Richard Heinrich: Motive vom Thema "Wissen"

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Philosophische Motive zum Thema `Wissen' (R. Heinrich)

Vorbemerkung

`Wissen' ist in der Philosophie ein komplexer und problematischer Gegenstand, und da möchte ich jetzt wirklich auf was Anderes (und vor allem etwas Spezielleres) hinaus als den Umstand, dass in der Philosophie alles, was überhaupt ein Problem ist, ein äußerst komplexes Problem ist. Wissen wird auch rein philosophisch schon aus einer Vielzahl von Perspektiven reflektiert, die nicht unbedingt miteinander koordiniert sind. "Epistemologie", als eine philosophische Disziplin, hat kein Monopol auf das Thema "Wissen". Vor diesem Hintergrund möchte ich, im Sinne einer Vorbemerkung, nur auf einen einzigen Punkt besonders hinweisen, weil der sozusagen für die Ordnung solcher Gespräche, wie wir sie hier führen, eine Rolle spielt. Ich würde ihn gerne benennen mit dem Ausdruck: das "doppelte Engagement" der Philosophie.

Ich meine Folgendes: Einerseits haben Philosophen von Plato über Leibniz und Hegel bis zu Wittgenstein oder Gilbert Harman sehr grundsätzlich und aus den verschiedensten Gesichtspunkten über den Begriff des Wissens nachgedacht und auf diese Weise natürlich gewisse Sicherheiten geschaffen. Wie das in der Philosophie so ist, bestehen diese Sicherheiten allerdings nicht in bestimmten einzelnen Wahrheiten, die man als Voraussetzungen für jede Argumentation über das Wissen zu Grunde legen könnte, sondern betreffen eher bedingte Abhängigkeiten zwischen konkreten inhaltlichen Positionen, Argumentationsstrategien, theoretischen Zielsetzungen und Interessen. Also um es etwas karikierend auszudrücken: Ob Sie jetzt unter Wissen im Prinzip eine Gabe Gottes an den rationalen Teile meiner unsterblichen Seele oder den augenblicklichen Zustand eines beliebigen Schaltkreises verstehen wollen, da bin ich als Philosoph relativ offen, da will ich Ihnen nicht gleich von Anfang an was vorschreiben. Aber was Typus und Form der speziellen und jeweils sehr verschiedenen Probleme betrifft, die Sie sich in jedem dieser Fälle einhandeln -- da hat die Philosophie in ihrer a Geschichte eine gewisse Strenge entwickelt. Und zwar nicht nur auf der Ebene einer abstrakten Kultur oder Logik der Argumentation, sondern aus einer Tradition der Analyse inhaltlicher Aspekte, die mit dem Begriff `Wissen' verbunden gesehen werden kšnnen.

Aus dieser Perspektive kann man also schon sagen, dass wenn irgendwo, in einer Wissenschaft, oder in einer Öffentlichkeit, Fragen dringend werden, die den Begriff des Wissens betreffen, dass dann von philosophischer Theoriebildung her etwas gelernt werden könnte, dass es da ein Potential gibt, das aufzurufen sich lohnen kann. Auf der anderen Seite aber ist es wichtig, dass in der Philosophie auf konkrete und "neue" Fragestellungen oder Probleme auch in unvorhergesehener Weise und ohne Verlaß auf Sicherheiten reagiert werden kann. Aus diesem Gesichtspunkt stellt die Philosophie dann nicht irgendwelche (noch so formale oder prozedurale) Verlässlichkeiten zur Verfügung, sondern eher einen Modus des experimentellen Reflektierens, der in den Wissenschaften nicht in derselben Weise Standard ist. Gerade in Bezug auf das Wissen kann man den Eindruck haben, dass die enorme Vielfalt von Veränderungen und Entwicklungen, die um den Begriff und das Phänomen "Information" herum im vergangenen halben Jahrhundert eingetreten sind (theoretischer, technologischer, politischer und ökonomischer Natur), eine solche Herausforderung darstellt. Als Beispiel aus einem anderen Bereich wäre die philosophische Reaktion auf der Herausforderung durch die Entwicklung der Physik in der Zeit vom letzten Drittel des 19. zum ersten Drittel des 20. Jahrhunderts lehrreich. Da kann man beide Aspekte gut erkennen, den Rückgriff auf traditionelle Argumentationsweisen einerseits, die riskanteren Versuche mit neuen Denkansätzen anderseits. Lehrreich hier auch die Möglichkeiten der Blamage. Im Folgenden gebe ich eine lockere Übersicht über einige wenige Aspekte am Thema Wissen, die mir charakteristisch scheinen in der Philosophie, und ich werde am Schluss ein oder zwei Punkte hervorheben, die mir insbesondere aus dem zweiten Gesichtspunkt interessant vorkommen, also im Sinne eines Bedarfes an offener und experimenteller Reflexion.


Elementaristische theoretische Ansštze

Semantischer Zugang

Die Fragestellung zum Wissen, deren Berechtigung heute am wenigsten bestritten wird, ist die semantische. Was bedeutet "Wissen", dh: Was sind, in möglichst hoher Allgemeinheit, die Bedingungen dafür, dass ein Satz von der Form `x weiss, dass p' wahr ist. Dieser Zugang ist auf die Beantwortung bestimmter Fragen zugeschnitten. Wenn ich sage: "Mein Enkel weiss (leider), dass mein MiniDisc-Player in der Lade meines Schreibtisches liegt" -- dass wir dann auf allgemeine Weise die Bedingungen angeben, unter denen so ein Satz wahr ist. Was muss der Fall sein, dass wir so einen Satz als wahr akzeptieren. Und da gibt es einen sehr einfachen Zugang traditionell, der sagt es müssen zwei Bedingungen erfšllt sein: mein Enkel muss einen sogenannten Glauben (sie können es auch Ansicht oder Meinung nennen, wenn sie wollen) haben von der Art, dass mein Reisepass in der Lade liegt; und zweitens muss es auch so sein.

Wenn es nicht so ist, dann kann man nicht sagen, dass er es weiss, sondern wird sagen: dann glaubt er es nur. Wenn es aber in der Tat so ist, dass der Pass in der Lade liegt, aber mein Enkel ist der Ansicht, dass ich ihn in meiner Rocktasche bei mir trage -- dann ist das ja geradezu der Paradefall, wo wir sagen: er weiss es nicht. Ausgehend von dieser Theorie, wenn man das überhaupt eine Theorie nennen soll, gibt es eine Menge Varianten und Probleme. Zb die Frage des adäquaten Zusammenhanges zwischen dem Glauben und der Tatsache. (Gettier). Es scheint jedoch, als würden alle Varianten, die von diesem Grundgedanken ausgehen, eines gemeinsam haben: sie machen "Wissen" abhängig von dem Vorliegen und dem besonderen Charakter gewisser mentaler Zustšnde, die einzelnen Personen zugeschrieben werden; manchmal sind solche Zuschreibungen wahr, manchmal falsch, aber der entscheidende Faktor ist das Vorhandensein derartiger Zustände in Einzelnen. Aber das ist nicht zwingend so. Wie man interpretiert, dass ein Subjekt in dem Zustand ist, p zu glauben, da stehen viele Möglichkeiten offen, und das muss nicht zwingend in einer psychologischen Sprache geschehen.

Übergang zu eigentlich epistemologischen Fragen

Ein einfacher Weg, wie man zu im engeren Sinne epistemologischen Fragen kommen kann, ist die Problematisierung der Beziehungen, die in "geeigneter Weise" den Glaubenszustand mit der Tatsache verbinden. Inbesondere denkt man hier an kausale Beziehungen, und da wieder paradimatisch an sogenannte Wahrnehmungs- oder Empfindungsprozesse (aber das muss natürlich nicht sein). Auf diese Weise stellen wir einen Kontakt mit traditionellen Fragen der Erkenntnistheorie her, die sich ja vor allem auf den Prozess konzentrieren, in dem Wissen entsteht oder sich bildet in einem Subjekt. Aber nicht nur. Rationalistische Theorien zB, die Wissen in einem signifikanten Grad auf Schluss-Prozesse zurückfuhren, stellen oft Strukturen in den Vordergrund, die leicht in abstraktere, statische Beziehungen umgedeutet werden können.

Ansštze, die umfassendere Strukturen untersuchen a (Aristoteles, Hegel, Foucault)

In der philosophischen Tradition hat es aber immer schon Theorien über das Wissen gegeben, die prinzipiell weitere Ansštze verfolgen als die jetzt beschriebenen. Da kann es sich um durchaus verschiedene Perspektiven handeln, ich erwähne zunächst drei und erläutere sie alle kurz am Beispiel von Aristoteles. Dann erwähne ich noch eine vierte zusätzliche Perspektive, die werde ich am Beispiel von Michel Foucault a erläutern.

Aristoteles

Innere Teleologie des Wissens

Bei Aristoteles gibt es den wichtigen Gedanken, dass Wissen etwas ist, was sozusagen "in Stufen" daherkommt, Qualitätsstufen könnte man sagen, in der Form, dass zwar auch die einfachsten Varianten "Wissen" genannt werden kšnnen, aber dies vor allem deshalb, weil aus ihnen die höheren entwickelt werden kšnnen. Es gibt so etwas wie ein "Wissen im eigentlichsten Sinn", auf das jedes Wissen hin tendiert. Einfachstes Wissen ist etwa das, was einem bloß zustößt -- was wir wissen, weil wir zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort waren (Zeugenschaft); höchstes Wissen ist das wissenschaftliche.

Besonders interessant sind hier natšrlich auch die Lern- oder Transformationsprozesse -- dazu dann noch später.

Strukturelle Kennzeichnung des Wissens -- Sprache

Ein zweiter wichtiger Gedanke bei Aristoteles ist die Beschreibung insbesondere des höherstufigen Wissens unabhängig von einem individuellen Träger-Subjekt, also durch sprachliche Strukturen. Das eröffnet unter anderem neue Perspektiven für Lernprozesse. Im Weiteren gibt es dann klarerweise hochinteressante Zusammenhänge mit der Technologie der Schrift und des Buches -- also generell der Frage der Speicherung.

Wissen als disziplinšre Organisation

Hier handelt es sich im Grund um das aristotelische Organon, dh eine Anordnung verschiedener Disziplinen mit verschiedenen Zwecksetzungen (Beweisen, Überzeugen, Erforschen, Analysieren, Beraten) um bestimmte Kernbereiche herum und in Abstimmung miteinander. Dieses Modell des Aristoteles setzt natürlich voraus, dass in den ersten beiden Hinsichten (Teleologie und Kennzeichnund als Sprache) verlässliche Strukturen entwickelt wurden. Es kann in verschiedensten Hinsichten interpretiert und genützt werden: Als Lehrplan, als Wissenschaftstheorie, als bildungspolitische Grundlage.


Hegel, Foucault

Die philosophischen Fragen, die zB mit dem semantischen Zugang sich ergeben, sind kompliziert genug. Sie liessen sich aber immer wieder bündeln in allgemeineren Theorien -- wie etwa der Subjektivitšt oder des Bewusstseins oder so, die gewisse Strukturen vorgaben. Die Situation wird anders, wenn man diese Beschränkung aufgibt und von verallgemeinerten Subjekten oder Tršgern des Wissens spricht -- von Gruppen, Institutionen, Gesellschaften, Epochen. Ein gigantischer Impuls in dieser Hinsicht ging im 19. Jahrhundert von der Philosophie Hegels aus; er bestimmte vor allem die Entwicklung und Geschichte der Geisteswissenschaften, hatte aber natürlich breitere Auswirkungen. Ich werde versuchen, eine kurze Charakteristik grundlegender Ideen von Michel Foucault zu geben, vor allem seines Konzepts, eine "episteme" (Wissen) einer Gesellschaft über die kontingenten Modalitšten der Generierung, der Anerkennung, der Verknüpfung und der Verteilung von Äusserungen zu beschreiben.

Anregungen

Zum Schluss möchte ich ein paar Fragen benennen, die ich für anregend halte. Sie betreffen insgesamt (freilich mehr oder weniger zentral) ein Phänomen, das ich als "Notwendigkeit einer zweiten Aneignung" bezeichnen möchte, vorläufig.

Dass wenn ein Wissen, das in irgendeiner Weise gespeichert (zB "archiviert") ist, aufgegriffen werden und weiter entwickelt werden soll, dass dafür in der Regel wieder eine wissens-generierende Aktivität erforderlich ist, und zwar in Gestalt einer aneignenden Operation an dem gegebenen Wissensinhalt selbst (oft kann man das als eine Art von "Re-Codierung" beschreiben).

Das ist keineswegs immer so, wenn Wissen verwertet wird, in technologischen Kontexten scheint es doch manchmal so zu sein, dass die Verwertung des Wissens es eher unsichtbar macht oder gar verschwinden läßt. Was ich meine ist spefizisch: dass für die Verarbeitung in kognitiven Prozessen selbst das Wissen meistens nicht nur ein "input" oder "datum" ist. Meine Fragen betreffen die Speicherung, die Codierung, die Rekonstruktion, die Rarifizierung (Seltenheit) von Wissen.





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