Determinismus und Willensfreiheit
Es bleibt eine tiefere Frage zum freien Willen übrig, die die vor-angehenden Betrachtungen nicht berührt haben. Was wir durch unsere Experimente erreicht haben, ist ein Wissen darüber, wie der freie Wille funktionieren könnte. Wir haben jedoch die Frage nicht beantwortet, ob (i) unsere bewusst gewollten Handlungen völlig von Naturgesetzen determiniert sind, die die Aktivitäten von Nervenzellen im Gehirn beherrschen, oder ob (2) freie Willenshandlungen und die bewussten Entscheidungen, sie zu vollziehen, bis zu einem bestimmten Grad unabhängig vom Determinismus der Natur vonstatten gehen können. Die erste dieser Optionen würde die Willensfreiheit zu einer Illusion machen. Das bewusste Gefühl, dass man seinen Willen ausübt, würde man dann als ein Epiphänomen ansehen, als ein bloßes Nebenprodukt der Aktivitäten des Gehirns, aber ohne eigene kausale Kräfte. Die Ansicht, dass Willensfreiheit eine Illusion ist, wird etwas ausführlicher bei Wegner entwickelt Es gibt natürlich andere Vertreter dieser Ansicht, wie die Churchlands und Dennett Wegner schlägt eine »Theorie der scheinbaren mentalen Verursachung« vor, die besagt: »Menschen erleben einen bewussten Willen, wenn sie ihr eigenes Denken als Ursache ihres Handelns interpretieren.« Die Erfahrung des bewussten Willens ist also »ganz unabhängig von jeder wirklichen kausalen Verbindung zwischen ihren Gedanken und Handlungen«. Es ist natürlich legitim, ein solches Arrangement als Theorie der Willensfreiheit innerhalb einer deterministischen Weltsicht vorzuschlagen. Es gibt aber keine entscheidenden Belege für ihre Gültigkeit. Keine experimentelle Prüfung wurde je vorgeschlagen, durch die diese Theorie widerlegt werden könnte. Ohne Möglichkeit der Falsifikation kann man jedoch alles Mögliche behaupten, ohne dass man fürchten muss, widerlegt zu werden (wie Karl Popper dargelegt hat). Erstens sind freie Entscheidungen oder Handlungen nicht vorhersagbar, selbst wenn sie vollständig determiniert sein sollten. Das Heisenberg'sche »Unschärfeprinzip« schließt aus, dass wir ein vollständiges Wissen über die zugrunde liegenden molekularen Aktivitäten haben. Die Quantenmechanik zwingt uns dazu, mit Wahrscheinlichkeiten anstatt mit Gewissheiten von Ereignissen umzugehen. Und nach der Chaostheorie kann ein zufälliges Ereignis das Verhalten eines ganzen Systems auf nicht vorhersagbare Weise verändern. Aber auch wenn die Ereignisse praktisch nicht vorhersagbar sind, könnten sie dennoch in Übereinstimmung mit Naturgesetzen stehen und deshalb determiniert sein.
- Ich halte Libet's Hinweis auf die Unschärferelation für entscheidend. Nachdem es nicht einmal im atomaren Maßstab möglich ist, gleichzeitig Ort und Impuls eines Teilchens mit absoluter Genauigkeit anzugeben, eröffnet sich erst recht für die weitaus komplexeren molekularbiologischen und zellulären Prozesse ein hohes Maß an Unvorhersagbarkeit und Unschärfe (siehe [1]).--Bergerml 16:37, 16. Nov 2006 (CET)
Wir wollen unsere Grundfrage folgendermaßen formulieren: Müssen wir den Determinismus akzeptieren? Ist der Indeterminismus überhaupt eine gangbare Option? Wir sollten erkennen, dass beide dieser alternativen Ansichten (der Determinismus der Naturgesetze gegenüber dem Indeterminismus) unbewiesene Theorien sind, d. h. unbewiesen in Bezug auf die Existenz von Willensfreiheit. Der Determinismus (die Übereinstimmung mit Naturgesetzen) war im großen Ganzen für die physikalische beobachtbare Welt erfolgreich. Diese Tatsache hat viele Wissen-minismus als absurd und albern und einer weiteren Betrachtung nicht wert zu erachten. Aber Naturgesetze wurden von Beobachtungen physischer Gegenstände abgeleitet und nicht von subjektiven, mentalen Phänomenen. Letztere können nicht direkt beobachtet werden; sie sind innere Erlebnisse der Person, die sie hat. Es gab keine Belege oder gar den Vorschlag eines experimentellen Versuchsplans, der endgültig und über-zeugend die Gültigkeit des Determinismus der Naturgesetze als Vermittler oder Werkzeug der Willensfreiheit beweist.
Es gibt eine unerklärte Lücke zwischen der Kategorie der physischen Phänomene und der Kategorie der subjektiven Phänomene. Schon bei Leibniz wurde darauf hingewiesen, dass, wenn man in das Gehirn mit einem vollständigen Wissen seines physischen Aufbaus und der Aktivitäten von Nervenzellen schauen würde, man nichts sehen würde, was subjektive Erfahrung beschreibt. Man würde nur Zellenstrukturen, ihre Verbindungen und die Erzeugung von Nervenimpulsen und andere elektrophysiologische Ereignisse sehen sowie chemische Stoffwechselveränderungen. Die Grundlage unserer eigenen experimentellen Untersuchungen der Physiologie bewusster Erfahrung (die in den späten 50er-Jahren begannen) bestand darin, dass die von außen beobachtbaren Gehirnprozesse und die damit verbundenen subjektiven introspektiven Erlebnisse gleichzeitig als unabhängige Kategorien untersucht werden müssen, um ihre Beziehung zu verstehen. Die Annahme, dass die deterministische Natur der physikalisch beobachtbaren Welt subjektive bewusste Funktionen und Ereignisse erklären kann, ist ein spekulativer Glaube und keine wissenschaftlich bewiesene Aussage. (Natürlich lehrt uns die moderne Physik, dass sogar physische Ereignisse nicht determiniert oder vorhersagbar sein mögen. Aber auch wenn dem so wäre, folgen doch diese physikalischen Ereignisse den Naturgesetzen auf der Makroebene. Das schließt je-doch die Möglichkeit nicht aus, dass physikalische Ereignisse einer äußeren »geistigen Kraft« auf der Mikroebene unterliegen, und zwar auf eine Weise, die nicht beobachtbar oder feststellbar ist.)
Der Indeterminismus, die Ansicht, dass der bewusste Wille manchmal Wirkungen ausüben kann, die nicht mit bekannten physikalischen Gesetzen übereinstimmen, ist natürlich ebenfalls ein nicht bewiesener, spekulativer Glaube. Die Ansicht, dass der bewusste Wille die Funktion des Gehirns unter Verletzung bekannter physikalischer Gesetze beeinflussen kann, erscheint in zwei Formen. Nach der einen wird behauptet, dass die Verletzungen nicht messbar sind, da die Handlungen des Geistes auf einer Ebene liegen, die sich unterhalb der Ebene der Unschärfe befindet, die von der Quantenmechanik zugelassen wird. (Ob letzterer Vorbehalt aufrechterhalten werden kann, muss noch geklärt werden.) Diese Position würde also einen indeterministischen freien Willen ohne eine wahrnehmbare Verletzung der Gesetze der Physik zulassen. Nach einer zweiten Ansicht wird behauptet, dass die Verletzungen bekannter physikalischer Gesetze groß genug sind, um entdeckt zu werden, jedenfalls im Prinzip. Man kann aber dafür argumentieren, dass die Messbarkeit in der wirklichen Praxis unmöglich ist. Diese Schwierigkeit der Messung würde vor allem dann bestehen, wenn der bewusste Wille in der Lage ist, seinen Einfluss durch minimale Aktionen an relativ wenigen neuronalen Elementen auszuüben, wenn diese Aktionen als Auslöser von verstärkten Mustern neuronaler Aktivität im Gehirn dienen könnten. Jedenfalls haben wir keine wissenschaftliche Antwort auf die Frage, welche Theorie (Determinismus oder Indeterminismus) die Natur des freien Willens beschreibt._
Es ist jedoch wichtig, eine nahezu universale Erfahrung an-zuerkennen, nämlich dass wir in bestimmten Situationen aus freier, unabhängiger Entscheidung handeln können und einen Einfluss darauf haben, wann wir handeln. Das einfachste Beispiel dafür ist dasjenige, das wir bei unserem Experiment verwendet haben -- der bewusste Wille, das Handgelenk auf freie und unberechenbare Weise zu beugen. Das stellt eine Art von Prima-facie-Beleg dafür dar, dass bewusste mentale Prozesse bestimmte Gehirnprozesse kausal steuern können Natürlich unterliegt die Eigenart dieses Experiments gewissen Beschränkungen. Unsere eigenen experimentellen Ergebnisse zeigten, dass der bewusste freie Wille den am Ende stattfindenden Prozess des »Jetzt-Handelns« nicht einleitet. Wie jedoch zuvor besprochen, hat der bewusste Wille die Möglichkeit, das Fortschreiten und das Ergebnis des Willensprozesses zu steuern. Das Erlebnis einer unabhängigen Wahl und der Steuerung (dessen, ob man überhaupt und wann man handeln soll) ist also potentiell aus-schlaggebend dafür, dass Willensfreiheit keine Illusion ist. Die zerebrale Natur des Betrachtens von Handlungsoptionen durch bewusstes Nachdenken und Vorausplanen, bevor überhaupt ein Prozess des »Jetzt-Handelns« stattfindet, muss noch erhellt werden.
Wie passt diese Erfahrung mit der Auffassung eines Experimentalwissenschaftlers zusammen? Sie scheint eine größere Schwierigkeit für eine deterministische als für eine indeterministische Option darzustellen. Die phänomenale Tatsache ist ein-fach, dass die meisten von uns das Gefühl haben, dass wir eine Art von freiem Willen haben, zumindest bei einigen unserer Handlungen und innerhalb bestimmter Grenzen, die uns vom Status unseres Gehirns und von unserer Umgebung auferlegt werden. Das intuitive Gefühl bezüglich des Phänomens der Willensfreiheit bildet eine fundamentale Basis für Ansichten über unsere menschliche Natur. Man sollte große Sorge dafür tragen, dass man angeblich wissenschaftliche Schlussfolgerungen über dieses Gefühl nicht glaubt, welche in Wirklichkeit von verborgenen Ad-hoc-Annahmen abhängen. Eine Theorie, die das Phänomen der Willensfreiheit bloß als Illusion deutet und die Gültig-keit dieser phänomenalen Tatsache leugnet, ist weniger attraktiv als eine Theorie, die diese phänomenale Tatsache akzeptiert und sich ihr anpasst.
Bei einer Frage, die für unser Selbstverständnis von so grundlegender Bedeutung ist, sollte die Behauptung der illusorischen Natur von Willensfreiheit auf recht direkte Belege gegründet werden. Theorien sollen Beobachtungen erklären und nicht beiseite schieben oder sie verzerren, es sei denn, es gibt starke Gründe dafür. Solche Gründe gibt es aber nicht; und die Deterministen schlagen auch keinen möglichen Entwurf eines Experiments vor, um die Theorie zu prüfen. Die ausgearbeiteten Vorschläge, dass Willensfreiheit eine Illusion ist, wie etwa der von Wegner, gehören zu dieser Kategorie Es ist töricht, auf der Grundlage einer unbewiesenen Theorie des Determinismus unser Selbstverständnis aufzugeben, dass wir eine gewisse Handlungsfreiheit haben, und keine vorherbestimmten Roboter sind.
Meine Schlussfolgerung zur Willensfreiheit, die wirklich frei im Sinne der Nicht-Determiniertheit ist, besteht dann darin, dass die Existenz eines freien Willens zumindest eine genauso gute, wenn nicht bessere wissenschaftliche Option ist als ihre Leugnung durch die deterministische Theorie. Die spekulative Natur von sowohl deterministischen als auch indeterministischen Theorien vorausgesetzt, warum sollen wir nicht die Sichtweise annehmen, dass wir einen freien Willen haben (bis wirklich widersprechende Belege auftauchen, wenn es überhaupt jemals dazu kommen sollte) ? Eine solche Sichtweise würde uns zumindest gestatten, auf eine Weise vorzugehen, die unser eigenes tiefes Gefühl akzeptiert und sich ihm anpasst, nämlich dass wir einen freien Willen haben. Wir bräuchten uns nicht als Maschinen zu verstehen, die auf eine Weise handeln, die völlig von den bekannten physikalischen Gesetzen beherrscht wird. Eine solche liberale Option wird auch von dem Neurobiologen Roger Sperry befürwortet.
Ich schließe nun mit einem Zitat des großen Romanciers Isaac Bashevis Singer, das an die eben beschriebenen Ansichten an-knüpft. Singer brachte seinen starken Glauben daran, dass wir einen freien Willen haben, zum Ausdruck. In einem Interview sagte er Folgendes: »Das größte Geschenk der Menschheit ist die freie Wahl. Es ist richtig, dass wir beim Gebrauch dieser freien Wahl eingeschränkt sind. Aber das Wenige an freier Wahl, das wir haben, ist ein solch großes Geschenk und ist potentiell so viel wert, dass es sich lohnt, gerade aus diesem Grund zu leben.«
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