Wolf Singer: Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbestimmung. Zwei konfliktträchtige Erkenntnisquellen

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02/2004 Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 235-255

Ein epistemisches Caveat

Beschäftigen wir uns mit dem Geist, dem freien Willen und anderen mentalen „Gehalten“, dann verfügen wir über zwei verschiedene Zugangsweisen: Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbeschreibung. Für Singer scheint es zunächst problematisch, überhaupt Aussagen über kognitive Leistungen zu machen, da eine „Zirkularität des Unterfangens“ besteht. Das Gehirn versucht sich mit seinen eigenen Fähigkeiten selbst zu begreifen. Aber unser Gehirn ist höchst selektiv, „was für unsere kognitiven Systeme unfassbar ist, existiert nicht für uns.“ Wir sind auf unser neuronales System angewiesen und zugleich darauf beschränkt. Und weil unser kognitives System ein Produkt der Evolution ist, unterliegt es eben den evolutionären Prozessen: „Im Wettbewerb um Überleben und Reproduktion kam es vorwiegend darauf an, aus der Fülle im Prinzip verfügbarer Informationen nur jene aufzunehmen und zu verarbeiten, die für die Bedürfnisse des jeweiligen Organismus bedeutsam sind.“ Das Gehirn operiert also selektiv, und besteht keine Kohärenz, so konstruiert es eine: Fehlendes wird ergänzt und Widersprüche ignoriert. Objektivität ist kein Anspruch unseres Gehirns. In der Konstruktion greift es auf zwei Quellen des Wissens zurück: evolutionär erworbenes Wissen, gespeichert im Genom und individuell erworbenes Wissen durch Erfahrung. Daher bleibt die Sorge aufrecht und berechtigt, dass Denken auch nicht verlässlicher sei als unsere Wahrnehmung. Diese kritischen Bemerkungen gilt es für Singer immer im Hinterkopf zu behalten, v. a. wenn wir es mit dem Phänomenbereich des Geistigen zu tun haben.

Konstituierung des Ichs

Im Alltag erleben wir uns als kohärentes Selbst in Form einer Ich-Zuschreibung. Die verschiedenen Gefühle besitze ich, gibt es mich nicht, so gibt es auch keine Gefühle, die erfahren werden können. Auch fühle ich mich frei, treffe freie und bewusste Entscheidungen, begreife geistige, seelische Phänomene als immateriell, überhaupt fühle ich mich selbst als ein beseeltes Wesen. Zugleich jedoch auch mit der materiellen Welt verbunden und zugehörig. Wir können die Welt untersuchen und feststellen wie sie funktioniert und erklären sie mit den deterministischen Prozessen der Natur. Auch Verhalten können wir naturwissenschaftlich erklären, „wir haben kein Problem mit der Einsicht, dass tierisches Verhalten vollkommen determiniert ist“. Nur uns selbst nehmen wir davon aus, wir sehen uns von der dinglichen Welt verschieden – ontologisch verschieden. „Wir empfinden unser Ich den körperlichen Prozessen gewissermaßen gegenübergestellt.“ Zweifelsohne spielt das Gehirn eine Rolle, aber nur als Mittel zum Zweck. Das wahrnehmende, entscheidende und wertende Ich bedient sich den neuronalen Systemen, „um Informationen über die Welt zu gewinnen und Beschlüsse in Taten umzusetzen.“ Wir haben das Gefühl, dass wir es selbst sind, die diese Prozesse kontrollieren.

Für Singer sind diese Annahmen – aufgrund der deterministischen Gesetze - problematisch. Die Differenz zwischen Selbstwahrnehmung und Fremdbeschreibung ist im Laufe der Geschichte immer problematischer geworden, insbesondere in heutiger Zeit durch die Erkenntnisse der Neurowissenschaften. So gibt es immer stärkere Hinweise dafür, „dass menschliche und tierische Gehirne sich fast nicht unterscheiden, dass ihre Entwicklung, ihr Aufbau und ihre Funktionen den gleichen Prinzipien gehorchen“. Den cartesianischen Dualismus verwirft Singer, da er mit den heutigen naturwissenschaftlichen Theorien nicht vereinbar ist und nur geglaubt, aber nicht abgeleitet werden kann. Auch den Panpsychismus, also die Annahme, dass alles beseelt ist, führt für ihn nur in zahlreiche Konflikte und ist daher nicht sonderlich dienlich. Die Schwierigkeiten der mentalen Verursachung zeigen für Singer, wie problematisch Dualistische Erklärungsmodelle sind. Denn „Wechselwirkungen mit Materiellem erfordern den Austausch von Energie“. Ist das geistige immateriell, stellt sich die Frage, wie es neuronale Prozesse beeinflussen kann. Dafür benötigt der Geist Energie, wäre aber somit nicht mehr immateriell.

Eine mögliche Genese des Mentalen

Was also sind mentale Phänomene? Und vor allem wie kommen mentale Phänomene überhaupt in die Welt? Singer untersucht daher die Möglichkeit einer evolutionären Erklärung. Er stellt zunächst fest, dass Evolutionsprozesse äußerst konservativ sind und das die Gehirnentwicklung „von erstaunlicher Monotonie gekennzeichnet“ ist. So funktionieren die Nervenzellen von Schnecken nach denselben Prinzipien wie die Nervenzellen der Großhirnrinde des Menschen. Die Gehirne werden zwar größer, aber die Struktur blieb nahezu gleich. Einzig die Quantitative Ausdifferenzierung der Großhirnrinde zeigt einen Unterschied. Es lässt sich daher zunächst plausibel argumentieren, dass das Mentale nur auf einer quantitativen Vermehrung einer bestimmten Hirnstruktur beruht. Und sieht man sich die komplexen neuronalen Verschaltungen genau an, so sieht man, dass die Hirnrinde sich vorwiegend mit sich selbst beschäftigt.

Dies führt direkt in den Bereich der Metapräsentation. „Reflektieren wir unsere primären kognitiven Leistungen, dann sind unsere eigenen Wahrnehmungsprozesse der Gegenstand dieser Reflexion." Wie aber werden Phänomene überhaupt bewusst? Nach Singer gilt, „dass Inhalte dann bewusst werden, wenn sie mit selektiver Aufmerksamkeit bedacht werden. Nur dann können sie im episodischen Gedächtnis gespeichert werden und später wieder einer bewussten Reflexion unterzogen werden. Dadurch scheint es zumindest erklärbar zu sein, wie Kognition zum Gegenstand von Kognition werden kann. Aber es beantwortet nicht die Frage „’wer’ sich letztendlich diese Metaprozesse ‚anschaut’“. Das Ich fehlt sozusagen – eine voreilige Antwort wäre es einfach anzunehmen, es müsse ein Zentrum im Gehirn geben, welches alle entscheidet und wo das Ich gebildet wird. Nach den bisherigen Studien zeigt sich aber, dass diese Annahme falsch ist. Da Hirn ist vielmehr „ein hochvernetzte[s] distributiv organisiertes System“, in dem eine „riesige Zahl von Operationen gleichzeitig“ abläuft. Wenn also das Gehirn so dezentral organisiert ist, stellt sich die Frage, wie überhaupt ein kohärentes Bewusstsein entstehen kann, dieses Problem wird auch Bindungsproblem genannt.

Singers eigener Ansatz zu Erklärung dieses Problems baut auf der Annahme auf, „dass die zur Bindung verteilter Aktivitäten erforderliche Koordination über die Definition präziser zeitlicher Relationen zwischen neuronalen Antworten verwirklicht wird." Dies heißt also nichts anderes, als dass „das Gehirn die zeitliche Dimension als Kodierungsraum nutzt und präzise zeitliche Synchronisation als Code für die Zusammengehörigkeit neuronaler Antworten verwendet.“ Ein neuronales Korrelat einer Wahrnehmung oder einer Entscheidung wäre dann nichts anderes als ein “komplexes raum-zeitliches Muster synchron aktiver Nervenzellen, das sich über hinreichend lange Zeit stabilisiert, um verhaltensrelevant zu werden oder sogar bewusst zu werden.“ Im Entscheidungswettkampf setzt sich das Erregungsmuster durch, „das den verschiedenen Attraktoren am besten entspricht“ – dies passiert alles ohne „übergeordneten Schiedsrichter“. Damit lässt sich nach Singer zumindest das grundlegende Prinzip verstehen, die dazu führen, wie dynamische neuronale Zustände in Verhaltensreaktionen umgesetzt werden. Offen bleibt aber, wie sich aus diesem System ein Ich bilden kann, welches sich als freies und autonomes Wesen begreift. Singer präsentiert im Folgenden seinen hypothetischen Vorschlag: Das Selbstmodell als soziales Konstrukt.

Bewusstes und Unbewusstes

Zunächst lässt sich feststellen, dass nicht alle Vorgänge im Gehirn bewusst werden. Im Gegenteil, „nur ein kleiner Ausschnitt“ aus dem „kontinuierlichen Strom der Sinnessignale“ wird uns bewusst. Aus dieser Parallelität von "bewussten und unbewussten Handlungsdeterminationen“ ist es daher verständlich, dass wir nur den bewussten Gründen Relevanz zuschreiben und uns so als freies autonomes Wesen begreifen. Weil unbewusste Motive eben per definitionem unbewusst sind, ergibt sich kein Widerspruch zwischen unseren Entscheidungen und dem Gefühl, wir wären frei.

Ein weiterer Punkt behandelt die frühkindliche Prägung. Wir erfahren schon als Kleinkinder eine „Zuschreibung von Autonomie und Freiheit“. Durch elterliches Bestrafen und Mahnen, entsteht der Eindruck des Anders-Können, diese Zuschreibung internalisieren wir mit der Zeit und begreifen es als selbstverständlich. Die sozialen Beziehungen, die zur Ich-Konstituierung führen, beginnen sehr früh. Da Kleinkinder „noch kaum über deklaratives Gedächtnis verfügen […]“, können sie sich nicht an diesen Lernprozess erinnern. Und weil uns diese Zuschreibungen nie als erlernt erscheinen, gelten sie für uns als absolut. Nach Singer sind frühe Prägungen im Gehirn fast so nachhaltig wie genetische Faktoren.

Freie Entscheidungen sind für uns scheinbar Entscheidungen, die durch “rationale Verhandlung von bewusstseinsfähigen Inhalten“ konstituiert worden sind. Bewusste Motive müssen aber nicht die tatsächlich Entscheidungen sein, oft erleben Menschen, Konflikte im Abwägungsprozess von Argumenten: Manche Entscheidungen werden mit einem unwohlen Gefühl getroffen, so als ob es noch andere Kräfte gäbe. Auch gibt es Handlungen, die wir nicht selbst gewollt haben, aber nachträglich einen Akt des Wollens zuschreiben. Für Singer folgt daher, dass das Gehirn offensichtlich „Kongruenz zwischen dem im Bewusstsein vorhanden Argumenten und den aktuellen Handlungen bzw. Entscheidungen [herstellt].“ Und sollten nicht die passenden Argumente vorhanden sein, so „werden sie um der Kohärenz willen ad hoc erfunden.“

Wolf Singer: Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbestimmung. Zwei konfliktträchtige Erkenntnisquellen, Version vom 18.4.2007

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Freiheit im Kopf (Seminar Hrachovec, 2006/07)

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