Seminararbeit (Clara Rybaczek)

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1. Einleitung

Diese Arbeit beschäftigt sich im weitesten Sinne mit dem Verhältnis von Theater und Erziehung (oder vielmehr Bildung). Es geht aber weder um Theater, noch um Bildung allgemein, sondern zunächst um eine Richtung des Theaters, nämlich um das dokumentarische Theater der sechziger Jahre, das sich selbst als eine Form der Wahrheitsfindung (vgl. Weiss 1968, S. 33) beschreibt. Sowohl durch das Aufzeigen von Verschleierung und Wirklichkeitsfälschung, als auch durch die Verknüpfung von Ereignissen mit gesellschaftspolitischen Umständen sollen beim Publikum Erkenntnisse oder auch eine „widerstrebende Haltung“ (vgl. ebd., S. 34) provoziert werden. Das dokumentarische Theater zielt also vermehrt darauf ab, Reflexionsprozesse bei den RezipientInnen hervorzurufen und ist daher auf Erziehung bzw. Bildung ausgerichtet. In einem Reflexionsprozess wird aufgenommene Information „(...) in Zusammenhänge (Kontexte) eingeordnet, bewertet und auf zu lösende Probleme bezogen (...).“ (vgl. Marotzki 2004, S. 102) und so in Wissen umgewandelt; ein solcher wissensgeneriender Prozess wird im Rahmen dieser Arbeit als Bildungsprozess verstanden. Es wird hier weiters angenommen, dass Reflexionsprozesse vermehrt dann einsetzen, wenn Menschen sich über etwas wundern (etwas also fremd erscheint).
In dieser Arbeit nun werden die Mittel in den Blick kommen, die das dokumentarische Theater verwendet, um Reflexionsprozesse und Erkenntnisse bei den Rezipierenden anzuregen. Die Fragestellung lautet: Mit welchen Mitteln zielt das dokumentarische Theater der sechziger Jahre auf einen kritischen Reflexionsprozess bei den RezipientInnen? Die Methode, die zur Bearbeitung dieser Fragestellung angewendet wird ist eine hermeneutische, insofern versucht wird sich dieser Theaterform verstehend anzunähern.
Es erfolgt zunächst eine Begriffsklärung des dokumentarischen Theaters der sechziger Jahre, wobei sowohl „selbstbeschreibende“ Schriften, als auch solche, die im Nachhinein versuchen wesentliche Merkmale dieser schwer fassbaren Richtung herauszuarbeiten, herangezogen werden. Es wird auch ein Blick auf die gesellschaftlichen Umstände in der Entstehungszeit geworfen, weil dadurch die Anliegen des dokumentarischen Theaters, das in der Bundesrepublik Deutschland entstand und auch vor allem dort rezipiert wurde, sichtbar und auch nachvollziehbar werden. Dabei wird vor allem herausgearbeitet, dass das dokumentarische Theater auf Erkenntnisse und Reflexionsprozesse bei den ZuschauerInnen abzielt, wobei diese hier als Bildungsprozesse verstanden werden.
Im Weiteren werden drei dokumentarische Stücke herangezogen, bei denen die Mittel in den Blick kommen, mit denen Reflexion und Erkenntnisse bei den RezipientInnen hervorgerufen werden sollen. Es würde den Rahmen sprengen eine umfassende Analyse der Stücke vorzunehmen. Daher werden Analysen und „Bewertungen“ anderer Autoren exemplarisch verwendet, um einige wesentliche Mittel aufzuzeigen. Es geht hier auch weniger darum alle Mittel eines Stückes darzustellen, sondern vielmehr den Möglichkeiten des dokumentarischen Theaters, quasi dem eigenen Anspruch – nämlich dem nach einer kritisch aufklärenden Wirkung (vgl. z.B. Hilzinger 1976, S. 80) – gerecht zu werden, auf die Spur zu kommen.
Bei der Dramaturgie der dokumentarischen Stücke zeigt sich eine grundsätzliche Tendenz die geschlossene Form des Illusionstheaters aufzubrechen, da weniger die Fakten möglichst realitätsnahe dargestellt, als vielmehr die Fakten in ihrem veränderlichen gesellschaftlichem und politischen Zusammenhang greifbar gemacht werden sollen. Dies geschieht vielfach über Mittel, die die Bühnenhandlung unterbrechen oder kontrastieren und die somit in Nachfolge von Bertolt Brecht und auch Erwin Piscator, der in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Zeitstücke schrieb und inszenierte, die weitgehend als Vorläufer des dokumentarischen Theaters der sechziger Jahre gehandhabt werden, stehen. Deshalb wird vor der Untersuchung der Stücke ein kurzer Exkurs zu den Mitteln bei diesen beiden Theatermachern erfolgen, um zu zeigen welche Forderungen damit verbunden waren und wie diese zum dokumentarischen Theater der sechziger Jahre passen.

2. Klärung des Begriffes und der historischen Entstehungszusammenhänge

2.1. Ursprung der dramatischen Form des dokumentarischen Theaters

In den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zeigten sich auf der Bühne wesentliche Änderungen, die Brian Barton der „Neuen Sachlichkeit“ in Literatur und Kunst zuschreibt, bei der die Kluft zwischen Kunst und Leben zugeschüttet werden soll (vgl. Barton 1987, S. 30). Künstlerisches Schaffen wird nicht mehr an der Inspiration, sondern an der wissenschaftlichen Durchdringung und Analyse des Materials (das der Wirklichkeit entnommen wird) festgemacht. Am Theater entstanden Zeitstücke, die soziale und politische Probleme der Gegenwart thematisierten (vgl. Wege/ Beck 2007, S. 1194). Die Absicht dieser Stücke war es, mehr das politische Bewusstsein zu schärfen, als einen Kunstanspruch zu stellen (vgl. Barton 1987, S. 30). Durch den Bezug auf aktuelle Problematiken geschah eine Abkehr von der illusionistischen Guckkastenbühne. Schon seit 1890 hatte das Theater, mit dem expressionistischen Drama, begonnen seine Mittel erheblich zu erweitern; so konnte das Theater der zwanziger Jahre eine starke Durchdringung der Wirklichkeit erreichen, die in ihrer Intention sogar auf eine Veränderung derselben ausgerichtet war (vgl. ebd., S. 30f).
Diese Form des politischen Theaters fand nun in den sechziger Jahren ihre Fortsetzung und auch Weiterführung. Nicht zuletzt durch Erwin Piscator, der in den zwanziger Jahren Zeitstücke und Lehrdramen schrieb und auf die Bühne brachte und in den sechziger Jahren an der Inszenierung der ersten dokumentarischen Stücke beteiligt war. Sein dokumentarischer Regiestil wird im zweiten Teil kurz dargestellt. Jetzt sollen aber die gesellschaftspolitischen Umstände, unter denen das dokumentarische Theater im Westdeutschland der sechziger Jahre entstand, näher betrachtet werden.

2.2. Das dokumentarische Theater und seine Entstehungszeit

Das dokumentarische Theater der sechziger Jahre wurde durch die politische Landschaft Westdeutschlands maßgeblich geprägt. Es entstand in einer Zeit der „Ernüchterung und Entmythologisierung“ (ebd., S. 30), in der der Wirklichkeit mehr Aussagekraft zugesprochen wurde, als der Phantasie des Dichters (vgl. ebd., S. 49). Was auf der Bühne geschah war keine Abbildung, sondern ein Teil der Realität, weil durch Fakten belegt. „Durch die Belegbarkeit des dokumentarischen Beweismaterials sollte der Zuschauer gezwungen werden, sich mit den Kernfragen seiner Zeit auseinanderzusetzen.“ (ebd.). Diese Theaterform bildete sich in einer Zeit heraus, in der die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus öffentlich nicht toleriert und bei Seite geschoben wurde. Das dokumentarische Theater bringt ein großes Unbehagen dieser Verdrängung gegenüber zum Ausdruck und lässt durch seinen Faktenbezug keine Ausflüchte gegenüber dem Material zu. Durch diese Dokumentierbarkeit der Fabel, unter der im klassischen Sinne die Bühnenhandlung verstanden wird (vgl. Pavis 2007, S. 371f), kehrt sich das dokumentarische Theater, laut Arnold Blumer (1977, vgl. S. 10f) nicht von der Fiktion, sondern vom Illusionären ab. Ihm scheint es das maßgebliche der Theaterform zu sein, dass sie keine getreuen Abbilder der Wirklichkeit, also Illusion, vorgaukelt, dass also auch erfundene Szenen als solche ausgewiesen werden.
Darüber hinaus äußert sich im dokumentarischen Theater ein Glaube an die Veränderbarkeit der Gesellschaft. Schon in den Stücken Piscators sollten nur Individuelle Tendenzen überwunden und in ihrer Abhängigkeit von politischen/sozialen Zusammenhängen aufgezeigt werden (vgl. ebd., S. 7). Anliegen des dokumentarischen Theaters ist es: „(...) das dokumentarisch faßbare [sic] geschichtliche Ereignis aus der Isoliertheit der einmaligen historischen Zuordnung in einen Verweisungszusammenhang zu übertragen, der dialektisch Vergangenheit und Gegenwart umschließt, indem er das Faktum in der Kontinuität des geschichtlichen Prozesses erreicht und es zugleich aus dieser Festlegung in der Kontinuität löst, um die Erkenntnis seiner gegenwärtigen Aktualität zu vermitteln.“ (Hilzinger 1976, S. 65). Die Ereignisse werden also aus dem historischen Zusammenhang erklärt, in dem auch die Individuen eingeordnet werden. Sie stehen daher nicht als Person auf der Bühne, sondern meist stehen sie für eine Geisteshaltung oder eine Tendenz. Die Geschichte wird also nicht in ihrem „So gewesen Sein“ präsentiert, sondern die Zusammenhänge werden erklärt und die Geschehnisse in ihrer Abhängigkeit gleichsam als veränderbar begriffen. Durch Herstellen von Bezügen zur Gegenwart, die sich ebenso aufgrund politischer und sozialer Zusammenhänge ergibt, soll diese von den RezipientInnen als veränderbare begriffen werden. Das Dargestellte wird zum Modell „(...) das im geschichtlichen Prozeß [sic] transponierbar wird.“ (ebd.).
Es wird nun auch eine Selbstbeschreibung des dokumentarischen Theaters vorgestellt, die Peter Weiss in seinem Aufsatz „Das Material und die Modelle“ (1968) vornimmt. Dieser Aufsatz wird herangezogen, weil er den Begriff des dokumentarischen Theaters maßgeblich geprägt hat und für manche Autoren die einzige theoretische Schrift dazu darstellt (vgl. Blumer 1977, S. 32).