Aus Carnaps "Logischer Syntax der Sprache": Unterschied zwischen den Versionen

Aus Philo Wiki
Wechseln zu:Navigation, Suche
 
Zeile 14: Zeile 14:
  
 
:Die dargestellte Auffassung gewährt große Freiheit für die Einführung neuer Grundbegriffe und neuer Grundsätze in die Sprache der Physik oder der Wissenschaft überhaupt. Dabei besteht aber doch die Möglichkeit, Scheinbegriffe und Scheinsätze von echten wissenschaftlichen Begriffen und Sätzen zu unterscheiden und damit auszuschalten. [Diese Ausschaltung ist allerdings nicht so einfach, wie sie auf Grund der früheren Auffassung des Wiener Kreises zu sein schien, die im wesentlichen auf Wittgenstein zurückging; bei dieser Auffassung war in absolutistischer Weise von "der Sprache" die Rede; man glaubte daher Begriffe und Sätze schon dann ablehnen zu können, wenn sie nicht in "die Sprache" paßten.] Ein vorgelegter neuer P-Grundsatz erweist sich dadurch als Scheinsatz, daß entweder keine hinreichenden Formbestimmungen gegeben werden, durch die er sich als Satz erweist, oder keine hinreichenden Umformungsbestimmungen, auf Grund deren der Satz in der früher angedeuteten Weise einer empirischen Nachprüfung unterzogen werden kann. Die Bestimmungen müssen nicht ausdrücklich angegeben sein; sie können auch stillschweigend aufgestellt sein, sofern sie sich nur aus dem Sprachgebrauch ersehen lassen. Ein vorgelegter neuer deskriptiver Begriff erweist sich dadurch als Scheinbegriff, daß er weder durch eine Definition auf frühere Begriffe zurückgeführt, noch durch nachprüfbare P-Grundsätze eingeführt wird (vgl. Beispiel und Gegenbeispiel, S. 247). (S. 249f)
 
:Die dargestellte Auffassung gewährt große Freiheit für die Einführung neuer Grundbegriffe und neuer Grundsätze in die Sprache der Physik oder der Wissenschaft überhaupt. Dabei besteht aber doch die Möglichkeit, Scheinbegriffe und Scheinsätze von echten wissenschaftlichen Begriffen und Sätzen zu unterscheiden und damit auszuschalten. [Diese Ausschaltung ist allerdings nicht so einfach, wie sie auf Grund der früheren Auffassung des Wiener Kreises zu sein schien, die im wesentlichen auf Wittgenstein zurückging; bei dieser Auffassung war in absolutistischer Weise von "der Sprache" die Rede; man glaubte daher Begriffe und Sätze schon dann ablehnen zu können, wenn sie nicht in "die Sprache" paßten.] Ein vorgelegter neuer P-Grundsatz erweist sich dadurch als Scheinsatz, daß entweder keine hinreichenden Formbestimmungen gegeben werden, durch die er sich als Satz erweist, oder keine hinreichenden Umformungsbestimmungen, auf Grund deren der Satz in der früher angedeuteten Weise einer empirischen Nachprüfung unterzogen werden kann. Die Bestimmungen müssen nicht ausdrücklich angegeben sein; sie können auch stillschweigend aufgestellt sein, sofern sie sich nur aus dem Sprachgebrauch ersehen lassen. Ein vorgelegter neuer deskriptiver Begriff erweist sich dadurch als Scheinbegriff, daß er weder durch eine Definition auf frühere Begriffe zurückgeführt, noch durch nachprüfbare P-Grundsätze eingeführt wird (vgl. Beispiel und Gegenbeispiel, S. 247). (S. 249f)
 +
 +
 +
<br>
 +
----
 +
<br>
 +
zurück zu '''[[Carnaps "Toleranzprinzip", Quines "principle of charity" (T)]]'''

Version vom 15. Dezember 2005, 11:49 Uhr

Vorwort

Der Kreis der möglichen Sprachformen und damit der verschiedenen möglichen Logiksysteme ist nämlich unvergleichlich viel größer als der sehr enge Kreis, in dem man sich in den bisherigen Untersuchungen der modernen Logik bewegt hat. Bisher ist man von der schon klassisch gewordenen Sprachform, die Russell gegeben hat, nur hin und wieder in einigen Punkten abgewichen. Man hat z. B. etwa gewisse Satzformen (z. B. die unbeschränkten Existenzsätze) oder Schlußregeln (z. B. den Grundsatz vom ausgeschlossenen Dritten) gestrichen. Andrerseits hat man aber auch einige Erweiterungen gewagt. Man hat z. B. in Analogie zum zweiwertigen Satzkalkül interessante mehrwertige Kalküle aufgestellt, die schließlich zu einer Wahrscheinlichkeitslogik geführt haben; man hat sog. intensionale Sätze eingeführt und mit ihrer Hilfe eine Modalitätslogik entwickelt. Der Grund dafür, daß man sich bisher nicht weiter von der klassischen Form zu entfernen wagt, liegt wohl in der weit verbreiteten Auffassung, man müsse die Abweichungen "rechtfertigen", d. h. nachweisen, daß die neue Sprachform "richtig" sei, die "wahre Logik" wiedergebe. Diese Auffassung und die aus ihr entspringenden Scheinfragen und müßigen Streitigkeiten auszuschalten, ist eine der Hauptaufgaben dieses Buches. Hier wird die Auffassung vertreten, daß man über die Sprachform in jeder Beziehung vollständig frei verfügen kann; daß man die Formen des Aufbaues der Sätze und die Umformungsbestimmungen (gewöhnlich als "Grundsätze" und "Schlußregeln" bezeichnet) völlig frei wählen kann. Beim Aufbau einer Sprache geht man bisher gewöhnlich so vor, daß man den logisch-mathematischen Grundzeichen eine Bedeutung beilegt und dann überlegt, welche Sätze und Schlüsse auf Grund dieser Bedeutung logisch richtig erscheinen. Da die Bedeutungsbeilegung in Worten geschieht und daher ungenau ist, kann diese Überlegung auch nicht anders als ungenau und mehrdeutig sein. Der Zusammenhang wird erst dann klar, wenn man ihn von der umgekehrten Richtung aus betrachtet : man wähle willkürlich irgendwelche Grundsätze und Schlußregeln; aus dieser Wahl ergibt sich dann, welche Bedeutung die vorkommenden logischen Grundzeichen haben. Bei dieser Einstellung verschwindet auch der Streit zwischen den verschiedenen Richtungen im Grundlagenproblem der Mathematik. Man kann die Sprache in ihrem mathematischen Teil so einrichten, wie die eine, oder so, wie die andere Richtung es vorzieht. Eine Frage der "Berechtigung" gibt es da nicht; sondern nur die Frage der syntaktischen Konsequenzen, zu denen die eine oder andere Wahl führt, darunter auch die Frage der Widerspruchsfreiheit. Die angedeutete Einstellung -- wir werden sie als "Toleranzprinzip" formulieren (S. 44) -- bezieht sich aber nicht nur auf die Mathematik, sondern auf alle logischen Fragen überhaupt. Von diesem Gesichtspunkt aus wird die Aufgabe der Aufstellung einer allgemeinen Syntax wichtig, d. h. der Definition von syntaktischen Begriffen, die auf Sprachen beliebiger Form anwendbar sind. Im Bereich der allgemeinen Syntax kann man z. B. für die Sprache der Gesamtwissenschaft oder irgendeiner Teilwissensohaft eine bestimmte Form wählen und ihre charakteristischen Unterschiede zu den andern möglichen Sprachformen exakt angeben. Jene ersten Versuche, das Schiff der Logik vom festen Ufer der klassischen Form zu lösen, waren, historisch betrachtet, gewiß kühn. Aber sie waren gehemmt durch das Streben nach "Richtigkeit". Nun aber ist die Hemmung überwunden; vor uns liegt der offene Ozean der freien Möglichkeiten. (S. IV-VI)

Toleranzprinzip der Syntax

Wir haben im vorangehenden einige Beispiele negativer Forderungen (besonders von Brouwer, Kaufmann, Wittgenstein) besprochen, durch die gewisse übliche Sprachformen -- Ausdrucksweisen und Schlußweisen -- ausgeschaltet werden sollen. Unsere Einstellung zu Forderungen dieser Art sei allgemein formuliert durch das Toleranzprinzip: wir wollen nicht Verbote aufstellen, sondern Festsetzungen treffen. Einige der bisherigen Verbote haben das historische Verdienst, daß sie auf wichtige Unterschiede nachdrücklich aufmerksam gemacht haben. Aber solche Verbote können durch eine definitorische Unterscheidung ersetzt werden. In manchen Fällen geschieht das dadurch, daß Sprachformen verschiedener Arten nebeneinander untersucht werden (analog den Systemen euklidischer und nichteuklidischer Geometrie), z. B. eine definite Sprache und eine indefinite Sprache, eine Sprache ohne und eine Sprache mit Satz vom ausgeschlossenen Dritten. ...
In der Logik gibt es keine Moral. Jeder mag seine Logik, d. h. seine Sprachform, aufbauen wie er will. Nur muß er, wenn er mit uns diskutieren will, deutlich angeben, wie er es machen will, syntaktische Bestimmungen geben anstatt philosophischer Erörterungen. (S. 44f)

Sprachen für Naturgesetze

Bei der hier besprochenen Auffassung wird der Bereich der wissenschaftlichen Sätze nicht so eng begrenzt wie bei der früher im Wiener Kreis üblichen Auffassung. Die frühere Auffassung besagte, daß jeder Satz, um sinnvoll zu sein, vollständig verifizierbar sein müsse (Wittgenstein; Waismann [Wahrscheinlichkeit] 229; Schlick [Kausalität] 150); jeder Satz sei deshalb ein aus konkreten Sätzen (den sog. Elementarsätzen) gebildeter molekularer Satz (Wittgenstein [Tractatus] 102, 118; Carnap [Aufbau]). Bei dieser Auffassung war für die Naturgesetze kein Platz innerhalb der Sätze der Sprache. Man mußte ihnen entweder die unbeschränkte Allgemeinheit absprechen und sie als Berichtsätze auffassen; oder man beließ ihnen die unbeschränkte Allgemeinheit, sah sie aber nicht als eigentliche Sätze der Objektsprache an, sondern als Anweisungen zur Bildung von Sätzen (Ramsey [Foundations] 237ff.; Schlick [Kausalität] 150f. unter Hinweis auf Wittgenstein), also als eine Art von syntaktischen Regeln. Gemäß dem Toleranzprinzip werden wir einen Aufbau der physikalischen Sprache, der dieser früheren Auffassung entspricht, nicht als unzulässig bezeichnen; es ist aber auch ein Aufbau möglich, bei dem die unbeschränkt allgemeinen Gesetze als eigentliche Sätze der Sprache zugelassen werden. Der wichtige Unterschied zwischen Gesetzen und konkreten Sätzen wird bei dieser zweiten Sprachform nicht etwa verwischt, sondern bleibt durchaus bestehen. Er kommt dadurch zur Geltung, daß für die beiden Satzarten Definitionen aufgestellt und ihre verschiedenen syntaktischen Eigenschaften untersucht werden. Die Wahl zwischen den beiden Sprachformen wird nach Zweckmäßigkeitsgründen zu treffen sein. Die zweite Sprachform, bei der die Gesetze als gleichberechtigte eigentliche Sätze der Objektsprache behandelt werden, ist, wie es scheint, weit einfacher und dem üblichen Sprachgebrauch der Realwissenschaften besser angepaßt als die erste Sprachform. -- Eine ausführliche Kritik der Auffassung, nach der die Gesetze keine Sätze sind, gibt Popper.
Die dargestellte Auffassung gewährt große Freiheit für die Einführung neuer Grundbegriffe und neuer Grundsätze in die Sprache der Physik oder der Wissenschaft überhaupt. Dabei besteht aber doch die Möglichkeit, Scheinbegriffe und Scheinsätze von echten wissenschaftlichen Begriffen und Sätzen zu unterscheiden und damit auszuschalten. [Diese Ausschaltung ist allerdings nicht so einfach, wie sie auf Grund der früheren Auffassung des Wiener Kreises zu sein schien, die im wesentlichen auf Wittgenstein zurückging; bei dieser Auffassung war in absolutistischer Weise von "der Sprache" die Rede; man glaubte daher Begriffe und Sätze schon dann ablehnen zu können, wenn sie nicht in "die Sprache" paßten.] Ein vorgelegter neuer P-Grundsatz erweist sich dadurch als Scheinsatz, daß entweder keine hinreichenden Formbestimmungen gegeben werden, durch die er sich als Satz erweist, oder keine hinreichenden Umformungsbestimmungen, auf Grund deren der Satz in der früher angedeuteten Weise einer empirischen Nachprüfung unterzogen werden kann. Die Bestimmungen müssen nicht ausdrücklich angegeben sein; sie können auch stillschweigend aufgestellt sein, sofern sie sich nur aus dem Sprachgebrauch ersehen lassen. Ein vorgelegter neuer deskriptiver Begriff erweist sich dadurch als Scheinbegriff, daß er weder durch eine Definition auf frühere Begriffe zurückgeführt, noch durch nachprüfbare P-Grundsätze eingeführt wird (vgl. Beispiel und Gegenbeispiel, S. 247). (S. 249f)





zurück zu Carnaps "Toleranzprinzip", Quines "principle of charity" (T)