Radikale Interpretation

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Unbedingt erforderlich ist für einen Diskussionsprozess das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Positionen. Es müssen mehr als punktuelle Stellungnahmen sein; sie bilden ein Netz miteinander verbundener Thesen, Schlussfolgerungen und Argumente. Um diese Auseinandersetzung möglichst gründlich anzulegen, sollte zwischen den Gegensätzen nur das unbedingt Nötige vorausgesetzt werden. Hegel erfüllt diese Bedingung in der "Phänomenologie des Geistes" durch folgende Konstellation:

  • der philosophischen Position steht ein zweites Wissen unvermittelt gegenüber
  • das zweite Wissen ist inhaltlich unspezifiziert, es ist selber unmittelbar
  • Philosophie verhält sich zum zweitens Wissen non-direktiv. Sie nimmt es ohne Vorprüfungen auf.

Aus diesem Unmittelbarkeiten entwickelt sich ein Gedankengang, der bis zum Wahren/Ganzen/Absoluten führt. Er muss die Unmittelbarkeiten inhaltlich ausfalten. Unter Voraussetzung des Systemgedankens läßt sich schon in der Minimalkonstellation die Architektur des zu entwickelnden Gedankengebäudes erkennen. Die Kontinuität des Hegelschen Duktus wird von starken spekulativenVoraussetzungen getragen und steht an zahlreichen Stellen in Konflikt mit modernen Gepflogenheiten der Argumentation. Abgesehen davon korrespondiert Hegels Unmittelbarkeit dennoch mit einem Schlüsselmotiv der Philosophie des 20. Jahrhunderts.

In Fachkreisen heißt die voraussetzungslose Gegenüberstellung einer Weltbetrachtung mit einer anderen heute radikale Interpretation. W.v.O. Quines Verdeutlichung dieser Denkfigur ist die Position einer Linguistin gegenüber einer gänzlich unbekannten Fremdsprache. Sie ist ihr "unmittelbar" ausgesetzt, d.h., sie kann zum Verständnis nur auf ihre eigenen Voraussetzungen und das sprachlich-praktische Verhalten der Fremden zurückgreifen. Quines Konstruktion richtet sich gegen die Auffassung, Bedeutungen gäbe es ausserhalb dieses Verständigungsprozesses. Ebenso sieht es Hegel. Nur Einsichten, die sich aus diesem Erstkontakt entwickeln lassen, sind wohlbegründet.

Aus dieser Konstellation ergibt sich eine zweite Aktualität der Hegelschen Methode. Ohne Vorgaben einer unverständlichen Kultur ausgesetzt zu sein, zwingt dazu, möglichst alle verfügbaren Anknüpfungsmöglichkeiten und Hilfsmittel einzusetzen.Es hilft kaum, nach einem archimedischen Punkt zu suchen. Da in der Lebenswelt einer Zivilisation zahllose Faktoren zusammenhängen, muss eine Begegnung mit ihr etwas von diesem Zusammenhang erfassen, bevor sie sich speziellen Daten widmen kann. Quine spricht von "Holismus" und unterwandert damit das Baukastenprinzip der analytischen Philosophie. "Das Wahre ist das Ganze" klingt wie ein Dogma. Es kann auch so gelesen werden: Zur Wahrheit einer Lebensform gehört alles, was sie zusammenhält.




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