MSE/Vo 07
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Roh-Transkription MSE/Vo 07 (20.05.2011)
Inhaltsverzeichnis
Wende zur Gegenwart
Wir haben uns dieses Semester bereits ausführlich mit Fragen der Antike und des Christentums beschäftigt. Das wird in dieser Vorlesung weiter ein Thema sein, aber die Wende zur Gegenwart ist für heute auch vorgesehen. Es wird insbesondere zwei Bereiche geben, in denen ich diesen großen Sprung aus den Überlegungen jener Zeit der Übergänge zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit in die Gegenwart skizzieren werde - einerseits anhand der Grammatologie (1967) von Jacques Derrida, der eine Zugangsweise zum Umgang mit Texten vorgeschlagen hat, die – wie man anhand einer bereits sehr frühen Bemerkung aus dem dritten Viertel des 20. Jahrhunderts von Walter Ong erkennen kann - eine gewisse Irritation und einen gewissen Konfliktstoff bedeutet. Was Jacques Derrida ganz unabhängig von dieser Tradition, die ich Ihnen bisher dargestellt habe, mit dem Verhältnis von Sprache (dem gesprochenen Wort) und Schrift macht, betrifft die gegenwärtige Diskussion noch immer und ich werde diesen Verweis von Walter Ong auch als ein Sprungbrett verwenden, um in diese gegenwärtige Diskussion einzuführen.
Unabhängig von und parallel zu der Ong – Derrida Diskussion, der Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Gegnern einer Privilegierung der Mündlichkeit gegenüber der Schriftlichkeit, möchte ich einen zweiten Bereich diskutieren, den man in Anschluss an Walter Ong die sekundäre Oralität nennen kann. Walter Ong hat seine Überlegungen schon Ende des vergangenen Jahrhunderts durch einen Hinweis darauf ergänzt, dass wir dabei sind, uns aus dem Zeitalter der Schriftlichkeit, der Gutenberg-Galaxis zu entfernen – insbesondere durch die Massenmedien Radio und Fernsehen. Ong betont, dass die instantane, weltweit verteilte Massenkommunikation auf der Basis von Fernseh- und Videoübertragungen einen Zustand im Bereich der Medien erzeugt, der sich von der bisherigen Situation der Schriftlichkeit (Bücher) grundlegend unterscheidet. Damit hat Ong zwar Weitblick bewiesen, ich möchte diesem Gedanken aber noch einen weiteren Dreh geben, den Sie auch einem Teil des Titels der Vorlesung ("elektronisch") entnehmen können. Heutzutage haben wir im Sinne der sekundären Oralität nicht nur gesprochenes, lebendiges Wort, das (inklusive Ansichten) die Kultur der Schriftübermittlung modifiziert und auch schon überlagert, sondern wir haben eine Mündlichkeit zweiter Stufe, eine Überlagerung der Schriftlichkeit auf der Basis von digitaler Datenverteilung und Datenkommunikation. Ong hat diesen Punkt nicht gesehen und auch bei Derrida findet man ihn nicht auf diese Weise. Diese Zugänglichkeit, Gegenwärtigkeit, Datenkommunikation im Sinn von live Charakter, die die Züge der Mündlichkeit trägt, baut auf Schriftlichkeit auf, etwa auf den Internetprotokollen (digitale Technik). Über die digitalisierten Kommunikationslinien, die das Internet heutzutage zum Laufen bringen, werden Kommandos und Texte transportiert - die Basis von Audio, Video oder Streaming im Internet ist Text. Das heißt, hier zeigt sich eine Rolle von Text, die sich ganz grundsätzlich von jener unterscheidet, die Ong (oder auch Derrida) im Auge hat. Auf diese Wende möchte ich Sie vorbereiten, und das ist auch eine der Zielbestimmungen, auf die hin ich diese Vorlesung angelegt habe.
Heute werde ich auf der einen Seite die Phänomenologie der Mündlichkeit/Schriftlichkeit von Walter Ong zu Ende führen, und noch kurz darauf hinweisen, inwiefern sich da ein interessanter Bezug zur Entwicklung des Christentums herstellen lässt, um dann genauer darauf einzugehen, was Ong über Schriftlichkeit und Tod (Schriftlichkeit und Vergangenheit) im Gegensatz zu Mündlichkeit und Leben sagt.
Sekundäres Modellierungssystem, Phon und Phonem
Derrida hat darauf hingewiesen, dass es kein linguistisches Zeichen gibt, bevor die Schrift realisiert wird und man die gesprochene Mitteilung nicht auf die Art und Weise behandeln kann, wie man gewohnt ist, in einem alphabetischen System Zeichen zu verwenden. Das hängt damit zusammen, dass die Entstehung der Rede in der menschlichen Entwicklung eine einigermaßen naturgegebene Affäre ist. Kinder lernen sprechen, so ähnlich wie sie lernen, sich nicht zu verbrennen oder nicht einfach auf die Straße zu laufen - dazu müssen sie nicht in die Schule gehen. Das sind im menschlichen Organismus angelegte Abläufe, die bereits über Jahrtausende funktionieren, ohne dass man besonders darauf achtet, welche Techniken hier zur Anwendung kommen. Darüber legt sich eine zusätzliche Analyseebene, die Ong hier im Sinne von Lotmann anspricht, ein so genanntes sekundäres Modellierungssystem, das darin besteht, das, was im Sprechen geschieht, strukturell nach eigenen Gesetzlichkeiten zu analysieren, zu organisieren, zu verwalten und technisch entsprechend auszunützen. Es geht daher nur um diesen kleinen Schritt, der z.B. vollzogen wird, wenn man in der Schule sitzt und das ABC auf die Tafel geschrieben wird - eine Analyseform der gesprochenen Sprache, die sich dadurch ergibt, dass man aus den realisierten Kommunikationszusammenhängen bestimmte Features herausdestilliert. In der Volksschule sind es Buchstaben, die dann wiederum zu Wörtern zusammengesetzt werden. In einem breiteren wissenschaftlichen Kontext spricht man zunächst einmal von Phonen. Ein Soundevent, das uns umgibt, wird zum Phon, das sich von Krawall oder Vogelstimmen unterscheidet, insofern es ein geregeltes, wiederholbares, akustisches, von Menschen erzeugtes Ereignis ist, das sich in einer Terminologie beschreiben lässt, die darauf zurückgreift, wie dieses Phon artikuliert wird und wo es entsteht. Die Entstehungsorte der Phone werden zu deren Erklärung herangezogen: P, T sind Plosivlaute, G und K Gutturallaute, etc. Die Beschreibung dieser akustischen Events geschieht aufgrund der Physiologie des menschlichen Wesens, das solche Laute produziert und gelernt hat, seine Mundpartien als Artikulationsraum zu verwenden. Wir haben also einerseits das Phonische, diese Herstellung, die Phonetik (die Lehre von den so erzeugten Lauten) und andererseits die Phonologie, die noch darüber hinausgeht. Die Phone als produzierte akustische Events müssen auch in Hinblick darauf gesehen werden, dass sie Bedeutung produzieren und tragen, dass sie etwas sagen. Das ist zugleich der Anfang der linguistischen strukturalen Sprachwissenschaft, die in der Philosophie mit großem Echo aufgenommen worden ist. Ein Beispiel einer phonetischen Produktion wäre, wenn ich etwas sage wie: Bund, Band, Bund, Band, Bund, Band. Sie hören, dass das B und nd immer ungefähr gleich klingen, dazwischen aber liegt etwas anderes (u und a). Im Sinne der Phonologie handelt es sich um zwei Phoneme – zwischen B und nd - zwei Phone, die eine unterschiedliche Bedeutung tragen, entsprechend der inhaltlichen Unterscheidung zwischen Bund und Band. Sie haben an der Stelle die Kreuzung zwischen körperlich erzeugten Lautereignissen und der Verwendung dieser körperlich erzeugten Lautereignisse für Unterschiede in einer Sprache. Wenn Sie eine Sprache analysieren möchten, ist die wichtigste anfängliche Differenzierung, ein solches Lautereignis einmal versuchsweise zu isolieren und durch ein anderes Lautereignis zu ersetzen. Damit ist nun plötzlich eine andere inhaltliche Konnotation verbunden. Ein auf diese Weise analysiertes Sprachsystem umfasst ein Insgesamt, ein Spektrum von Unterscheidungen artikulatorischer Art, die nicht nur einfach körperliche Unterscheidungen sind, sondern Unterscheidungen in der Stimmproduktion, an die sich Unterscheidungen in dem, worüber gesprochen werden soll, festmachen - und dabei handelt es sich um die Phoneme. Das war ein kurzer Rückblick auf den analytischen Hintergrund dessen, was dann als Buchstabe an der Tafel steht. Phoneme sind das, was wir in Schriftzeichen in unserer Praxis niederlegen - Kurznotationen für diese von mir eben beschriebene, durch eine analytische Betrachtungsweise erschlossene, elementare Gegebenheit von Sprechen. Wenn Sie einfach nur sprechen, dann brauchen Sie das nicht. Wenn Sie allerdings ein Alphabet lernen, müssen Sie implizit diese Form von Analyse mitvollziehen, die man als sekundäres Modellierungssystem bezeichnen kann. Dieses sekundäre Modellierungssystem - und das ist die Pointe im Zusammenhang mit der Mündlichkeits-/Schriftlichkeitsdiskussion - ist geradezu der Einstieg in die Produktion von Texten. Stellen Sie sich die simple Situation vor, dass jemand redet und Sie sagen "Nicht so schnell, ich möchte das mitschreiben" oder ich sage "sekundäre Oralität" und Sie schreiben sozusagen schon mit. Sie können auch immer wieder bei den Transkriptionen der Vorlesung ein Verschwimmen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit feststellen, wenn ich Begriffe verwende, die die transkribierende Person nicht kennt und sozusagen phonetisch mitschreibt, was sie hört. In diesem Fall geht aber die Verständlichkeit verloren, da die Umsetzung der Soundevents in die Vertextualisierung nicht korrekt ist. Einen phonetisch transkribierten Begriff werden Sie nicht im Wörterbuch finden. Für eine korrekte Transkription sind daher viele Konventionen einzuhalten, gleichzeitig ist diese Vertextualisierung aber etwas, das es Ihnen ermöglicht eine Allgemeinheit zu erzeugen, die sich ausnützen lässt. Nehmen Sie nur die Vielzahl der österreichischen Dialekte, etwa die unterschiedliche Aussprache von Vokalen, die wir mühelos verstehen, die aber zu einem fürchterlichen Chaos führen würde, wenn man sie phonetisch transkribiert. Oder wenn jemand beispielsweise über Wittgenstein redet ("stein" in Lautsprache: ʃtaɪ̯n, siehe Internationales Phonetisches Alphabet (IPA)), Engländer ist und "Wittgenstin" sagt, würde er schlicht über eine andere Person sprechen. Wir besitzen ein großes Spektrum von Flexibilität in der Reaktion auf gesprochenes Material, um zu verstehen, worum es da geht. Wittgenstein, "Wittgens-tein" und "Wittgenstin" – wären für jemanden, der den Philosophen Wittgenstein nicht kennt, unterschiedliche Personen – Sie, weil Sie Philosophie studieren, normalisieren das hingegen ganz mühelos. Diese Art von Normalisierung führt etwa dazu, dass es eine internationale Wittgenstein-Forschung gibt, die ohne dieses Regularisierungssystem zumindest entscheidend erschwert werden würde.
Words are not Signs
Derrida hat betont, dass es kein linguistisches Zeichen vor dem Schreiben gibt, um die Privilegierung der Sprache in Frage zu stellen und auf jene Effekte hinzuweisen, die ich gerade beschrieben habe. Vieles von dem, was wir brauchen, müssen, können, haben wir heutzutage nur über Sprache als verschriftlichte Sprache. Eigentlich können wir noch nicht einmal von einem Zeichen reden, wenn wir uns nur auf das Mündliche beziehen. Für Walter Ong ist das eine Provokation und ein Skandal, vor allem weil Derrida von Saussure aus der linguistischen Inspiration des 20. Jahrhunderts kommt - einer Sprachphilosophie, die daran anknüpft, dass Sprache distinkte, in sich strukturell zusammenhängende Mitteilungsform ist. Das ist die Basis und zugleich Voraussetzung des Strukturalismus. Entstanden ist der Strukturalismus Ende des 19. Jahrhunderts in der linguistischen Theorie auf der Basis der Erkenntnis, dass Sprache mit bedeutungstragenden internen Differenzen (wie Band und Bund) organisiert ist. Derrida verweist zwar darauf, dass wir diese Mündlichkeit brauchen, aber solange wir uns mit Mündlichkeit beschäftigen, haben wir noch nicht einmal ein Zeichen. Warum? – Weil Zeichen so entstehen, wie ich es gerade beschrieben habe, aus dem Alphabet. Für Ong stimmt das zwar, er betont aber, dass es sich um ein zweitstufiges Modellierungssystem handelt: "but neither is there a linguistic sign after writing if the oral reference of the written text is adverted to." Das ist ein wichtiger Punkt, der ein bisschen subtil ist. Zeichen sind Schriftzeichen und nicht Phone, und die Phoneme sind sozusagen auch von der Schrift inspiriert. Aber gesetzt, ich habe jetzt ein Schriftzeichen: Was mache ich damit und wann ist es ein Schriftzeichen? Für Walter Ong ist ein Zeichen nur dann ein Schriftzeichen, wenn es als Aufzeichnung von Sprache wahrgenommen und umgesetzt wird. Wenn Sie an der Wand hier eine Reihe von Zeichen sehen - und hier gibt es eine Reihe von Zeichen – dann werden Sie mir vielleicht nicht glauben, wenn ich sage, dass das eine interessante Mitteilung aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert ist. Um das plausibel zu machen, müsste ich erklären, wo hier die Buchstaben sind und woraus sich das zusammensetzt. Worin liegt der Unterschied, ob es sich hier um Klebebandreste oder eine Mitteilung aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert handelt? Ich müsste Ihnen eine Schriftstruktur zeigen, dass es sich um Zeichen handelt, die sich separat identifizieren lassen und für die ich eine Codierungsfunktion angeben kann - eine Darstellungsfunktion in Hinblick auf ein Kommunikationssystem, das einmal existiert hat. Damit habe ich jetzt allerdings in einem zweiten Schritt etwas gesagt, wo ich der gesprochenen Sprache nicht entkomme: mein Verweis darauf, diese Aufzeichnung strukturiert als Codierung eines Kommunikationssystems zu betrachten. Wie komme ich zu dem Kommunikationssystem? Die erste Frage, die sich hier anbietet, ist natürlich: Welche Sprache ist hier codiert?
- StudentIn: Morsezeichen – kurz, lang, lang, etc.
Nehmen wir an, es handelt sich tatsächlich um Morsezeichen. Damit kennen wir das Alphabet, es ist ein Morse-Alphabet. Die nächste Frage ist, welche Sprache denn da in einem Morse-Alphabet abgebildet ist? Ich muss auch wissen, welche Laute dieses "kurz-lang-lang" codiert, weil nur dann kann ich daran gehen mir zu überlegen, welche menschliche Mitteilung hinter dieser Art von Notation steckt - die sich zunächst einmal auf Gesprochenes bezieht - um diese auf ihre Phoneme hin zu analysieren. Wenn ich hier Ong nur kurz interpretiere, dann es ist schon richtig, dass wir hier diese Art von schriftlicher Mitteilung haben. Wollen wir diese Mitteilung aber wirklich verstehen, dann müssen wir zuerst auf die gesprochene Sprache zurückgreifen, die da dahinter steht. Ong gibt dem ganzen allerdings auch einen christlichen Touch und das ist einer der Gründe, warum ich es instruktiv finde, ein bisschen genauer auf das Christliche einzugehen. Er spricht einerseits vom "lebendigen Wort", das wir verstehen können und andererseits vom niedergeschriebenen, verschriftlichten Wort, das uns ungeahnte Analysemöglichkeiten erschließt, das aber, ohne dass dahinter ein lebendiges Wort steht, letztlich ein totes Wort ist. Dieses Thema, die Elternlosigkeit der Schrift, kennen Sie bereits von Platon.
- StudentIn: Es gibt ja Menschen, die keine Laute verarbeiten können (Taubstumme), die aber trotzdem eine Zeichensprache entwickelt haben. Wird hier diese Transformationsstufe praktisch übersprungen?
Das würde ich nicht sagen. Meine Vermutung dazu wäre die folgende: Beim Erlernen einer Zeichensprache findet ein ähnlicher Prozess statt wie beim natürlichen Erlernen einer gesprochenen Sprache, nur dass dabei nicht die Stimmbänder verwendet werden, sondern Gesten. Eine Gestensprache als eine Sprache, die zumindest etwas mit Körper zu tun hat, ist an dieser Stelle genauso vorausgesetzt. Ihr Hinweis ist aber deswegen wichtig, weil man hier das folgende noch deutlicher sieht: Wenn wir etwa von einem Säugling ausgehen, der zwei Tage alt ist, dann beginnt der nicht einfach zu sprechen. Aber wie kommt dieser Säugling dazu zu sprechen? Das ist nur innerhalb einer Gesellschaft möglich – wobei ich jetzt einmal von der Schriftlichkeit absehe – in der Menschen in der Lage sind, mit Hilfe ihrer Körper genügend differenzierte Mitteilungen zu produzieren, sodass sie sich mit anderen über bestimmte Ereignisse verständigen können. Das ist die Voraussetzung, die hier sozusagen schon mit verpackt ist. In der Herausbildung der menschlichen Gesellschaft ist es jeweils notwendig, dass Gruppen, die miteinander interagieren, die nötige Differenzierung der Artikulationssysteme lernen. Diese Differenzierung brauchen sie zunächst einmal nicht zu analysieren, es ist ausreichend, wenn sie in der Lage sind, Unterschiede im Zeichensystem als Unterschiede in der inhaltlichen Kommunikation zu verwenden.
- StudentIn: Es gab ja das Experiment von Friedrich II. aus dem Geschlecht der Staufer im 13. Jahrhundert, auf der Suche nach der Ursprache. Er hat Säuglinge ihren Eltern weggenommen und den Ammen, die sich um diese kümmern sollten, gesagt, sie dürften nicht mit ihnen sprechen, keine Liebkosungen, keine Streicheleinheiten. Es sind fast alle Kinder gestorben, weil die Affekte, die Zuneigung und Zärtlichkeiten gefehlt haben. Daran sieht man auch die Wichtigkeit von Kommunikation oder welcher Art von Kommunikation auch immer in der Gesellschaft.
Heutzutage würde man vermutlich sagen, die Neurophysiologie des menschlichen Wesens ist darauf angelegt bestimmte Inputs zu bekommen, die wiederum Gehirnprozesse anregen, die dafür verantwortlich sind, dass man Fähigkeiten zur Differenzierung und Kommunikation ausbildet. Es ist natürlich nicht ausreichend, dass man Finger hat oder eine Zunge, sondern es muss den nötigen neurophysiologischen Apparat geben, der auf diese Dinge differenziert reagiert. In Bezug auf das Experiment von Friedrich II. würde ich sagen, dass das bei normalen Sprechprozessen ohne Analyse gelingt, wobei Menschen, die die dazu erforderlichen Instrumente nicht zur Verfügung haben, sich unter bestimmten Umständen anderer solcher Mittel bedienen können. Geht man von einem solchen differenzierten System aus, so kann man etwas machen, wie ich Ihnen ansatzweise vorgesprochen habe, eine Analyse dieses differenzierten Systems in Hinblick auf eine Notation, ein schriftliches Verfahren, wo man jene Sachen herausabstrahiert. Mit Hilfe einer solchen Analyse hat man dann auch viel bessere Möglichkeiten, allenfalls Störungen, z.B. Sprachhemmungen, entgegenzuwirken, auch auf einer körperlichen Ebene. De facto verfügen wir zusätzlich zu diesem globalen Kompetenzbereich des Sprechens – das wir lernen, indem wir es einfach tun - natürlich auch über die Kenntnis der Sprachstrukturen und der Schwierigkeiten der Sprache, und können das auch wiederum in der Sprecherziehung einsetzen. Diese Erkenntnis, dass es Kommunikationssysteme gibt, die z.B. bestimmte Schwierigkeiten nicht haben, die sich bei anderen ergeben, ist dann ein sekundärer Effekt.
Ich möchte nun zusammenfassen, was Walter Ong an dieser Stelle sagt und was ich durch den Hinweis auf den Morsecode verdeutlicht habe. Für ein Script, für ein Schriftstück, ein Textfragment ist es unmöglich, dass es mehr ist als Zeichen auf einer Oberfläche. Eigentlich sind es sogar nur Schwärzungen, Einkerbungen auf einer Oberfläche, es sei denn, dass ein bewusstes menschliches Wesen diese Zeichen als Ansatz für entweder reale oder vorgestellte gesprochene Worte nimmt, sei es direkt oder indirekt. Das heißt, der Bezug zu dieser gesprochenen Sprache, für die die Schriftsysteme eine sekundäre Modellierung sind, ist letztlich nicht wegzudenken.
Walter Ong stellt diesen Bezug her, dass die Mündlichkeit (die Stimme) eine Gegenwärtigkeit hat, die sich von der Gegenwärtigkeit der visuell fixierten Zeichen unterschiedet, weil das Ansehen, das Visuelle das Feld zerteilt und eine Form von Organisation und Differenzierung ist, die für sich bestehen kann, ohne dass es wie bei der Stimme einen ständigen Akt der Realisierung braucht. Ich habe Ihnen das im Zusammenhang mit Chor und "Alle-miteinander-reden" bereits vorgestellt. Anhand von Kalendern lässt sich das auch ganz schön sehen: Ein Kalender teilt die Zeit in eine Sequenz von Tagen ein, die sich durch das einfache Ablaufen der Zeit nicht ergibt. Ein Kalender ist somit ein über die Zeit gelegtes, quasi-alphabetisches System. Wir nehmen hier Differenzierungen vor, wobei uns niemand zwingt, diese Unterschiede zu machen. Das ist analog zu dem, was ich Ihnen über Phonem und Phon gesagt habe. Prinzipiell zwingt uns niemand dazu, dass wir sagen, wenn es einmal dunkel und hell wird, dann ist das ein Tag. Das ist auch ein schönes Beispiel eines sekundären Modellierungssystems, eine Situation, die jener der Schrift ähnlich ist, nämlich dass wir den Gang der Zeit, das Leben der Zeit voraussetzen müssen, damit wir etwas mit Kalendern anfangen können, mit dieser Art von Modellierungssystem und damit, dass es uns im Zusammenhang mit visuellen Ereignissen viel leichter ist, diese Unterschiede festzuhalten und weiterzugeben, viel leichter als wenn wir einfach nur etwas hören. Das ist auch der Grund, warum Sie mitschreiben.
Noch ein letzter Hinweis auf Ong zu Derrida: Er gibt Derrida recht und da bezieht er sich auf die Grammatologie, wenn dieser sagt, dass Schrift nichts anderes ist als eine Beigabe zum gesprochenen Wort. Schrift ist mehr, [b]ut to try to construct a logic of writing without investigation in depth of the orality out of which writing emerged and in which writing is permanently and ineluctably grounded is to limit one’s understanding, although it does produce at the same time effects that are brilliantly intriguing but also at times psychedelic, that is, due to sensory distortions. Nach Ong macht man sich künstlich blind, wenn man diese wichtige Funktion der Mündlichkeit nicht berücksichtigt. Die Verzerrung, die Ong Derrida an dieser Stelle vorwirft, besteht darin, dass er die Schrift sozusagen herausprojiziert und den Bereich der Mündlichkeit wegblenden will. Den Primat der Mündlichkeit, um den es da geht, soll man, muss man, kann man nach Derrida dekonstruieren. Dekonstruktion ist der Fachausdruck, den Derrida unter anderem zu einer Kritik dieses Primats der Mündlichkeit entwickelt hat, die bei ihm unter dem Titel Logozentrik fungiert. Wenn es schon um Dekonstruktion geht, sagt Walter Ong, dann ist es viel schwieriger und viel wichtiger unsere Fixierung auf die Schriftsysteme zu dekonstruieren, weil Sie – wenngleich sie unermesslich wertvoll sind – uns den Blick dafür verstellen, dass sie für sich alleine nicht existieren können (ohne jene Hintergründe, von denen wir gesprochen haben).
Schreiben als Technologie
Der Hinweis, den Ong über Platon macht, geht schon in den Bereich der Elektronik und betrifft die Schwierigkeiten, die die Menschen zu Ong’s Zeit mit der so genannten Computer Literacy gehabt haben. Computer Literacy steht für die Fähigkeit, kompetent im Ausdruckssystem des Computers zu sein, das Alphabet des Computers beherrschen (dt. für literacy: alphabetisiert). Die heute lebenden Menschen, die mit dem Computer konfrontiert sind, reagieren instinktiv auf eine ähnliche Weise wie jene, von denen Platon berichtet, dass sie sich über die Schrift beschwert haben. Platon bezeichnet die Schrift in diesem Mythos als eine so tolle Erfindung, die den Menschen unzählige neue und interessante Dinge verspricht. Die Antwort darauf ist: „Täusche dich nicht, du vergisst viel mehr, seitdem du die Schrift hast, die angeblich die Erinnerung bewahren soll“. Ein ähnliches Muster ergibt sich im Zusammenhang mit dem Computer, der als neues großartiges Instrument der Entlastung der menschlichen kognitiven Fähigkeiten eingeführt wird. Computer Literacy, die Fähigkeit mit dem Computer richtig umzugehen, bringt uns auf eine neue Stufe der menschlichen Entwicklung. Die Bedenken dagegen fallen ähnlich aus und betreffen die Fülle an Information, die ja auch verwertet werden muss. Wenn Sie Musikstücke, Podcasts und Videos herunterladen, dann steht dahinter eine gewisse Ökonomie des Wunsches, der Gier, der Sammelleidenschaft, die im Prinzip dieselbe ist wie bei CDs, Video-DVDs oder Büchern, die Sie sich in Ihre Bibliothek stellen können und die immer ein bisschen zu viele sind, als dass Sie sie alle lesen könnten. Aber es gibt etwa bei gesammelten Büchern noch ein bestimmtes Verhältnis zwischen den gesammelten Objekten und dem, wo Sie herkommen. Dieses Verhältnis ist durch die gegenwärtige Situation massiv erschüttert, weil Sie Videos, Bücher und alles, was in irgendeiner Form digitalisierbar ist, mehr oder weniger grenzenlos downloaden und speichern können und dann einerseits noch immer so tun wollen oder müssen, als ob das jene Einheiten wären, die es früher gewesen sind. Tatsächlich sind es noch immer Filme im Ausmaß von 45 bis 250 Minuten, etc. - in einem gewissen Sinn sind es aber auch keine Filme mehr, weil die Einordnung als Film für die Möglichkeit eines digitalen Reproduktionsprozesses an dieser Stelle nicht mehr ganz zutreffend ist. Ong wollte damit die Gefährdungen und Möglichkeiten durch die Verschriftlichung in Bezug auf unsere menschlichen Kapazitäten ansprechen. Er sagt, dass im Unterschied zum natürlichen mündlichen Sprechen Schreiben komplett künstlich ist. Darum ist wichtig zu sehen, dass das Schreiben eine Technologie ist, womit er Derrida zustimmen würde. Bei Derrida ist der Hinweis darauf, dass Schreiben eine Technologie ist, eine Gegenposition zu einem gewissen Mystizismus, einer philosophisch zugespitzten Imagination und Spekulation, die mit Leben, Seele und Unendlichkeit zu tun hat. Dagegen stellt Derrida die Bedeutung der Schrift als Mechanismus und Technologie. Ong würde an dieser Stelle nicht widersprechen, insofern es eine Technologie ist, die uns in die Lage versetzt, um vieles mehr Mensch zu sein als wir bisher Mensch gewesen sind, weil Künstlichkeit dem menschlichen Wesen natürlich ist. Wir sind von der Art, dass wir uns der Technik und Technologien bedienen, um die aus der Evolution für uns vorgesehenen Ziele zu erreichen. Was ich Ihnen bisher über Schrift, Lernen, Artikulieren, Alphabet, etc. erzählt habe, macht deutlich, dass wir sozusagen aus der Gegenwart heraustreten, es werden Unterscheidungen gemacht, die nicht aus der Sinnlichkeit, sondern aus der Vernunft kommen. Dieses Verfahren ist aber für den Menschen ein gegebenes und richtiges Verfahren.
- StudentIn: Kann man nicht argumentieren, wenn man die Menschen zu ihren vormenschlichen Vorfahren in Beziehung setzt, dass auch schon die Sprache eine Technologie ist, die entwickelt worden ist?
Das hängt natürlich davon ab, wie scharf man die Unterscheidungen macht. Man wird wohl sagen müssen, dass Feuer eine Technologie ist, oder Steine zu verwenden, um irgendwas zurechtzuhauen. Wenn das so ist, dann wird man auch die Entwicklung von unterschiedlichen lautlichen Äußerungen zu bestimmten Zwecken als Technologie bezeichnen müssen. Ich würde Ihre Frage bejahen und vielleicht noch dazu ergänzen, dass man an der Stelle schon sieht, dass Technologien einen eskalierenden Charakter haben können. Es beginnt ganz einfach, indem jemand auf die Idee kommt einen Stein dazu zu verwenden, um ein Hindernis zu beseitigen oder etwas Ähnliches. Vor kurzem habe ich gelesen habe, dass Menschen in Mesopotamien 4000 v.Chr. den Einfall hatten, Gazellenherden, die auf der Migration waren, durch geeignet aufgebaute Mauern in eine Sackgasse laufen zu lassen und dort abzuschlachten. In dem Moment, in dem man auf solche Ideen kommt, die mit relativ einfachen Mitteln zu realisieren sind, stellt man sich der Natur entgegen. Gleichzeitig gibt es aber auch gute Motive zu sagen, dass das nicht bedeutet, dass der Mensch extraterrestrisch ist. Es handelt sich um etwas, was in der Natur ausgebildet worden ist, eine Fähigkeit, die natürlich ist. Wenn sich die Menschen durch einen solchen besonderen Einfall besser ernähren können, dann hat das Konsequenzen, es wird weniger Zeit für die Nahrungsbeschaffung benötigt, wodurch wiederum die Möglichkeit geschaffen wird, weitere Techniken zu entwickeln, etc. - so kann das Schritt für Schritt gehen.
Medienstrategien im Judentum und Christentum
Ich habe Ihnen aus dem Semeia-Band vor vierzehn Tagen etwas erzählt über das Verhältnis von Jesus zu den Umständen, in denen er gelebt hat. Eine interessante Überlegung, die ich Ihnen auf den Weg mitgebe, ist die, dass man sich unter diesen medial-theoretischen Voraussetzungen fragen kann, ob es diesbezüglich einen Unterschied zwischen Christen und Juden gibt um die Zeit von Christus. Gibt es da etwas, das sich identifizieren lässt und das mit Medialität, Mündlichkeit und Schriftlichkeit, zu tun hat? Die Christen waren eine Gruppe, die ihre Wurzeln in der jüdischen Tradition hatte, deren Grundlage die jüdische Bibel in Form der Gesetzestafeln war. Die Thora umfasst die Moses von Gott gegebenen Gesetze. Bei den Büchern Moses haben wir es mit Schriftlichkeit zu tun, heilige Schriften, die der Tradition nach von Gott gekommen sind. Zweitens aber gibt es nicht nur die schriftliche, sondern auch die mündliche Thora. In der jüdischen Tradition ist die Verleihung der Gesetzestafeln und des Gesetzes Moses an das jüdische Volk immer schon von einer mündlichen Überlieferung begleitet gewesen, eine Interpretation der Tafeln, die ebenfalls auf Gott zurückgeht. Die schriftlich belegbare Überlieferung gemeinsam mit der mündlichen Überlieferung nennt man die doppelte Thora (mündliche und schriftliche Thora). Dabei ist hervorzuheben, dass die Heilige Schrift als so privilegiert angesehen wird, dass man über die göttliche Offenbarung nicht schreibt, sie sozusagen nicht „über-schreibt“, sondern dass die diesen Schriften entsprechenden Verhaltensregeln mündlich weitergegeben werden, wodurch auch eine Kontrolle möglich wird, die in den Schulen im Zuge der Ausbildung im Umgang mit den heiligen Texten ausgeübt wird. Die Mischna ist die Verschriftlichung der mündlichen Überlieferung, mit der erst Ende des ersten, Anfang des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts begonnen wurde. Die Rabbiner begannen die mündliche Überlieferung der Thora niederzuschreiben, nachdem die Römer 70 n.Chr. den zweiten Tempel in Jerusalem zerstörten, bedeutende Bestände der jüdischen Bevölkerung vertrieben wurden und in die Diaspora gegangen sind. Zu dieser Zeit fürchtete man, dass die Einheit der mündlichen Überlieferung verloren gehen könnte - diese Art von lokalisierter Kompetenz im Umgang mit dem Gottesgesetz - weil man nunmehr keine Kontrolle mehr über die Schulen hatte, in denen die biblischen Texte diskutiert wurden. Die schriftliche Überlieferung der Mischna hat sich in den jüdischen Gemeinden in der Diaspora erhalten und etabliert, als Rückverweis auf die talmudischen Gegebenheiten, aber weiterhin mit einem wichtigen bestehenden Akzent auf dem Bibellesen in den Schulen und die rabbinische persönliche Unterweisung. Im Gegensatz dazu haben die Christen eine völlig andere Medienstrategie verfolgt. Ein großer Teil des Neuen Testaments wurde in Briefen an christliche Gemeinden verfasst (z.B. Biographien Jesu), die dann zirkuliert sind und sich in relativ rascher Folge verbreitet haben. Diese Briefe waren als Schriften übertragbar und entsprechend kommunizierbar. Sie waren von vornherein in Griechisch geschrieben und haben in Bezug auf Verteilung und Sprache einen Multiplikationseffekt gehabt, der in eine ganz andere Richtung gegangen ist, heute würde man sagen in eine eher kosmopolitische Dimension hinein. Der Primat der Aufsicht und der Kompetenz über die Lehre ist im Christentum somit völlig anders organisiert gewesen als im Judentum, die Ausbildung in Schulen stand bei den Christen nicht im Mittelpunkt. Die Kirche hat sich als eine Instanz organisiert, die dafür verantwortlich ist, welche Schriften kanonisiert wurden. Das gab es im Christentum eben auch, hervorzuheben ist aber die Liberalität, mit der die Inhalte verhandelt worden sind. Der praktisch von Beginn an einsetzende Diskurs mit der heidnischen und hellenistischen Tradition führte dazu, dass sich die Christen auf ein viel umfassenderes Gedankengut eingelassen haben. In der Auseinandersetzung mit platonischem, aristotelischem, epikureischem und heidnischem Gedankengut wurden zudem auch unzählige Streitschriften verfasst. Das kann sicherlich nicht als Medieneffekt bezeichnet werden, aber dass sich die christliche Tradition von vornherein in diese Richtung organisiert hat, ist ein wesentlicher Faktor für ihren späteren Erfolg, wenn man so sagen will.
- StudentIn: Warum haben die Christen ihre Schriften in Griechisch und nicht in Hebräisch verfasst?
Vermutlich ist die Sprache Christi Aramäisch gewesen. Ein ganz entscheidender Punkt ist aber, dass Paulus Grieche war. Man ist sich darüber uneinig, aber die Evangelien dürften zum Teil noch in Aramäisch verfasst worden sein, wobei sich bereits zu Beginn des christlichen Impulses relativ rasch Griechisch sprechende Leute gefunden haben, die zweisprachig waren und zunächst einmal in der jüdischen Diaspora wirksam gewesen sind. Der erste Schritt der Ausbreitung erfolgte von den Juden vor Ort zu Juden in Alexandria, Korinth, etc., die dort in griechischen Städten gelebt haben und somit auch die dort lebende griechische Bevölkerung ansprechen konnten. Paulus war an dieser Stelle ein entscheidender Transmissionsriemen. Wie bereits zu Beginn der Vorlesung ([Motive_%28mse%29#Paulus_1_Korinther_15:54 Paulus 1 Korinther]) erwähnt, ist die Septuaginta eine Übersetzung des jüdischen Testaments ins Griechische aus vorchristlicher Zeit - nach der Sage von 70 Weisen geschaffen. Das heißt, es hat, ganz abgesehen vom Christentum, bereits eine Übersetzung der jüdischen Traditionsbücher ins Griechische gegeben. Die doktrinäre und theologisch-religiöse Kontrolle über den Inhalt aber, um den es da geht, ist beim Jerusalemer Tempel verblieben, in der dort etablierten Schriftgelehrtenkultur (Pharisäerkultur).
Schrift und Tod
Ich habe nun schon viel vorweggenommen, das folgende aber vielleicht noch nicht in dieser Weise deutlich gemacht. Walter Ong sagt: "Jeder Text gehört zur Vergangenheit." Texte gehören insofern zur Vergangenheit, weil sie geschrieben wurden, bevor sie Ihnen überreicht worden sind. Wenn Sie einen Text lesen, ist es im Prinzip möglich, dass die Autorin schon gestorben ist, oder, wenn die Autorin Ihnen schreibt, wäre es möglich, dass Sie schon gestorben sind, bevor der Text zu Ihnen kommt. Es gibt hier also einen Bruch in der Zeit, der damit in Verbindung steht, dass jemand in einem Text etwas festlegt, worin er dann selbst nicht mehr präsent sein muss. Das ist in der Mündlichkeit nicht möglich. Vieles, was wir lesen, ist von jemand geschrieben, den es nicht mehr gibt und was wir schreiben, kann von Menschen gelesen werden, wenn es uns nicht mehr gibt. Diese Form der Todesnähe hat man immer wieder sehr klassisch und paradigmatisch im Zusammenhang mit Büchern beobachtet und beschrieben. A text as such is so much a thing of the past that it carries with it necessarily an aura of accomplished death. Es geht darum, mit etwas zu Ende zu sein. Wenn wir Dinge erzählen, dann haben wir die Zeit mit Hilfe der Narration und insbesondere, wenn es eine niedergeschriebene Geschichte ist, in einem gewissen Sinn schon abgeschlossen. Wir sind mit einem Textstück konfrontiert, das in sich einen Verlauf in der Zeit hat. Wenn und solange es eine Erzählung ist, entwickelt sich etwas in der Zeit aus einer Vergangenheit in die Zukunft, die in dem Moment, in dem sie bei uns ankommt, schon eine Vergangenheit ist. Wir schauen auf eine Erzählung als etwas Vollendetes zurück. Heutzutage sind wir natürlich schon raffinierter und können auch damit umgehen, dass ein Film am Anfang aufhört oder dort, wo er hergekommen ist, oder gar nicht aufhört oder nur aufhört, ohne dass wir wissen, wo das jetzt eigentlich hingeführt hat. Diese Form der erzählerischen Geschlossenheit, die sich mit Schriftstücken und Texten verbindet, ist etwas, was mit Tod zu tun hat.
Die Auferstehung
Das letzte christliche Motiv, von dem ich sprechen werde, ist der von Walter Ong hergestellte Bezug zu dem Begriff der Auferstehung. So wie die Auferstehung im theologischen Bereich für eine Transformation zurück ins Leben steht, von etwas, das schon gestorben ist, kann man sagen, Texte haben diese wunderschöne und faszinierende Eigenschaft, dass etwas zu Ende und niedergelegt worden ist, tot ist und dann nehme ich es in die Hand und es beginnt wieder zu leben - ein neues Leben, eine neue Realisierung dessen, was schon einmal zu Ende gewesen ist, in neuen Kontexten, von neuen Menschen, auf eine Art und Weise, wie sie in der Mündlichkeit nicht möglich ist. Wenn an einem Landstrich, in einer Kultur ohne Schrift für fünf Jahre keine Menschen sind, dann gibt es für nachfolgende Menschen diese Vergangenheit nicht mehr. Haben diese Menschen aber eine Bibliothek hinterlassen, dann kann ihre Vergangenheit wiederbelebt werden. Wenn die schriftliche Dokumentation, dass es jemanden gegeben hat, ausgelöscht wird - der Name und die Schriftstücke, die mit dieser Person zu tun haben - dann geht sie ins Nichts hin. Das ist diese Person sozusagen wirklich tot, wenn sich niemand mehr auf sie beziehen kann und die mündliche Überlieferungskette unterbrochen wird. Hier liegt hingegen die Chance der Schrift, die einen Neuanfang möglich macht.
Der Kontrast: "elektronisch"
Ich möchte noch kurz mit dem Kontrast beginnen, dass sehr viel von dem, was ich Ihnen bisher zu vermitteln versucht habe, als Charakteristika von Schriftlichkeit in dem Moment nicht mehr funktioniert, in dem wir elektronisch unterwegs sind.
Chat
Sie schreiben so schnell wie Sie reden, machen auch die nötigen Fehler dabei, so wie Sie sich versprechen und das, was Sie reden oder schreiben, können andere Leute zum selben Zeitpunkt sehen wie Sie es schreiben. Wenn Sie sich in einen nicht regulierten Chatraum setzen und den Leuten sagen: "Ok, jetzt tut's mal was", dann lässt sich genau jener Effekt beobachten, der dann auftritt, wenn viele Menschen durcheinander reden. Diesen Punkt fand ich immer deswegen faszinierend, weil es mich schon darauf hingewiesen hat, dass neben der sprachlichen Artikulation von Sinnmomenten in solchen Situationen ganz offensichtlich körperliche, soziale Hinweise geregelt sind. Diese ermöglichen uns, wenn wir beispielsweise hier sitzen, durch einen kurzen Blick auf die Seite oder durch eine höfliche Geste, eine Ordnung in das hineinzubringen, wie wir hier diskutieren. Wenn drei Leute eine Frage stellen wollen, beginnen sie nicht gleichzeitig zu reden, sondern geben ein Signal und wir können das aufgrund unserer Körperlichkeit regeln. Wenn Sie davon abstrahieren und in den Chat hineinkommen, sind Sie mit einer Gegenwärtigkeit von Schrift konfrontiert, die nicht reguliert und vielleicht sogar weltweit verteilt ist, und die jedenfalls durch eine Spontaneität des Schreibens aller involvierten Personen charakterisiert ist, aufgrund der man nicht mehr argumentieren kann, dass Schrift etwas Totes ist. Schrift funktioniert an der Stelle ganz genauso wie Gesprochenes, sofern die beteiligten Menschen in irgendeiner Art und Weise dieses System beherrschen. Es ist zwar nicht so natürlich wie eine natürliche Sprache, aber es ist ein wunderschönes Beispiel für sekundäre Oralität, nämlich insofern, als heutzutage etwas durch die Schrift bzw. durch das System der Schrift hindurchgehend so funktioniert, wie wenn es mündlich wäre.
URL
Überlegen Sie sich, was eine URL ist? Eine URL ist auf der einen Seite eine geschriebene Adresse in einem Schriftsystem, aber auf der anderen Seite ist es, wie es so schön heißt, ein Aufruf. Sie können damit eine Webseite aufrufen. Diese schreiben Sie nicht an, Sie versuchen z.B. nicht eine Email-Kommunikation mit der Webseite aufzubauen. Sie sagen nicht: "Bitte, kann ich mal das haben?", sondern Sie rufen die Webseite auf. Die Pointe und der Witz ist jetzt der, dass Sie, wenn Sie eine URL aufrufen, einen Schriftbefehl an einen Webserver schicken und dadurch die entsprechende Seite anfordern. Der Befehl nennt sich GET, ein http-Code für das Anfordern einer Webseite, d.h. Sie schreiben den Webserver wirklich an, es entsteht aber der Eindruck eines Aufrufs.
So viel zu den neuen Konstellationen, mit denen wir uns in den nächsten Vorlesungen beschäftigen werden.