenn wir Worte meinen (und nicht nur sagen), so ist es uns, als wäre dann etwas mit diesen Worten gekuppelt, während sie sonst leer liefen. - Als ob sie gleichsam in uns eingriffen.

Ich verstehe einen Befehl als Befehl, d.h., ich sehe in ihm nicht nur diese Struktur von Lauten oder Strichen, sondern sie hat - sozusagen - einen Einfluß auf mich. Ich reagiere auf einen Befehl (auch ehe ich ihn befolge) anders, als etwa auf eine Mitteilung oder Frage.

Der Satz, wenn ich ihn verstehe, bekommt für mich Tiefe.

Ich sage: Das Verstehen bestehe darin, daß ich eine bestimmte Erfahrung habe. --
Daß diese Erfahrung aber das Verstehen dessen ist - was ich verstehe - besteht darin, daß diese Erfahrung ein Teil meiner Sprache ist.

Man kann manchen Satz nur im Zusammenhang mit anderen verstehen. Wenn ich z.B. irgendwo lese: "nachdem er das gesagt hatte, verließ er sie, wie am vorigen Tag". Fragt man mich, ob ich diesen Satz verstehe, so ist nicht leicht, darauf zu antworten. Es ist ein deutscher Satz und insofern verstehe ich ihn. Ich wüßte, wie man diesen Satz etwa gebrauchen könnte, ich könnte selbst einen Zusammenhang für ihn erfinden. Und doch verstehe ich ihn nicht so, wie ich ihn verstünde, wenn ich die Erzählung bis zu dieser Stelle gelesen hätte. (Vergleiche Sprachspiele.)

Umweg: Bildverstehen

Was heißt es, ein gemaltes Bild zu verstehen? Auch da gibt es Verstehen und Nichtverstehen. Und auch hier kann " verstehen" und "nicht verstehen" verschiedenerlei heißen. - Wir können uns ein Bild denken, das eine Anordnung von Gegenständen im dreidimensionalen Raum darstellen soll, aber wir sind für einen Teil des Bildes unfähig, Körper im Raum darin zu sehen; sondern sehen nur die gemalte Bildfläche. Wir können dann sagen, wir verstehen diese Teile des Bildes nicht. Es kann sein, daß die räumlichen Gegenstände, die dargestellt sind, uns bekannt, d.h. Formen sind, die wir aus der Anschauung von Körpern her kennen, es können aber auch Formen auf dem Bild dargestellt sein, die wir noch nie gesehen haben. Und da gibt es den Fall, wo etwas - z.B. - wie ein Vogel aussieht, nur nicht wie einer, dessen Art ich kenne; oder aber wo ein räumliches Gebilde dargestellt ist, dergleichen ich noch nie gesehen habe. Auch in diesen Fällen kann man von einem Nichtverstehen des Bildes reden, aber in einem anderen Sinne als im ersten Fall.

Aber noch etwas: Angenommen, das Bild stellte Menschen dar, wäre aber klein und die Menschen darauf etwa ein Zoll lang. Angenommen nun, es gäbe Menschen, die diese Länge hätten, so würden wir sie in dem Bild erkennen und es würde uns nun einen ganz andern Eindruck machen, obwohl doch die Illusion der dreidimensionalen Gegenstände ganz dieselbe wäre. Und doch ist dieser tatsächliche Eindruck, wie er da ist, unabhängig davon, daß ich einmal Menschen in der gewöhnlichen Größe, und nie Zwerge, gesehen habe, wenn auch dies die Ursache des Eindrucks ist.

Dieses Sehen der gemalten Menschen als Menschen (im Gegensatz etwa zu Zwergen) ist ganz analog dem Sehen der Zeichnung als dreidimensionales Gebilde. Wir können hier nicht sagen, wir sehen immer dasselbe und fassen es nachträglich, einmal als das Eine, einmal als das Andre auf, sondern wir sehen jedes Mal etwas Anderes.

Nutzanwendung: Verstehen als Sichtweise

Und so auch, wenn wir einen Satz mit Verständnis und ohne Verständnis lesen. (Erinnere Dich daran, wie es ist, wenn man einen Satz mit falscher Betonung liest, ihn daher nicht versteht, und nun auf einmal daraufkommt, wie er zu lesen ist.)

(Beim Lesen einer schleuderhaften Schrift kann man erkennen, was es heißt, etwas in das gegebene Bild hineinsehen.) 

Wenn man eine Uhr abliest, so sieht man einen Komplex von Strichen, Flecken etc., aber auf ganz bestimmte Weise, wenn man ihn als Uhr und Zeiger auffassen will.

Wir könnten uns den Marsbewohner denken, der auf der Erde erst nach und nach den Gesichtsausdruck der Menschen als solchen verstehen lernte und den drohenden erst nach gewissen Erfahrungen als solchen empfinden lernt. Er hätte bis dahin diese Gesichtsform angeschaut, wie wir die Form eines Steins betrachten.

Kann ich so nicht sagen: er lernt erst die befehlende Geste in einer gewissen Satzform verstehen?

Chinesische Gesten verstehen wir so wenig, wie chinesische Sätze.