Aus Carnaps Autobiographie

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Seit meiner Studienzeit unterhielt ich mich gern mit Freunden über allgemeine Probleme der Wissenschaft und des Lebens; diese Gespräche mündeten oft in philosophische Fragen. Meine Freunde waren zwar philosophisch interessiert, aber die meisten keine Fachphilosophen, sondern sie studierten Natur- oder Geisteswissenschaften. Erst viel später, als ich

28 Etappen meines Denkens

am Logischen Aufbau arbeitete, wurde mir klar, daß ich in den Gesprächen mit meinen verschiedenen Freunden unter-schiedliche Sprachen gesprochen und mich dabei an ihre Denk- und Redeweisen angepaßt hatte. Mit dem einen redete ich etwa in einer Sprache, die man als realistisch oder sogar materialistisch bezeichnen konnte; wir betrachteten dann die Welt als aus Körpern bestehend, die wiederum aus Atomen bestanden; Sinneswahrnehmungen, Gedanken, Gefühle und dergleichen wurden als physiologische Vorgänge im Nervensystem und schließlich als physikalische Vorgänge betrachtet. Nicht, daß die Freunde Thesen des Materialismus vertraten oder auch nur daran dachten; wir benutzten einfach eine Art zu reden, die man materialistisch nennen konnte. Im Gespräch mit einem anderen Freund paßte ich mich etwa dessen idealistischer Sprache an. Dann dachten wir über die Frage nach, wie Dinge auf der Grundlage des Gegebenen beschaffen sind. Mit einigen sprach ich eine Sprache, die man nominalistisch nennen könnte, mit anderen wiederum Freges Sprache der abstrakten Entitäten verschiedenen Typs, also Eigenschaften, Relationen, Propositionen und so weiter, eine Sprache, die manche zeitgenössische Autoren platonistisch nennen.

  Es überraschte mich zu hören, daß manchen diese Vielfalt meiner Sprechweisen anfechtbar oder sogar widerspruchsvoll erschien. Ich hatte für mein eigenes Denken wertvolle Einsichten durch Philosophen und Wissenschaftler mit einem breiten Spektrum philosophischer Glaubensansichten gewonnen. Wenn man mich fragte, welchen philosophischen Standpunkt ich selbst verträte, wußte ich nichts darauf zu sagen. Ich konnte höchstens sagen, daß im allgemeinen meine Denkweise derjenigen der Physiker nahekam oder der Denkweise solcher Philosophen, die mit wissenschaftlicher Arbeit in Berührung standen. Erst im Laufe der Jahre wurde mir klar, daß meine Art zu denken gegenüber den traditionellen Streitigkeiten etwa zwischen Realismus und Idealismus, Nominalismus und Platonismus (als Universalienrea#

Erste philosophische Schritte (1919—1926) 29

lismus), Materialismus und Spiritualismus und so fort neutral war. Als ich das System des Aufbaus entwickelte, war es mir wirklich gleichgültig, welche philosophische Sprachform ich benutzte, weil alle Sprachformen für mich bloße Sprechgewohnheiten waren und nicht Formulierungen von Stand-punkten. So benutzte ich bei der Beschreibung des Konstruktions- oder Konstitutionssystems zusätzlich zur neutralen Sprache der symbolischen Logik drei andere Sprachen, um dem Leser das Verständnis zu erleichtern; und zwar einmal eine einfache Übersetzung der symbolischen Definitionsformel in die Wortsprache; dann eine korrespondierende Formulierung in der realistischen Sprache, wie sie in der Naturwissenschaft üblich ist; schließlich eine Neuformulierung der Definition als Operationsregel für ein von jedem anwendbares Konstruktionsverfahren, sei es Kants transzendentales Subjekt oder ein Computer.