Selbstbestimmende Subjektivität und externer Zwang
Aus: John McDowell: Selbstbestimmende Subjektivität und externer Zwang in: Ch. Halbig, M. Quante und L. Siep (Hrsgg.): Hegels Erbe. Frankfurt/M 2004
Warum ist dieser Zug hilfreich? Warum ist es hilfreich vorzuschlagen, dass Episoden, in denen propositionaler Gehalt vorhanden, aber nicht zum Ausdruck gebracht ist, insbesondere Erfahrungen, nach dem Vorbild von Sprechakten modelliert werden, in denen der propositionale Gehalt explizit gemacht ist? Hier ist es erhellend, Sellars' Gedanken, wenigstens insofern er für Erfahrungen gilt, als Analogie zu einem Gedanken Kants aufzufassen. In der so genannten metaphysischen Deduktion der Kategorien, dem Abschnitt in der ersten Kritik, der als der »Leitfaden zur Entdeckung der reinen Verstandesbegriffe>< bezeichnet wird, schreibt Kant: »Dieselbe Funktion, welche den verschiedenen Vorstellungen in einem Urteile Einheit gibt, die gibt auch der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen in einer Anschauung Einheit, welche, all-gemein ausgedrückt, der reine Verstandesbegriff heißt>< (KrV A 79/ B 1o4 f.). Kant behauptet hier, dass Anschauungen Fälle des sinnlichen Bewusstseins von Gegenständen tatsächlich logische Strukturen haben können, und zwar dieselben logischen Strukturen, die Urteile haben. Darum kann ein Inventar der logischen Strukturen von Urteilen ein Leitfaden sein, um zu einer Aufzählung der Kategorien den reinen Verstandesbegriffen als logische Strukturen von Anschauungen zu gelangen. Und diese Bemerkung liefert einen Schlüssel dazu, wie Kant sich in der Transzendentalen Deduktion vornimmt, die objektive Gültigkeit« der Kategorien zu rechtfertigen. Seine Idee ist, die Kategorien als Einheiten darzustellen, die für den objektiven Tenor sowohl von empirischen Urteilen als auch von Anschauungen garantieren können. Nach Kant sollen wir uns also klar machen können, wie Anschauungen uns Gegenstände darstellen, indem wir jene so auffassen, dass sie logische Strukturen haben. Wenn wir nun den Gedanken auf dieser Abstraktionsebene formulieren, ist offensichtlich, dass es nicht des spezifischen Inventars logischer Formen bedarf, mit dem Kant arbeitet. Überdies stellt Kants Formulierung die Logik eher als Aufzählung von Urteilsformen denn als Aufzählung von Aussagen vor, und dieser Rahmen ist ebenfalls offensichtlich unwesentlich. Kants »Leitfaden>< ist, dass die Arten der Einheit, aufgrund deren vielfältige Verwirklichungen repräsentationaler Fähigkeiten im sinnlichen Bewusstsein in einer einzigen Anschauung zusammen-hängen, da sie einem Subjekt die objektive Realität präsentieren, dieselben sind wie die Arten der Einheit, aufgrund deren vielfältige Verwirklichungen repräsentationaler Fähigkeiten im diskursiven Denken in einem einzigen Urteil zusammenhängen, in dem ein Subjekt sich daraufverpflichtet, welchen Platz Dinge in der objektiven Realität einnehmen.{ Sellars' Spiel mit der Idee, dass Sprechakte als Modellfür »Gedanken« und insbesondere als Modell für Erfahrungen dienen können, bringt eine verwandte Idee zum Ausdruck. Set-his Tädtfiins ein, -anzunehmen, dass die Arten der Einheit, aufgrund deren Verwirklichungen repräsentationaler Fähigkeiten im sinnlichen Bewusstsein in einzelnen Erfahrungen zusammenhängen und aufgrund deren Erfahrungen wenigstens vorgeben, mit der objektiven Realität, die sich uns zugänglich macht, verbunden zu sein (und es bestenfalls tatsächlich sind) , dieselben sind wie die Arten der Einheit, aufgrund deren vielfältige bedeutsame Wortverwendungen in einzelnen Behauptungen zusammenhängen, in denen Subjekte Verpflichtungen darüber ausdrücken, welchen Platz Dinge in der objektiven Realität einnehmen. WennSellars also sagt, dass Erfahrungen Behauptungen enthalten, dann legt er eine Konzeption von Erfahrungen vor, die der kantischen Konzeption von Anschauungen, wie sie in der Analytik der ersten Kritik, und besonders in der Transzendentalen Deduktion ausgearbeitet ist, wenigstens sehr nahe steht. In »Der Empirismus und die Philosophie des Geistes>< stellt Sellars sein Denken über Erfahrung nicht in eine Linie mit dem Kants. Aber der kantische Charakter seines Denkens wird in seinem Kantbuch, Science and Meta-physics: Variations on Kantian Themes (1967) deutlich, das er als Fortsetzung von »Der Empirismus und die Philosophie des Geistes« beschreibt (S. viii). In diesem Kantbuch stellt Sellars unter anderem seine grundlegenden Gedankengänge aus »Der Empirismus und die Philosophie des Geistes>< mit einer Lesart von Kants erster Kritik in einen neuen Zusammenhang. Er besteht zu Recht darauf, dass spätestens dann, wenn wir beim »Leitfaden>< und der Transzendentalen Deduktion angekommen sind, klar sei, dass das, was Kant unter der Bezeichnung »Anschauungen« fasst, nicht jene angeblich unmittelbaren Gegebenheiten sind, die in der empiristischen Version des »Rahmens der Gegebenheit« vorkommen Operationen der sinnlichen Rezeptivität, die als vorrangig gegenüber und unabhängig von jeder Einbeziehung des Verstandes begriffen werden , sondern Episoden sinnlicher Rezeptivität, die schon durch den Verstand strukturiert sind. Anschauungen, wie sie in der Transzendentalen Dednktiöri vorkommen, sind qua Anschauungen Fälle sinnlicher Rezeptivität, aber der Grundgedanke des »Leitfadens« Kants besteht darin, dass sie auf die gleiche Weise vereinheitlicht werden, die auch Urteile vereinheitlicht. Aus idiosynkratischen Gründen, die uns hier nicht beschäftigen müssen, denkt Sellars, dass die repräsentationalen Fähigkeiten, die mit den relevanten Arten der Einheit in den primitivsten kantischen Anschauungen verwirklicht werden, nur protobegrifflich, also noch nicht vollständig begrifflich sind noch nicht empfänglich dafür, in Urteilen angewandt zu werden (S. 4-7). Er distanziert sich aber von diesem Aspekt der Auffassung Kants. In Sellars' eigenem Denken, das er nun explizit als kantisch inspiriert darstellt, sind Erfahrungen Verwirklichungen von begrifflichen Fähigkeiten im sinnlichen Bewusstsein, die in vereinheitlichten Erfahrungen durch solche Einheiten zusammenhängen, die die Einzelheit von Urteilen konstituieren, welche wiederum solche Einheiten sind, die die Einzelheit von Behauptungen konstituieren. Deshalb können wir Sellars' Vorstellung, der zufolge Erfahrungen Behauptungen machen oder Propositionen enthalten, als eine Variante der kantischen Konzeption von Anschauungen als kategorial vereinigten verstehen. 4. In Kants Interpretation von Anschauungen von der ich behaupte, dass sie Sellars' Konzeption von Erfahrungen entspricht wird die Bedeutung der Selbstbestimmung ausgelotet, wenn Kant sich auf die Spontaneität des Verstandes beruft. Wir können zwei Variationen dieser Verbindung zwischen dem Verstand und einer Idee der Freiheit.näher betrachten. Erstens besteht der paradigmatische Modus der Verwirklichung begrifflicher Fähigkeiten im relevanten Sinne im Urteilen, das heißt in frei verantwortlicher kognitiver Aktivität, im Sich-Bilden einer Meinung. Zweitens und abstrakter gefasst konstituieren Begriffe Normen kognitiver Aktivität, und der Kern der Idee der Selbstverwirklichung besteht darin, dass die Autorität jeglicher Normen, welche Aktivität sie auch immer regulieren, so beschaffen sein muss, dass sie von den Subjekten, die diese Aktivität ausführen, frei anerkannt werden kann. Kant scheint der ersten dieser beiden Anmerkungen manchmal selbst ein unangemessenes Gewicht beizumessen. Er spricht so, als wären Beispiele für die Art Einheit, aufgrund deren Anschauungen sich verständlicherweise auf Gegenstände beziehen, ähnlich wie Beispiele für die Art Einheit, aufgrund deren zu urteilen bedeutet, sich darauf festzulegen, wie Dinge sind, insofern in beiden Fällen die Einheit aktiv von einem Subjekt hergestellt wird. Zum Beispiel sagt er in der Transzendentalen Deduktion, dass jede Verbindung eines Mannigfaltigen, jede Repräsentation von etwas als komplexe Einheit, »wir mögen uns ihrer bewusst sein oder nicht, [...] eine Verstandeshandlung [ist]>< (KrV, B 130). Damit behauptet er, dass die in der Anschauung manifestierte Einheit durch einen Akt der Freiheit zustande kommt, obwohl dies ein Akt sein mag, dessen wir uns vielleicht nicht bewusst sind. Nun ist die Vorstellung, dass wir manchmal Freiheit ausüben, ohne uns dessen bewusst zu sein, bestenfalls merkwürdig. Und in jedem Fall passt der Verweis auf willentliches Handeln nicht gut zu der Idee, dass Anschauungen Vorgänge der Rezeptivität sinnlichen Bewusstseins sind. Es liegt wirklich nicht an uns, was wir wahrnehmen, mit Ausnahme von Weisen, die für das, was Kants Worte nahe legen, irrelevant sind. Zweifellos können wir unsere Wahrnehmungsaufnahme kontrollieren, zum Beispiel indem wir unsere Köpfe drehen, aber das heißt nicht eine Freiheit auszuüben, »Repräsentationen>< in einzelne Anschauungen zusammenzuführen. In der Tat fällt es uns leichter, anzuerkennen, dass das, was wir wahrnehmen, abgesehen von den genannten Irrelevanzen, nicht an uns liegt. Das scheint erforderlich zu sein, wenn wir Wahrnehmung als das Aufnehmen der objektiven Realität betrachten wollen und folglich in der Lage sein sollten, einer verständlichen Motivation dafür zu genügen, dass wir an die Unmittelbarkeiten glauben, die Wissen im traditionellen Empirismus begründen sollen, auch wenn wir den Rahmen der Gegebenheit vermeiden, indem wir auf begriffliche Vermittlung insistieren. Es ist ein Missverständnis, anzunehmen, Kants »Leitfaden« impliziere, dass die Einheit einer Anschauung selbst durch freie kognitive Aktivität zustande kommt. Urteilen, eine der Veranschaulichungen der Arten von Einheit, um die es im »Leitfaden« geht, ist eine freie kognitive Aktivität; Anschauungen zu haben, der andere Bereich solcher Arten von Einheit aber nicht. Der Punkt ist lediglich, dass Einheitsarten, die Anschauungen vereinheitlichen, dieselben sind wie diejenigen, welche Urteile vereinheitlichen. Es muss verständlich sein, dass die repräsentationalen Fähigkeiten, die im Falle der Anschauungen unwillkürlich in Gang gesetzt werden, für die gemeinsame Verwirklichung mit dieser zweiten Einheitsart empfänglich sind, und das wird dadurch sichergestellt, dass es sich dabei um Fähigkeiten handelt, die im Urteilen ebenso frei ausgeübt werden können. Dies reicht aus, um die Verwandtschaft zwischen dem objektiven Tenor von Anschauungen und von Urteilen zu verorten, auf der Kant besteht. Er muss nicht davon ausgehen, dass die Bildung von Anschauungen selbst ein Ausüben von Freiheit ist, geschweige denn, dass es etwas ist, das hinter unserem Rücken stattfindet. Dies verschiebt das Gewicht zur zweiten der beiden Anmerkungen, zur Berufung auf Freiheit. Im Dickicht der Erfahrung werden die begrifflichen Fähigkeiten, die wir haben, auf eine Weise aktiviert, die nicht bei uns liegt. Damit sie aber verständliche begriffliche Fähigkeiten im relevanten Sinn sind, also Fähigkeiten, die zur Spontaneität des Verstandes gehören, müssen wir uns, wenn wir sie aktiviert haben, gegenüber der Autorität verantwortlich fühlen, die die Normen für Gedanken setzt, welche den Inhalt der Fähigkeiten konstituieren. Und diese Unterordnung unter die Autorität liegt innerhalb des Geltungsbereichs der Selbstbestimmungsidee. Ob-wohl unsere Erfahrung jederzeit durch Begriffe bestimmt ist, die wir zu einem Zeitpunkt vorfinden, und außerhalb unserer Kontrolle liegt, sind wir doch über die Zeit hinweg dafür verantwortlich, sicherzustellen, dass unsere Einwilligung in Begriffe, die wir vorfinden, nicht darin besteht, uns einer fremden Autorität zu unterwerfen, die durch Dogma oder Tradition erhalten wird. Ich werde auf einige der Aspekte, die hiermit zusammenhängen, am Ende dieses Aufsatzes zurückkommen. 5. In der Auswertung von Sellars und Kant habe ich ein Bild skizziert, das zwei Aspekte miteinander zu verbinden vermag: das es einerseits erlaubt, einen Platz für die selbstbestimmende Rationalität des kognitiven Subjekts die Spontaneität des Verstandes sogar in empirischer Kognition zu finden, und es andererseits ermöglicht, einen Aspekt auszumachen, in dem empirische Kognition durch
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