Wolf Singer: Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbestimmung. Zwei konfliktträchtige Erkenntnisquellen: Unterschied zwischen den Versionen

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; 02/2004 Deutsche Zeitschrift für Philosophie
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; 02/2004 Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 235-255
  
„Die Aufklärung der neuronalen Grundlagen höherer kognitiver Leistungen ist mit epistemischen Problemen behaftet. Eines folgt aus der Zirkularität des Unterfangens, da Explanadum und Explanans eins sind. Das Erklärende, unser Gehirn, setzt seine eigenen kognitiven Werkzeuge ein, um sich selbst zu begreifen, und wir wissen nicht, ob dieser Versuch gelingen kann. (siehe Matthias Vogel) Ein weiteres Problem rührt daher, dass sich das Gehirn evolutionären Prozessen verdankt, die nicht notwendigerweise zur Ausbildung eines kognitiven Systems führten, das unfehlbar ist.“
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== Ein epistemisches Caveat ==
  
Er geht hier auf die evolutionsbedingten „Fehler“ im Gehirn ein, die lediglich darin bestehen, dass es „Im Wettbewerb um Überleben und Reproduktion vorwiegend darauf ankam, aus der Fülle im Prinzip verfügbarer Informationen nur jene aufzunehmen und zu verarbeiten, die für die Bedürfnisse des jeweiligen Organismus bedeutsam sind“, was schon auf eine Unvollständigkeit der Aufnahme hinweist. „Obgleich unsere Sinnessysteme nur diskontinuierliche Ausschnitte aus dem physiko-chemischen Kontinuum der Welt aufnehmen, erscheint uns die Welt dennoch als kohärent. Der Grund ist, dass wir Fehlendes ergänzen und über Ungereimtheiten hinwegsehen, um ein schlüssiges Gesamtbild zu erhalten. (...) Unsere Sinnessystem (...) legen keinen Wert auf Vollständigkeit und Objektivität. Sie bilden nicht getreu ab, sondern rekonstruieren und bedienen sich dabei des im Gehirn gespeicherten Vorwissens. Dieses speist sich aus zwei Quellen: Zum einen ist es das im Laufe der Evolution erworbene Wissen über die Welt, das vom Genom verwaltet wird und sich in Architektur und Arbeitsweise von Gehirnen ausdrückt. Zum anderen ist es das zu Lebzeiten durch Erfahrung erworbene Wissen. (...) Vorwissen kann genutzt werden, um Lücken aufzufüllen, und logisches Schließen kann helfen, Ungereimtheiten aufzudecken. Zudem lassen sich durch technische Sensoren Informationsquellen erschließen, die unseren natürlichen Sinnen nicht zugänglich sind. (...) Aber auch bei diesen rationalen Erklärungen handelt es sich natürlich um Konstrukte unseres Gehirns, denn auch Denkprozesse beruhen auf neuronalen Vorgängen. (...) Deshalb bleibt die Sorge, Denken könne auch nicht verlässlicher oder objektiver sein als Wahrnehmen.
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Beschäftigen wir uns mit dem Geist, dem freien Willen und anderen mentalen „Gehalten“, dann verfügen wir über zwei verschiedene Zugangsweisen: Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbeschreibung.
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Für Singer scheint es zunächst problematisch, überhaupt Aussagen über kognitive Leistungen zu machen, da eine „Zirkularität des Unterfangens“ besteht. Das Gehirn versucht sich mit seinen eigenen Fähigkeiten selbst zu begreifen. Aber unser Gehirn ist höchst selektiv, „was für unsere kognitiven Systeme unfassbar ist, existiert nicht für uns.“ Wir sind auf unser neuronales System angewiesen und zugleich darauf beschränkt.
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Und weil unser kognitives System ein Produkt der Evolution ist, unterliegt es eben den evolutionären Prozessen: „Im Wettbewerb um Überleben und Reproduktion kam es vorwiegend darauf an, aus der Fülle im Prinzip verfügbarer Informationen nur jene aufzunehmen und zu verarbeiten, die für die Bedürfnisse des jeweiligen Organismus bedeutsam sind.“ Das Gehirn operiert also selektiv, und besteht keine Kohärenz, so konstruiert es eine: Fehlendes wird ergänzt und Widersprüche ignoriert. Objektivität ist kein Anspruch unseres Gehirns. In der Konstruktion greift es auf zwei Quellen des Wissens zurück: evolutionär erworbenes Wissen, gespeichert im Genom und individuell erworbenes Wissen durch Erfahrung. Daher bleibt die Sorge aufrecht und berechtigt, dass Denken auch nicht verlässlicher sei als unsere Wahrnehmung. Diese kritischen Bemerkungen gilt es für Singer immer im Hinterkopf zu behalten, v. a. wenn wir es mit dem Phänomenbereich des Geistigen zu tun haben.
  
: Im Prinzip ist das doch die einzig wichtige Aussage: Denken kann auch nicht verlässlicher sein, als objektives Wahrnehmen, weil sowieso alles in unserem Gehirn zusammenläuft, weil alles, egal was wir erfinden, was wir tun, was wir uns ausmalen, sowieso auf Ergebnissen eines Hirnes beruht, welches dazu auch noch fehlerhaft konstruiert ist (weil es keinen Wert legt auf Vollständigkeit). Somit kann es so etwas wie richtig oder falsch auch nicht geben, da sämtliche Ergebnisse auf einem Rechenapparat beruht, der fehlerhaft arbeitet. Wie kann man sich dann überhaupt jemals anmaßen so etwas wie „Wahrheit“ zu formulieren. Selbst wenn man die Probleme der sprachlichen Umsetzung von Gedanken mal außer Acht lässt, kann es rein logisch und mit unserem Wissen oder Nicht-Wissen über Gehirn und Außenwelt nicht möglich sein, Wahrheit zu erfassen.
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== Konstituierung des Ichs ==
  
Im weiteren geht Singer auf das Problem der Selbsterfahrung ein, welche sich nicht deckt mit der Beschreibung von außen (vgl. unter anderem Hans Julius Schneider). „Wir begreifen uns als beseelte Wesen, die an einer immateriellen, geistigen Sphäre teilhaben, deren Erscheinungen nur der subjektiven Erfahrung zugänglich sind. Zugleich aber, und hier tritt der Konflikt auf, wissen wir uns mit der gleichen Gewissheit als der materiellen Welt zugehörig. (...) Wir gehen davon aus, dass es im Prinzip möglich ist, [alle] Phänomene im Rahmen naturwissenschaftlicher Beschreibungssysteme fassen und erklären zu können. (...) Dieser Sichtweise steht die von unserer Selbsterfahrung genährten Überzeugung entgegen, dass wir an einer geistigen Dimension teilhaben, die von den Phänomenen der dinglichen Welt unabhängig und ontologisch verschieden ist. (...) Wir empfinden unser Ich den körperlichen Prozessen gewissermaßen gegenübergestellt. (...) Wir haben offenbar im Laufe unserer kulturellen Geschichte zwei parallele Beschreibungssysteme entwickelt, die Unvereinbares über unser Menschsein behaupten. Diese Inkompatibilität zwischen Selbst- und Außenwahrnehmung hat die Menschheit beschäftigt, seit sie begann, über sich nachzudenken.“ Nehmen wir also an, es gäbe in der Tat ontologisch verschiedene Welten, eine materielle und eine immaterielle, so bleibt das dualistische Weltmodelle die Antwort auf die Frage schuldig „wann im Lauf der Evolution oder der Individualentwicklung das Geistige vom Materiellen Besitz ergreift und sich zu erkennen gibt.“ Bereits während der Verschmelzung zwischen Ei und Samenzelle? Während der Embryonalentwicklung? Bei der Geburt? Wenn Menschenkinder kognitive Leistungen ausbilden? Wann in der Evolution könnte sich so etwas wie Seele entwickelt haben?
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Im Alltag erleben wir uns als kohärentes Selbst in Form einer Ich-Zuschreibung. Die verschiedenen Gefühle besitze ich, gibt es mich nicht, so gibt es auch keine Gefühle, die erfahren werden können. Auch fühle ich mich frei, treffe freie und bewusste Entscheidungen, begreife geistige, seelische Phänomene als immateriell, überhaupt fühle ich mich selbst als ein beseeltes Wesen. Zugleich jedoch auch mit der materiellen Welt verbunden und zugehörig.  
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Wir können die Welt untersuchen und feststellen wie sie funktioniert und erklären sie mit den deterministischen Prozessen der Natur. Auch Verhalten können wir naturwissenschaftlich erklären, „wir haben kein Problem mit der Einsicht, dass tierisches Verhalten vollkommen determiniert ist“.
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Nur uns selbst nehmen wir davon aus, wir sehen uns von der dinglichen Welt verschieden – ontologisch verschieden. „Wir empfinden unser Ich den körperlichen Prozessen gewissermaßen gegenübergestellt.“ Zweifelsohne spielt das Gehirn eine Rolle, aber nur als Mittel zum Zweck. Das wahrnehmende, entscheidende und wertende Ich bedient sich den neuronalen Systemen, „um Informationen über die Welt zu gewinnen und Beschlüsse in Taten umzusetzen.“ Wir haben das Gefühl, dass wir es selbst sind, die diese Prozesse kontrollieren.
  
: Ich halte das irgendwie für ein Scheinproblem. Natürlich gibt es aus naturwissenschaftlicher Sicht, und das kann auch von Philosophen oder sonstigen Geisteswissenschaftlern nicht geleugnet werden, keine Argumente für die Existenz einer Seele. Aber hier geht es wohl eher um eine Metapher als um das tatsächliche Vorhandensein einer sogenannten Seele oder wie immer man dieses Etwas, was wir eben nicht in der Lage sind zu messen, zu bestimmen, zu formulieren – und wahrscheinlich ist es tatsächlich lediglich ein Problem der Spracherfassung, der Unvollkommenheit von Sprache die ab einem gewissen Punkt (oder nie) einfach nicht mehr in der Lage ist, auszudrücken, was eigentlich auszudrücken wäre. Offensichtlich sind trotz besonders guter Messinstrumente noch immer Fragen offen geblieben, die nicht oder nur teilweise geklärt werden können. Unter anderem Selbstempfindung, Ich-Gefühl, Bewusstsein etc. Was läge also näher, als dafür einen Namen zu finden, bei dem jeder wenigstens so ansatzweise „weiß“ oder zumindest intuitiv erfassen kann, was es bedeuten soll. Mal abgesehen davon, dass gerade das Wort Seele aufgrund unserer religiösen Ansichten – möge man sie teilen oder nicht – eine lange Tradition, welches natürlich auf eine ganz spezielle Weise konnotiert ist. Mit dem Wort Seele wird immer auch Unsterblichkeit verbunden, der Wunsch und die Hoffnung, dass ein bestimmter Teil in uns weiterlebt, sobald unsere sterbliche Hülle aufgegeben wird. So gesehen ist das Wort Seele gerade in diesem Zusammenhang einfach falsch gewählt, da es hier nicht um Unsterblichkeit oder um ein Leben nach dem Tode geht, sondern lediglich darum, wie wir uns als Person, als Identität wahrnehmen und wie sehr das im Widerspruch zu den messbaren Daten steht.
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Für Singer sind diese Annahmen – aufgrund der deterministischen Gesetze - problematisch. Die Differenz zwischen Selbstwahrnehmung und Fremdbeschreibung ist im Laufe der Geschichte immer problematischer geworden, insbesondere in heutiger Zeit durch die Erkenntnisse der Neurowissenschaften. So gibt es immer stärkere Hinweise dafür, „dass menschliche und tierische Gehirne sich fast nicht unterscheiden, dass ihre Entwicklung, ihr Aufbau und ihre Funktionen den gleichen Prinzipien gehorchen“.
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Den cartesianischen Dualismus verwirft Singer, da er mit den heutigen naturwissenschaftlichen Theorien nicht vereinbar ist und nur geglaubt, aber nicht abgeleitet werden kann. Auch den Panpsychismus, also die Annahme, dass alles beseelt ist, führt für ihn nur in zahlreiche Konflikte und ist daher nicht sonderlich dienlich.
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Die Schwierigkeiten der mentalen Verursachung zeigen für Singer, wie problematisch Dualistische Erklärungsmodelle sind. Denn „Wechselwirkungen mit Materiellem erfordern den Austausch von Energie“. Ist das geistige immateriell, stellt sich die Frage, wie es neuronale Prozesse beeinflussen kann. Dafür benötigt der Geist Energie, wäre aber somit nicht mehr immateriell.  
  
Gehen wir also weiterhin davon aus, dass es diese immaterielle Welt tatsächlich gibt. „Wenn es diese immaterielle geistige Entität gibt, die von uns Besitz ergreift und uns Freiheit und Würde verleiht, wie sollte diese dann mit den materiellen Prozessen in unserem Gehirn in Wechselwirkung treten? Denn beeinflussen muss sie die neuronalen Prozesse, damit das, was der Geist denkt, plant und entscheidet, auch ausgeführt wird. Wechselwirkungen mit Materiellem erfordern den Austausch von Energie. Wenn also das Immaterielle Energie aufbringen muss, um neuronale Vorgänge zu beeinflussen, dann muss es über Energie verfügen. Besitzt es aber Energie, dann kann es nicht immateriell sein und muss den Naturgesetzen unterworfen sein. Umgekehrt stellt sich das Problem, wie sich das Immaterielle über die Welt draußen informiert. (...) Wie also werden die Sinnessignale, die Energie tragende elektrischen Entladungen der Nervenzellen in die Sprache des immateriellen Geistes übersetzt? (...) Falls die Prämisse gilt, dass Weltdeutungen widerspruchsfrei sein müssen, um zutreffend zu sein, bleiben drei Möglichkeiten: Unsere Selbsterfahrung trügt und wir sind nicht, wie wir uns wähnen, oder unsere naturwissenschaftlichen Weltbeschreibungen sind unvollständig, oder unsere kognitiven Fähigkeiten sind zu begrenzt, um hinter dem scheinbaren Widerspruch das Einende zu erfahren.“
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== Eine mögliche Genese des Mentalen ==
  
: Ich finde es interessant, dass diese Möglichkeiten hier überhaupt erwähnt werden, und dann noch so, als ob nur eine dieser drei Möglichkeiten richtig sein könnte. Wie bereits am Anfang dieses Artikels festgestellt wurde sind natürlich unsere Selbsterfahrungen falsch, unsere Fähigkeiten begrenzt und ergo auch – da es sich ja um Erzeugnisse unserer begrenzten Fähigkeiten handelt – die Naturwissenschaftlichen Weltbeschreibungen unvollständig. Im Prinzip genügt hier bereits die Erklärung, dass unser Hirn gar nicht in der Lage ist, alles zu erfassen, was eventuell fassbar wäre (was wir ja nicht wissen können, da wir es ja nicht fassen können und unsere Vorstellungskraft wahrscheinlich gar nicht ausreicht um Messgeräte oÄ zu entwickeln um dieses Nicht-Fassbare fassbar zu machen), da es sich im Laufe der Evolution für unser Überleben nicht als notwendig herausgestellt hat, das zu können. Der logische Schluss: alles was wir denken, wahrnehmen und erfinden ist unvollständig.
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Was also sind mentale Phänomene? Und vor allem wie kommen mentale Phänomene überhaupt in die Welt? Singer untersucht daher die Möglichkeit einer evolutionären Erklärung. Er stellt zunächst fest, dass Evolutionsprozesse äußerst konservativ sind und das die Gehirnentwicklung „von erstaunlicher Monotonie gekennzeichnet“ ist. So funktionieren die Nervenzellen von Schnecken nach denselben Prinzipien wie die Nervenzellen der Großhirnrinde des Menschen. Die Gehirne werden zwar größer, aber die Struktur blieb nahezu gleich. Einzig die Quantitative Ausdifferenzierung der Großhirnrinde zeigt einen Unterschied. Es lässt sich daher zunächst plausibel argumentieren, dass das Mentale nur auf einer quantitativen Vermehrung einer bestimmten Hirnstruktur beruht. Und sieht man sich die komplexen neuronalen Verschaltungen genau an, so sieht man, dass die Hirnrinde sich vorwiegend mit sich selbst beschäftigt.
  
Gleich im Anschluss schreibt Singer: „Für alle drei Lesarten lassen sich gute Argumente ins Feld führen. Damit diese Abhandlung nicht in ein fatalistisches, alles relativierendes Ignoramus mündet und jede weitere Überlegung gegenstandslos macht, sollen zumindest jene Beschreibungen und Erklärungen als gegeben und zutreffend angesehen werden, die sich aus der Dritten-Person-Perspektive der wissenschaftlichen Betrachtung als konsensfähig, widerspruchsfrei und gemäß der Kriterien von Wiederhol- und Voraussagbarkeit als beweisbar erwiesen haben. Dabei soll jedoch nicht aus dem Blick geraten, dass auch dieses Wissen sich den kognitiven Leistungen menschlicher Gehirne verdankt.
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Dies führt direkt in den Bereich der Metapräsentation. „Reflektieren wir unsere primären kognitiven Leistungen, dann sind unsere eigenen Wahrnehmungsprozesse der Gegenstand dieser Reflexion." Wie aber werden Phänomene überhaupt bewusst?
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Nach Singer gilt, „dass Inhalte dann bewusst werden, wenn sie mit selektiver Aufmerksamkeit bedacht werden. Nur dann können sie im episodischen Gedächtnis gespeichert werden und später wieder einer bewussten Reflexion unterzogen werden. Dadurch scheint es zumindest erklärbar zu sein, wie Kognition zum Gegenstand von Kognition werden kann. Aber es beantwortet nicht die Frage „’wer’ sich letztendlich diese Metaprozesse ‚anschaut’“. Das Ich  fehlt sozusagen – eine voreilige Antwort wäre es einfach  anzunehmen, es müsse ein Zentrum im Gehirn geben, welches alle entscheidet und wo das Ich gebildet wird. Nach den bisherigen Studien zeigt sich aber, dass diese Annahme falsch ist. Da Hirn ist vielmehr „ein hochvernetzte[s] distributiv organisiertes System“, in dem eine „riesige Zahl von Operationen gleichzeitig“ abläuft. Wenn also das Gehirn so dezentral organisiert ist, stellt sich die Frage, wie überhaupt ein kohärentes Bewusstsein entstehen kann, dieses Problem wird auch Bindungsproblem genannt.
  
: Diese Aussage ist interessant, weil er hier versucht, Widersprüche miteinander zu vereinen. Einerseits meint er selbst, dass unsere Gehirne unvollständig wahrnehmen, andererseits will er, dass wir Erklärungen annehmen, die sich als widerspruchsfrei (ist das überhaupt möglicht? gibt es einen Beweis ohne Gegenbeweis? gibt es eine These ohne Antithese?) herausgestellt haben um dann gleich wieder darauf hin zu weisen, dass all das auch nur aus unseren Gehirnen entsprungen ist, womit er uns quasi selbst wieder darauf hinweist, dass die Fähigkeiten des (menschlichen) Hirnes beschränkt sind. Natürlich besteht die Gefahr, in ein „alles ist realtiv“-Argument zu verfallen, aber wäre es nicht der bessere Weg sich einzugestehen, mit den jetzigen Mitteln nicht weiterzukommen um vielleicht an anderen zu arbeiten, als zu sagen, dass die jetzigen Mittel zwar falsch bzw. unvollständig sind aber trotzdem zu Rate gezogen werden müssen, da uns nichts anderes zur Verfügung steht? Nun, wohl nicht, denn jedes weitere Mittel, und sei es noch so revolutionär, müsse wohl auch als Produkt unseres Hirnes gesehen und damit als unvollständig betrachtet werden. Allerdings kann man hier die Frage anführen: was wäre, wenn es dem Menschen gelänge, eine künstliche Intelligenz zu entwickeln, die anders wahrnehmen kann, die andere Daten ausarbeitet, die zu anderen Ergebnissen käme wären diese Ergebnisse immer noch menschliche Erzeugnisse, Erzeugnisse aus menschlichen Gehirnen oder wären es die Erzeugnisse dieser Intelligenz und damit unter Umständen wahrer, richtiger, vollständiger? Wären wir überhaupt in der Lage, diese „neuen Ergebnisse“ zu erfassen und zu verstehen, da sich unser Gehirn in seiner Leistung und Wahrnehmung nicht geändert haben dürfte?
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Singers eigener Ansatz zu Erklärung dieses Problems baut auf der Annahme auf, „dass die zur Bindung verteilter Aktivitäten erforderliche Koordination über die Definition präziser zeitlicher Relationen zwischen neuronalen Antworten verwirklicht wird." Dies heißt also nichts anderes, als dass „das Gehirn die zeitliche Dimension als Kodierungsraum nutzt und präzise zeitliche Synchronisation als Code für die Zusammengehörigkeit neuronaler Antworten verwendet.“ Ein neuronales Korrelat einer Wahrnehmung oder einer Entscheidung wäre dann nichts anderes als ein “komplexes raum-zeitliches Muster synchron aktiver Nervenzellen, das sich über hinreichend lange Zeit stabilisiert, um verhaltensrelevant zu werden oder sogar bewusst zu werden.“ Im Entscheidungswettkampf setzt sich das Erregungsmuster durch, „das den verschiedenen Attraktoren am besten entspricht“ dies passiert alles ohne „übergeordneten Schiedsrichter“. Damit lässt sich nach Singer zumindest das grundlegende Prinzip verstehen, die dazu führen, wie dynamische neuronale Zustände in Verhaltensreaktionen umgesetzt werden. Offen bleibt aber, wie sich aus diesem System ein Ich bilden kann, welches sich als freies und autonomes Wesen begreift. Singer präsentiert im Folgenden seinen hypothetischen Vorschlag: Das Selbstmodell als soziales Konstrukt.
  
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== Bewusstes und Unbewusstes ==
  
„Im Folgenden soll der Versuch gemacht werden, die Bedingungen zu identifizieren, die es uns ermöglichen, uns als selbstbestimmende, frei entscheidende Wesen zu erfahren. Eine zentrale Rolle scheint hierbei dem Faktum zuzukommen, dass uns bei weitem nicht alle Vorgänge in unserem Gehirn bewusst werden. (...) Nur die Aspekte, denen wir Aufmerksamkeit schenken, werden uns auch bewusst, und nur diese können wir im deklarativen Gedächtnis abspeichern, und nur über diese können wir später berichten. Natürlich hinterlassen auch die unbewussten Verarbeitungsprozesse Gedächtnisspuren und beeinflussen zukünftiges Handeln. Aber wir werden uns dieser Handlungsdeterminanten nicht bewusst und können sie deshalb nicht als Begründungen für unser Tun anführen. Diese Parallelität von bewussten und unbewussten Handlungsdeterminanten ist ein wichtiger Grund dafür, dass wir uns aus der Ersten-Person-Perspektive heraus als freie autonome Agenten erfahren können.
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Zunächst lässt sich feststellen, dass nicht alle Vorgänge im Gehirn bewusst werden. Im Gegenteil, „nur ein kleiner Ausschnitt“ aus dem „kontinuierlichen Strom der Sinnessignale“ wird uns bewusst. Aus dieser Parallelität von "bewussten und unbewussten Handlungsdeterminationen“ ist es daher verständlich, dass wir nur den bewussten Gründen Relevanz zuschreiben und uns so als freies autonomes Wesen begreifen. Weil unbewusste Motive eben per definitionem unbewusst sind, ergibt sich kein Widerspruch zwischen unseren Entscheidungen und dem Gefühl, wir wären frei.
Eine weitere Voraussetzung für die Konstitution eines Selbst, das sich frei wähnt, (...) ist die soziale Interaktion.“ Hier geht er darauf ein, dass wir von frühester Kindheit an lernen, eine Wahl zu haben, ob wir etwas tun oder lassen. Von den Eltern wird uns eingetrichtert, dass wir, wenn wir etwas bestimmtes tun oder lassen, dann bestimmte Konsequenzen zu erwarten hätten, was eindeutig suggeriert: du könntest wenn du wolltest, musst aber mit den Folgen leben können.
 
„Sollte diese Interpretation zutreffen, dann wäre unsere Erfahrung, frei zu sein, eine Illusion, die sich aus zwei Quellen nährt: 1.) der durch die Trennung von bewussten und unbewussten Hirnprozessen widerspruchsfreien Empfindung, alle relevanten Entscheidungsvariablen bewusst gegeneinander abwägen zu können und 2.) der Zuschreibung von Freiheit und Verantwortung durch andere Menschen.
 
  
Des Weiteren meint er zum Thema „freier Wille“: „Wir gehen offenbar davon aus, dass Motive, die wir ins Bewusstsein heben und einer bewussten Deliberation unterziehen können, dem freien Willen unterworfen sind, während Motive, die nicht bewusstseinsfähig sind, offenbar nicht dem freien Willen unterliegen. Im Bezug auf die zu Grunde liegende neuronalen Prozesse erscheint diese Dichotomie wenig plausibel. Denn in beiden Fällen werden die Entscheidungen und Handlungen durch neuronale Prozesse vorbereitet, nur dass in einem Fall der Scheinwerfer der Aufmerksamkeit auf den Motiven liegt und diese ins Bewusstsein hebt und im anderen nicht. Aber der Abwägungsprozess selbst beruht natürlich in beiden Fällen auf neuronalen Prozessen und folgt somit in beiden Szenarien deterministischen Naturgesetzen.“
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Ein weiterer Punkt behandelt die frühkindliche Prägung. Wir erfahren schon als Kleinkinder eine „Zuschreibung von Autonomie und Freiheit“. Durch elterliches Bestrafen und Mahnen, entsteht der Eindruck des Anders-Können, diese Zuschreibung internalisieren wir mit der Zeit und begreifen es als selbstverständlich. Die sozialen Beziehungen, die zur Ich-Konstituierung führen, beginnen sehr früh. Da Kleinkinder „noch kaum über deklaratives Gedächtnis verfügen […]“, können sie sich nicht an diesen Lernprozess erinnern. Und weil uns diese Zuschreibungen nie als erlernt erscheinen, gelten sie für uns als absolut.  
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Nach Singer sind frühe Prägungen im Gehirn fast so nachhaltig wie genetische Faktoren.  
  
„Die in der lebensweltlichen Praxis gängige Unterscheidung von gänzlich unfreien, etwas freieren und ganz freien Entscheidungen erscheint in Kenntnis der zu Grunde liegenden neuronalen Prozesse problematisch. Unterschiedlich sind lediglich die Herkunft der Variablen und die Art ihrer Verhandlung: Genetische Faktoren, frühe Prägung, soziale Lernvorgänge und aktuelle Auslöser, zu denen auch Befehle, Wünsche und Argumente anderer zählen, wirken stets untrennbar zusammen und legen das Ergebnis fest, gleich, ob sich Entscheidungen mehr unbewussten oder bewussten Motiven verdanken. Sie bestimmen gemeinsam die dynamischen Zustände der ‚entscheidenden’ Nervennetze.“
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Freie Entscheidungen sind für uns scheinbar Entscheidungen, die durch “rationale Verhandlung von bewusstseinsfähigen Inhalten“ konstituiert worden sind. Bewusste Motive müssen aber nicht die tatsächlich Entscheidungen sein, oft erleben Menschen, Konflikte im Abwägungsprozess von Argumenten: Manche Entscheidungen werden mit einem unwohlen Gefühl getroffen, so als ob es noch andere Kräfte gäbe. Auch gibt es Handlungen, die wir nicht selbst gewollt haben, aber nachträglich einen Akt des Wollens zuschreiben. Für Singer folgt daher, dass das Gehirn offensichtlich „Kongruenz zwischen dem im Bewusstsein vorhanden Argumenten und den aktuellen Handlungen bzw. Entscheidungen [herstellt].“ Und sollten nicht die passenden Argumente vorhanden sein, so „werden sie um der Kohärenz willen ad hoc erfunden.“
  
Mit anderen Worten scheint sich die Frage nach einem Freien Willen gar nicht zu stellen, denn er ist aus dieser Sicht der Dinge nichts weiter als eine Illusion, die uns von unserem Gehirn erzeugt wurde.
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[[Wolf Singer: Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbestimmung. Zwei konfliktträchtige Erkenntnisquellen, Version vom 18.4.2007]]
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[[Deutsche Zeitschrift für Philosophie (FiK)]]
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Aktuelle Version vom 3. Mai 2007, 13:11 Uhr

02/2004 Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 235-255

Ein epistemisches Caveat

Beschäftigen wir uns mit dem Geist, dem freien Willen und anderen mentalen „Gehalten“, dann verfügen wir über zwei verschiedene Zugangsweisen: Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbeschreibung. Für Singer scheint es zunächst problematisch, überhaupt Aussagen über kognitive Leistungen zu machen, da eine „Zirkularität des Unterfangens“ besteht. Das Gehirn versucht sich mit seinen eigenen Fähigkeiten selbst zu begreifen. Aber unser Gehirn ist höchst selektiv, „was für unsere kognitiven Systeme unfassbar ist, existiert nicht für uns.“ Wir sind auf unser neuronales System angewiesen und zugleich darauf beschränkt. Und weil unser kognitives System ein Produkt der Evolution ist, unterliegt es eben den evolutionären Prozessen: „Im Wettbewerb um Überleben und Reproduktion kam es vorwiegend darauf an, aus der Fülle im Prinzip verfügbarer Informationen nur jene aufzunehmen und zu verarbeiten, die für die Bedürfnisse des jeweiligen Organismus bedeutsam sind.“ Das Gehirn operiert also selektiv, und besteht keine Kohärenz, so konstruiert es eine: Fehlendes wird ergänzt und Widersprüche ignoriert. Objektivität ist kein Anspruch unseres Gehirns. In der Konstruktion greift es auf zwei Quellen des Wissens zurück: evolutionär erworbenes Wissen, gespeichert im Genom und individuell erworbenes Wissen durch Erfahrung. Daher bleibt die Sorge aufrecht und berechtigt, dass Denken auch nicht verlässlicher sei als unsere Wahrnehmung. Diese kritischen Bemerkungen gilt es für Singer immer im Hinterkopf zu behalten, v. a. wenn wir es mit dem Phänomenbereich des Geistigen zu tun haben.

Konstituierung des Ichs

Im Alltag erleben wir uns als kohärentes Selbst in Form einer Ich-Zuschreibung. Die verschiedenen Gefühle besitze ich, gibt es mich nicht, so gibt es auch keine Gefühle, die erfahren werden können. Auch fühle ich mich frei, treffe freie und bewusste Entscheidungen, begreife geistige, seelische Phänomene als immateriell, überhaupt fühle ich mich selbst als ein beseeltes Wesen. Zugleich jedoch auch mit der materiellen Welt verbunden und zugehörig. Wir können die Welt untersuchen und feststellen wie sie funktioniert und erklären sie mit den deterministischen Prozessen der Natur. Auch Verhalten können wir naturwissenschaftlich erklären, „wir haben kein Problem mit der Einsicht, dass tierisches Verhalten vollkommen determiniert ist“. Nur uns selbst nehmen wir davon aus, wir sehen uns von der dinglichen Welt verschieden – ontologisch verschieden. „Wir empfinden unser Ich den körperlichen Prozessen gewissermaßen gegenübergestellt.“ Zweifelsohne spielt das Gehirn eine Rolle, aber nur als Mittel zum Zweck. Das wahrnehmende, entscheidende und wertende Ich bedient sich den neuronalen Systemen, „um Informationen über die Welt zu gewinnen und Beschlüsse in Taten umzusetzen.“ Wir haben das Gefühl, dass wir es selbst sind, die diese Prozesse kontrollieren.

Für Singer sind diese Annahmen – aufgrund der deterministischen Gesetze - problematisch. Die Differenz zwischen Selbstwahrnehmung und Fremdbeschreibung ist im Laufe der Geschichte immer problematischer geworden, insbesondere in heutiger Zeit durch die Erkenntnisse der Neurowissenschaften. So gibt es immer stärkere Hinweise dafür, „dass menschliche und tierische Gehirne sich fast nicht unterscheiden, dass ihre Entwicklung, ihr Aufbau und ihre Funktionen den gleichen Prinzipien gehorchen“. Den cartesianischen Dualismus verwirft Singer, da er mit den heutigen naturwissenschaftlichen Theorien nicht vereinbar ist und nur geglaubt, aber nicht abgeleitet werden kann. Auch den Panpsychismus, also die Annahme, dass alles beseelt ist, führt für ihn nur in zahlreiche Konflikte und ist daher nicht sonderlich dienlich. Die Schwierigkeiten der mentalen Verursachung zeigen für Singer, wie problematisch Dualistische Erklärungsmodelle sind. Denn „Wechselwirkungen mit Materiellem erfordern den Austausch von Energie“. Ist das geistige immateriell, stellt sich die Frage, wie es neuronale Prozesse beeinflussen kann. Dafür benötigt der Geist Energie, wäre aber somit nicht mehr immateriell.

Eine mögliche Genese des Mentalen

Was also sind mentale Phänomene? Und vor allem wie kommen mentale Phänomene überhaupt in die Welt? Singer untersucht daher die Möglichkeit einer evolutionären Erklärung. Er stellt zunächst fest, dass Evolutionsprozesse äußerst konservativ sind und das die Gehirnentwicklung „von erstaunlicher Monotonie gekennzeichnet“ ist. So funktionieren die Nervenzellen von Schnecken nach denselben Prinzipien wie die Nervenzellen der Großhirnrinde des Menschen. Die Gehirne werden zwar größer, aber die Struktur blieb nahezu gleich. Einzig die Quantitative Ausdifferenzierung der Großhirnrinde zeigt einen Unterschied. Es lässt sich daher zunächst plausibel argumentieren, dass das Mentale nur auf einer quantitativen Vermehrung einer bestimmten Hirnstruktur beruht. Und sieht man sich die komplexen neuronalen Verschaltungen genau an, so sieht man, dass die Hirnrinde sich vorwiegend mit sich selbst beschäftigt.

Dies führt direkt in den Bereich der Metapräsentation. „Reflektieren wir unsere primären kognitiven Leistungen, dann sind unsere eigenen Wahrnehmungsprozesse der Gegenstand dieser Reflexion." Wie aber werden Phänomene überhaupt bewusst? Nach Singer gilt, „dass Inhalte dann bewusst werden, wenn sie mit selektiver Aufmerksamkeit bedacht werden. Nur dann können sie im episodischen Gedächtnis gespeichert werden und später wieder einer bewussten Reflexion unterzogen werden. Dadurch scheint es zumindest erklärbar zu sein, wie Kognition zum Gegenstand von Kognition werden kann. Aber es beantwortet nicht die Frage „’wer’ sich letztendlich diese Metaprozesse ‚anschaut’“. Das Ich fehlt sozusagen – eine voreilige Antwort wäre es einfach anzunehmen, es müsse ein Zentrum im Gehirn geben, welches alle entscheidet und wo das Ich gebildet wird. Nach den bisherigen Studien zeigt sich aber, dass diese Annahme falsch ist. Da Hirn ist vielmehr „ein hochvernetzte[s] distributiv organisiertes System“, in dem eine „riesige Zahl von Operationen gleichzeitig“ abläuft. Wenn also das Gehirn so dezentral organisiert ist, stellt sich die Frage, wie überhaupt ein kohärentes Bewusstsein entstehen kann, dieses Problem wird auch Bindungsproblem genannt.

Singers eigener Ansatz zu Erklärung dieses Problems baut auf der Annahme auf, „dass die zur Bindung verteilter Aktivitäten erforderliche Koordination über die Definition präziser zeitlicher Relationen zwischen neuronalen Antworten verwirklicht wird." Dies heißt also nichts anderes, als dass „das Gehirn die zeitliche Dimension als Kodierungsraum nutzt und präzise zeitliche Synchronisation als Code für die Zusammengehörigkeit neuronaler Antworten verwendet.“ Ein neuronales Korrelat einer Wahrnehmung oder einer Entscheidung wäre dann nichts anderes als ein “komplexes raum-zeitliches Muster synchron aktiver Nervenzellen, das sich über hinreichend lange Zeit stabilisiert, um verhaltensrelevant zu werden oder sogar bewusst zu werden.“ Im Entscheidungswettkampf setzt sich das Erregungsmuster durch, „das den verschiedenen Attraktoren am besten entspricht“ – dies passiert alles ohne „übergeordneten Schiedsrichter“. Damit lässt sich nach Singer zumindest das grundlegende Prinzip verstehen, die dazu führen, wie dynamische neuronale Zustände in Verhaltensreaktionen umgesetzt werden. Offen bleibt aber, wie sich aus diesem System ein Ich bilden kann, welches sich als freies und autonomes Wesen begreift. Singer präsentiert im Folgenden seinen hypothetischen Vorschlag: Das Selbstmodell als soziales Konstrukt.

Bewusstes und Unbewusstes

Zunächst lässt sich feststellen, dass nicht alle Vorgänge im Gehirn bewusst werden. Im Gegenteil, „nur ein kleiner Ausschnitt“ aus dem „kontinuierlichen Strom der Sinnessignale“ wird uns bewusst. Aus dieser Parallelität von "bewussten und unbewussten Handlungsdeterminationen“ ist es daher verständlich, dass wir nur den bewussten Gründen Relevanz zuschreiben und uns so als freies autonomes Wesen begreifen. Weil unbewusste Motive eben per definitionem unbewusst sind, ergibt sich kein Widerspruch zwischen unseren Entscheidungen und dem Gefühl, wir wären frei.

Ein weiterer Punkt behandelt die frühkindliche Prägung. Wir erfahren schon als Kleinkinder eine „Zuschreibung von Autonomie und Freiheit“. Durch elterliches Bestrafen und Mahnen, entsteht der Eindruck des Anders-Können, diese Zuschreibung internalisieren wir mit der Zeit und begreifen es als selbstverständlich. Die sozialen Beziehungen, die zur Ich-Konstituierung führen, beginnen sehr früh. Da Kleinkinder „noch kaum über deklaratives Gedächtnis verfügen […]“, können sie sich nicht an diesen Lernprozess erinnern. Und weil uns diese Zuschreibungen nie als erlernt erscheinen, gelten sie für uns als absolut. Nach Singer sind frühe Prägungen im Gehirn fast so nachhaltig wie genetische Faktoren.

Freie Entscheidungen sind für uns scheinbar Entscheidungen, die durch “rationale Verhandlung von bewusstseinsfähigen Inhalten“ konstituiert worden sind. Bewusste Motive müssen aber nicht die tatsächlich Entscheidungen sein, oft erleben Menschen, Konflikte im Abwägungsprozess von Argumenten: Manche Entscheidungen werden mit einem unwohlen Gefühl getroffen, so als ob es noch andere Kräfte gäbe. Auch gibt es Handlungen, die wir nicht selbst gewollt haben, aber nachträglich einen Akt des Wollens zuschreiben. Für Singer folgt daher, dass das Gehirn offensichtlich „Kongruenz zwischen dem im Bewusstsein vorhanden Argumenten und den aktuellen Handlungen bzw. Entscheidungen [herstellt].“ Und sollten nicht die passenden Argumente vorhanden sein, so „werden sie um der Kohärenz willen ad hoc erfunden.“

Wolf Singer: Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbestimmung. Zwei konfliktträchtige Erkenntnisquellen, Version vom 18.4.2007

Deutsche Zeitschrift für Philosophie (FiK)


<root><br /> <h level="2" i="1">== Kontext ==</h>

Freiheit im Kopf (Seminar Hrachovec, 2006/07)

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