Benutzer:Eseidl/OSP-E04-24 10 08: Unterschied zwischen den Versionen
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− | Die Philosophie, die wir haben, ist bei Platon geprägt von einem ganz antidemokratischen Moment. Diese von mir genannte Aussicht in den Ideenhimmel, als ein Ausweg gegen das Verklagen des Arztes durch die Köche | + | Die Philosophie, die wir haben, ist bei Platon geprägt von einem ganz antidemokratischen Moment. Diese von mir genannte Aussicht in den Ideenhimmel, als ein Ausweg gegen das Verklagen des Arztes durch die Köche vor den Kindern, diese Idee ist ja eine ganz eindeutige antidemokratische Sentenz - angesichts der Dummheit der Leute, die den Sokrates zum Tode verurteilt haben. Die Ideenlehre von Platon, die ebenfalls eine Konsequenz daraus ist, ist eine Intervention - die Kinder sollen sich besser damit anfreunden, dass sie erzogen werden sollen. Kinder brauchen also Erziehungsprozesse und das ist im "Staat" auch entsprechend rigoros durchgeführt. |
− | Solche Erziehungsprozesse | + | Solche Erziehungsprozesse erhalten sie in unserer gesamten Tradition durch den Vernunftbegriff - durch die Orientierung an der Vernunft, durch den Austritt aus der Höhle - alle diese Dinge beginnen an dieser Stelle. Diese Form von Erziehung, um es vorsichtig zu sagen, hat aber ein schwieriges Verhältnis zur Demokratisierung. |
− | + | Denn wenn jemand das Angebot bekommt, dass er Athener ist und zu dem kleinen Kreis der Athener zählt: "Wenn deine Mutter nicht Athenerin gewesen wäre, dann wärst du nicht Athener, aber du gehörst zu den Athenern. Ich gebe dir jetzt noch Geld, mit welchem Du überleben kannst, dafür, dass du richtig abstimmst." Darin ist noch nicht wirklich ein Motiv vorhanden, warum er das gut machen soll: "Was ist ein guter Schuh, was ist ein guter politischer Prozess?" Die Anstrengung, der 'drive', diesen politischen Prozess qualitativ zu gestalten; so weiterzuführen, dass man da von Gutem reden kann, steckt nicht direkt in diesen nominellen demokratischen Zuständen - und darum ist letztlich meine Frage zwischen Open Source und Philosophie, ob der von Platon ererbte Wahrheitsbegriff nicht zu revidieren ist, angesichts von Prozessen und Erfahrungen des Umgangs mit Wissen, die wir aus Internetzusammenhängen beziehen. | |
== Wie sieht die Auseinandersetzung zwischen Gorgias und Sokrates nun konkret aus? == | == Wie sieht die Auseinandersetzung zwischen Gorgias und Sokrates nun konkret aus? == |
Version vom 7. Juni 2012, 22:32 Uhr
Inhaltsverzeichnis
- 1 Open Source Philosophie - Einheit 04: 24.10.2008
- 2 Einleitende Worte
- 3 Plato und Open Source
- 4 Gorgias und die Rolle der Redekunst
- 5 Über das Wissen
- 6 Plato und die Politik
- 6.1 Und wie kann das im politischen Bereich funktionieren?
- 6.2 Warum ist Platons Philosophie antidemokratisch?
- 6.3 Wie sieht die Auseinandersetzung zwischen Gorgias und Sokrates nun konkret aus?
- 6.4 Was hat Kallikles damit zu tun?
- 6.5 Frage aus dem Auditorium: Gibt es Ähnlichkeiten zwischen Gorgias und Sokrates?
- 6.6 Wie stehen die Philosophen zum Expertentum?
- 7 Die Eigenschaft von Wissen
- 8 Der große Sprung - Von der Antike zur Jahrtausendwende
Open Source Philosophie - Einheit 04: 24.10.2008
- Vortragender: Prof. Herbert Hrachovec
- Zur Stoffzusammenfassung: Redekunst und Fachwissen
Einleitende Worte
Organisatorisches
Zur Einstimmung in unser Thema möchte ich einen kurzen Seitenblick auf einen Blogeintrag machen. Da gibt es einen Beitrag, der eine Illustration, einen gewissen Kommentar zu einen Thema enthält, von dem wir das letzte Mal gesprochen haben: Welche Wertigkeit hat Geld im Lebenszusammenhang unserer Gesellschaft? Wie ist die Tatsache zu betrachten, dass wir zwar für unseren ganz normalen Alltagsgebrauch in der Regel Geld brauchen, dass das aber parallel läuft mit anderen Formen der Beschäftigung, die nicht geprägt und dominiert sind von der Geldwirtschaft? Das ist ein Beitrag mit einem angeschlossenen kleinen Video über eine Frau, die bei Frau Maischberger aufgetreten ist und seit 12 Jahren ohne Geld lebt. Wir werfen hier einen kurzen Blick auf Lebensformen, die uns ein wenig sonderbar vorkommen, die aber genau in der Logik liegen, die wir im Zusammenhang mit Kritik am Geldverfahren kennen gelernt haben und es weist voraus auf etwas, das ich heute nochmal besprechen werde.
Das ist zwar einerseits ein Unterhaltungsfaktor im Fernsehen, weil ich doch zu Beginn der Vorlesung viel mit Fernsehen operiert habe und zweitens ist die Quelle davon ein Podcast. Ein Podcast eines evangelischen Pfarrers aus Salzburg in etwa, der eine schöne Linie zieht zwischen dieser Form von Nicht-Geld und Idealen der Lebensführung, die etwas zu tun haben mit einem Weg zu Gott. Das können Sie selbst hier ansehen und diese Linie zwischen einer Transzendenz, einer Kritik, einer Modifikation des Erwerbslebens, bis hin zu den höchsten Idealen. Es gibt im platonischen Zusammenhang natürlich noch nicht den christlichen Gott, aber bis hin zu ähnlich hochgesteckten Zielen ist dies eine Argumentationsweise, in die wir uns hier konstitutiv einlassen. Darüber noch ein bisschen mehr dann heute im Verlauf der Vorlesung.
Noch ein paar kleine administrative Punkte: Sie haben ja die Startseite der Vorlesung und entdecken hier dass wir eine neue Adresse für den Livestream haben, wenn Sie mal nicht hier sitzen. Wir hatten technische Schwierigkeiten mit dem vorherigen und Sie haben eine Transkription der Vorlesung von letzten Mal auch bereits fertiggestellt von Frau Hagmann. Das gibt mir die Gelegenheit auch deswegen, weil ich gefragt worden bin dazu nochmal etwas über diese Transkription zu sagen. Ich bin an der Stelle sehr überwältigt, darüber wie das funktioniert, auch ein bisschen unsicher, weil sich daraus herausgestellt hat, dass ich es nicht so erwartet habe. Es gibt nicht viel aktive Diskussionen im Wiki über die Sachen die ich sage. Aber es gibt eine große Begeisterung darüber, die Sachen abzutippen und damit einen sehr gemeinschaftsdienlichen Dienst zu machen und eine Vorlesung so abzutippen, gibt auch ein Zeugnis. Ich würde aber nicht dafür eintreten, dass mehrere Leute sich das für eine Vorlesung teilen, das ist ein bisschen unfair. Es ist auf den Weg gekommen, dass das eine Definition ist und es wenn jetzt drei Leute eine Vorlesung machen, bekommen sie quasi für ein Drittel der Arbeit das, was die Anderen für die ganze Vorlesung bekommen.
Es gibt in diesem Zusammenhang zu dieser Seite eine Diskussionsseite und in dieser gibt es eine ziemlich genaue Anleitung, wie man so ein Transkript macht. Ich muss an dieser Stelle darauf hinweisen, dass ich in diesem Semester ausgerechnet eine Reihe von Auslandsaufenthalten habe, sodass drei Vorlesungen speziell ausfallen. Davon gibt es eine, für die sich schon jemand gemeldet hatte mit den Benutzernamen PHABATS, am 28.11. Die fällt auch aus, da bin ich in Brünn und am 12.12. bin ich im Iran auf einem Vortrag und Konsultationstreffen. Diese Vorlesungen muss man also rausnehmen aus der Selbstzuordnung. Die Idee, sich im Wiki gestalterisch zu beschäftigen, die wird am besten so befördert, dass Sie sich in der Sandkiste anschauen was da drinnen schon steht und selber was reinschreiben. Sie wählen "Sandkiste", Sie wählen "bearbeiten", was Sie nicht können, wenn Sie sich nicht eingeloggt haben. Hier ist "anmelden", das ist mein Passwort und damit können sie in der Sandkiste unter "bearbeiten" schreiben. Im Prinzip kann ich das mit 12 Jahren leicht machen, also ich nehme das Argument, man brauche eine Extra-Einschulung für das Schreiben im Wiki, nicht ernst.
Überblick über die heutige Vorlesung
Ich gehe jetzt über zu der vorgesehenen weiteren Erörterung der sokratisch-platonischen Situation. Sie müssen natürlich nicht glauben, dass ich jetzt nach Platon Aristoteles und nach Aristoteles Thomas von Aquin interpretiere. Das ist die letzte Stunde, in der ich Sie mit griechischer Philosophie beschäftige. Heute am Ende werde ich einen Riesensprung machen, um Ihnen aus dem bisher Gesagten eine Verbindung herzustellen zu dem, was ich heutzutage als eine Problemstellung von der Philosophie der Open Source Thematik her sehe und ich will erklären, wieso ich mich so lange bei Platon aufhalte, der ja überhaupt keine Rolle spielt im Zusammenhang mit Open-Source-Diskussionen, wenn Sie in der Fachliteratur nachschauen. Dann will ich ein kleines Beispiel nennen, ein kleines Exempel, eine Merkformel zur Bedeutung von Platon für die Philsophie, die ich im Seminar "Interaktive Beschäftigung" schon gebracht habe. Da die Vorlesung daran interessiert ist, nachzuprüfen, was die Open Source Bewegung auch für die philosophische Tätigkeit Neues bringen kann und umgekehrt, die Philosophie als Tätigkeit der Open Source Bewegung.
Plato und Open Source
Welche Sonderstellung nimmt Plato in der Philosophie ein?
Da es so ist, ist es sinnvoll zu fragen, was denn Platon in der Philosophie ist. Wo kommt die Philosophie her? Was ist das für ein Typus von Beschäftigung und man kann sagen, es gibt viel Philosophie, aber es gibt nur einen Platon. Und jetzt kommt mein Merkzeichen: Das ist so ähnlich wie "es gibt viele mp3-Spieler, aber es gibt nur einen I-Pod". Das will das Folgende sagen: Die Idee, dass es eine Festplatte gibt, dass es eine Komprimierung von Audiofiles gibt, dass es RSS-Distributionen gibt, dass es das Internet gibt: Alle diese Ideen sind schon seit längerer Zeit separat vorgelegen. Der I-Pod ist deswegen "genial", da hier das erste Mal das alles in einer Art und Weise zusammengefasst wurde, die für alle weiteren Entwicklungen in dieser Form im Audiobereich richtungsweisend war. Man kann, wenn das einmal zusammen organisiert ist, wenn diese Idee einmal stattgefunden hat, das wiederholen, auch ohne ein Apple-Produkt zu machen.
Die Idee, dass da alle möglichen Sachen zusammengehen, ist etwas Erstmaliges, einzigartiges, richtungsweisendes - und so ähnlich fungierte Platon in der Philosophie: Als jemand, der einen Typus von Fragen und was alles da raus kommt, das erste Mal zusammenbringt. Solche Elemente wie Gerichtsverfahren, Demokratie, Marktwirtschaft, Wissensfrage, Vertiefung der Wissensfrage ... diese Idee, diese unterschiedlichen Ansätze kommen bei Platon und Sokrates in einer Art und Weise zusammen, die es bisher noch nicht gegebenen hat und die uns weiter beschäftigt. Das ist der Punkt, den ich Ihnen näher bringen wollte in den vorherigen Vorlesungen. Zu diesen entscheidenden Maßstab-setzenden Fragestellungen und Konstellationen gehört eben die Frage "Was ist Wissen wert?", "Wie viel zahlen wir für Wissen?", "Wie schaut es aus, dass wir in einer demokratisch verfassten Gesellschaft einerseits angewiesen sind auf die jeweiligen Fachkompetenzen, für die wir auch bereit sind zu zahlen, und andererseits als ein politisches Gemeinwesen uns in einer anderen Betrachtungsweise bewegen und uns vor der Frage sehen, wie denn die Art und Weise, wie wir politisch organisiert sind, zusammenpasst mit der Art und Weise, wie die Wirtschaft funktioniert?".
Worin besteht der Dualismus seit Plato?
Das will ich Ihnen jetzt wie zuvor mit Hilfe dieser drei Unterabschnitte "Thrasymachos will Geld", "Thrasymachos im peer review" und "Sokrates unbezahlt", jetzt durch eine Reihe von Gesprächsausschnitten aus den Dialogen "Gorgias" und "Protagoras" noch ein bisschen detaillierter vor Augen führen, damit Sie auch einen gewissen Zugang dazu haben, wieso in der Philosophie, wie sie hier jetzt noch immer und immer wieder gelehrt wird, das Moment der Nutzlosigkeit, der Nichtkommerzialität, eine so große Rolle spielt.
Hier mit diesen Zitaten aus dem Artikel "Vom Nutzen des Nutzlosen", von Höffe. Und das wird mir dazu dienen, Ihnen die folgende allgemeine Betrachtungsweise vorzuschlagen. Wir haben in der Philosophie seit Platon bis zur Gegenwart diese Präferenz für das ökonomisch nicht Auswertbare. Damit verbunden eine ziemlich krasse Dualisierung zwischen ökonomischem Wert und anderen Werten. Also Wissen, für das man nicht bezahlen muss. Das geht ein in das Selbstverständnis der Philosophie und damit sind wir noch immer mit einer Alternative beschäftigt, wenn wir Open Source Philosophie betreiben.
Philosophie positioniert und präsentiert sich gerne im Anschluss an Platon bis heute auf diese Art und Weise, auch wenn wir - wie letztes Mal bereits diskutiert - nicht ganz zufrieden sind mit diesem Dualismus. Wir müssen damit rechnen, dass Wissen etwas kostet, weil der Raum geheizt ist, der Beamer hier mit elektrischem Strom betrieben wird. Also das kostet etwas, da muss man damit umgehen, dass es hier Mischformen gibt und dieser krasse Dualismus so nicht stimmt. Mein Einstieg in die weiteren Überlegungen dieses Semesters ist grob gesagt der Folgende: Gibt es neue Formen der Wissensvermittlung, neue Formen wie gemeinschaftlich-gesellschaftlich Wissen produziert werden kann, die nicht in diesen Dualismus hineinfallen: "Ok, du musst es zahlen; oder andererseits: das ist so wichtig, das ist so gut, dass es eigentlich einen transzendenten Wert hat." Wenn man ein bisschen dafür bezahlt, dann muss man sich genieren, aber man braucht es ja als Philosoph, um zu überleben, also als Abgeltung für etwas eigentlich unbezahlbares.
Wo liegt nun der Zusammenhang mit Open Source?
Kann nun diese Form von Opposition, mit der in der Regel operiert wird, mit der wir auch leben, durch die im Internet schon praktizierten neuen Formen der Interaktion von Wissen neu aufgerollt werden? Und kann damit auch die sokratische Frage, wie Wissen zu organisieren ist, neu gestellt werden, nämlich nicht in der Disjunktion "zwischen Marktplatz und Ideenhimmel"? Das ist etwas, das wir gelernt haben und das uns geprägt hat, dass wir, wenn wir nicht im Markt abhängig sind von dem jeweiligen Angebot an Wissenstechnologie und an sophistischen Interventionen, einen Weg der Bildung zum Wahren, Guten, Schönen gehen müssen. Wahrheiten, die sich in einem philosophischen Bereich befinden. Ich glaube mal, dass es die meisten hier mitverfolgen können: Da geht es um einen "Basisimpuls" der Philosophie, der zu einer solchen Transzendierung von Marktzusammenhängen führt und dieser Basisimpuls ist sozusagen sowohl ein positiver als auch ein negativer Ausgangspunkt. Er ist wunderschön und nicht ökonomisch und orientiert an Idealen, stellt sich aber dem, was wir im normalen Leben haben, mit einer gewissen verzweifelten oder auch triumphierenden Bockigkeit gegenüber, was ja sozusagen Philosophie durchaus sympathisch macht: an dieser Stelle lautstark nicht mitmachen zu wollen.
Aber in einer Weise bin ich der Auffassung, dass das Heldendrama der Philosophie mit dem Appell an die Wahrheit nur beschränkt überzeugend ist, und man das selber in einer gewissen Weise in Frage stellen muss. Der Punkt der Überschneidung von Open Source und Philosophie, auf den ich zusteuere, ist nun der, dass man die Praktiken von Open Source, wenn man sie analysiert, verstehen kann als eine Antwort auf diese philosophische Frage, die aber nicht mit einem Ideenhimmel auf die Art und Weise verbunden ist wie es traditionell im Anschluss an die sokratisch-platonische Philosophie gemacht worden ist.
Das wird uns in weiterer Folge beschäftigen. Ich wollte Ihnen das als einen Orientierungsbogen darstellen, damit Sie wissen, was Sie zu erwarten haben unter dem dritten Titel, der nach Präliminarien und Demokratiedilemma noch ganz unausgefüllt ist, nämlich "Besser Wissen". Ich habe mit "Besser Wissen", den Titel einer Vorlesung, plagiiert, die ich selbst gehalten habe. Ich werde unter diesem Titel aber ein genaueres Verfahren, eine genaue Diskussion dieser Fragestellungen vorstellen.
Gorgias und die Rolle der Redekunst
Warum ist die Redekunst für Gorgias wichtig?
Zunächst noch, damit das plausibler wird, eine kleine Bemerkung über diese fünf Überschriften, die ich über die Platon-Zitate gesetzt habe. Worum es mir geht ist, auf der einen Seite, Ihnen kurz vor Augen zu führen, was für Sokrates die Rolle der Redekunst, der Rhetorik ist, das hängt zusammen mit den Sophisten. Gorgias ist ein Sophist, der sich als Redemeister/Unterweiser der Redekunst darstellt. Die interessante Frage, die von Sokrates an Gorgias gerichtet ist, ist jetzt die Folgende: Gorgias sagt: "So, wie wir unser Gemeinwesen organisiert haben, nämlich dass wir politische Entscheidungen, die alle Leute betreffen, in der Volksversammlung diskutieren und fällen, mache ich dich darauf aufmerksam, dass die Redekünstler die wichtigsten Leute überhaupt sind."
Ich greife da jetzt auch einmal vorweg zu einem Motiv, das ausgesprochen eindrucksvoll und einprägsam ist, an dieser Stelle, ein Merkzeichen geradezu, wenn Gorgias an der Stelle sagt: "Stellen wir uns doch vor, es geht darum, einen Arzt zu finden oder zu definieren; zu sagen, ich bin ein Arzt und ich habe etwas anzubieten. Wer ist ein Arzt? Und da sage ich dir, wenn die Volksversammlung verantwortlich ist dafür, zu sagen, wer ein Arzt ist, dann mache ich mich quasi erbötig, als rhetorisch Begabter, als Redekünstler, die Leute davon zu überzeugen, dass ich eher ein Arzt bin als der Arzt." Das heißt, die Ärzte werden sehr hilflos an dieser Stelle. In der Volksversammlung sind die Ärzte hilflos, weil die Entscheidungsmechanismen der Volksversammlung darin bestehen, dass man die Leute, und zwar viele Leute, überzeugen muss. Da fällt mir gerade ein: Ich zeige Ihnen noch dieses Zitat... Diese Idee ist mir so einschlägig und wichtig, dass ich eine vergleichbare Idee aus dem Gorgias auf meine Homepage gesetzt habe. Dieses Zitat aus dem Gorgias lautet wie folgt: (Sokrates:) Ich werde gerichtet werden, wie unter Kindern ein Arzt, den der Koch verklagte. Das ist ein wirklich schöner Merksatz, den man ein bisschen ausbuchstabieren kann: Wenn die Kinder spielen und sie sagen, dass sie noch ein Stück Torte wollen und noch eines und noch eines, dann kommt der Arzt und sagt, dass sie Karies bekommen und übergewichtig werden, deswegen verbietet er den Kindern ein weiteres Stück Torte. Dann kommen die Kinder und halten Gericht und beschließen, wen sie aus der Stadt vertreiben wollen. Wer ruiniert ihnen ihre Geburtstagsparty? - Das sind die Ärzte und nicht die Köche.
Was bedeutet das Beispiel mit Ärzten und Köchen?
Diese Form von Situation ist bei Platon eine nachträgliche Reflexion darüber, was dem Sokrates wirklich passiert ist. In der platonischen Sichtweise ist Sokrates angeklagt worden von den Kindern als der Arzt - und gerichtet haben die Kinder. Der Ankläger war ein Koch, nicht ein Arzt. Das ist die Botschaft, die Platon an dieser Stelle vermittelt. Im Zusammenhang mit dem Gorgias-Zitat, das ich jetzt hier an dieser Stelle präsentiere und antizipiere, ist es also so, dass Gorgias sich anbietet als jemand, der aufgrund der Redekunst/Redetechnik Kenntnisse vermittelt, die einen erfolgreicher werden lassen, und das Interessante daran ist nun, dass Sokrates darauf antwortet und sagt: "Wie schaut das eigentlich jetzt aus? Bist du erfolgreich, weil du von all diesen Dingen so viel verstehst, oder bist du deswegen erfolgreich, weil du zu allem etwas sagen kannst, und zwar so, dass das einen positiven Effekt hat? Dass es so effektiv ist, dass die Leute bereit sind, das von dir zu lernen?"
Und diese Situation wird dadurch eingeleitet, dass Gorgias gleich von Anfang an, als das Gespräch beginnt, sagt: "Ich bin derjenige, der zu allem etwas sagen kann." Das ist die Überschreitung in den Bereich des Politischen. "Ich bin nicht einer, der nur beschränkt ist auf Schuster usw., sondern ich kann zu allem etwas sagen." Warum ist es interessant, zu allem etwas sagen zu können? Man könnte sagen, mein Gott, die sind ja nicht ernst zu nehmen, denen zu allen etwas einfällt. In erster Betrachtungsweise sind das Vielredner oder Möchtegernredner. Das Ding ist deswegen interessant, weil man in der Philosophie auch dieselbe Art von Problem findet. Da gibt es eine insgeheime oder nicht so insgeheime Parallelisierung zwischen den Sophisten und dem Sokrates als dem Philosoph.
Worin besteht die Beziehung zwischen Sokrates und den Philosophen?
Philosophen sind ebenfalls dadurch gekennzeichnet, dass sie sich hinstellen und mehr oder weniger den Eindruck erwecken, dass sie zu allem etwas sagen können. Also zu allen Menschheitsfragen, und auch zu dem, was die einzelnen Wissenschaften machen. In der Philosophie herrscht ein gewisses stolzgeschwelltes positives Selbstbewusstsein, dass Philosophie zu allem etwas sagen kann. Der Grund ist Ihnen jetzt klar: Weil wir uns auf einer Ebene bewegen, wo wir nicht Fachwissenschaften sozusagen ausführen, sondern wo wir in den öffentlichen Bereich jenseits der Fachwissenschaften eintreten.
Über das Wissen
Welche Wissenstypen gibt es?
Es gibt eine Unterscheidung zwischen Fachwissen und "Flachwissen". So habe ich das prägnant zu formulieren versucht. Das Flachwissen (CS: Man könnte es auch als "Allgemeinwissen" bezeichnen) ist ein notgedrungen oberflächliches Wissen, das alle Leute haben und haben müssen, damit sie dann ins Fachwissen kommen können. In unserem Zusammenhang, damit sie eine Partizipation am politischen Prozess für alle gewährleisten können. Dieses Flachwissen ist etwas, das sich die Sophisten und die Philosophen teilen. Und die Frage des Sokrates an die Sophisten besteht jetzt darin, zu sagen, "Ok, wenn du jemand bist, Gorgias, der zu allem etwas sagen kann, bist du es deswegen, weil du von all den Dingen etwas verstehst, oder bist du es deswegen, weil du das alles mit deinem Trickkasten spinnen, hin- und herschieben kannst?" Das ist die Frage an den Gorgias. Und Gorgias ist an dieser Stelle interessanterweise ein bisschen gespalten. In diesem ersten Durchgang gibt Gorgias nach und sagt, also ich kann eigentlich nicht mit Sachkenntnis aufwarten, ich beeinflusse Meinungen, ich bin Experte für Meinungen - Meinungsforscher. Und nicht nur Meinungsforscher, sondern Meinungsmanipulator und mit dieser Selbstcharakterisierung gibt er dem Sokrates eine günstige Gelegenheit, darauf zu antworten: "Du bist also ein Experte für Meinung, aber da gibt es doch nicht nur Meinung, da gibt es auch Wissen. Und Wissen ist das, was in der Sache ist und nicht in der Meinung."
Was ist der Anspruch des Wissens?
Auf dieser klassischen Unterscheidung, basiert nicht nur die Philosophie, sondern das gesamte Spektrum von Wissenschaft und der Universitätsbetrieb. Die griechische Terminologie dazu ist "doxa" und "epistemé": Meinung und Wissen; das, was so scheint, und das, was von der Sache her legitim ist. Gerade bei Sokrates sieht man in einem ersten Schritt sehr gut, von wo er die Idee hat, dass man etwas wissen kann, und das ist Fachwissen. Sokrates geht davon aus, dass es eine berechtigte Frage und eine nachvollziehbare Antwort darüber gibt, was es heißt, einen guten Schuh zu produzieren. Das machen die Schuster, und das beantwortet die Schustergilde. Das ist eine Form von interner, durch einen Peerbezug geklärter Qualitätssicherungsmaßnahme.
Was hat das "Schusterbeispiel" damit zu tun?
Gute Schuhe sind die Verantwortung von Schustern, und die wissen, wie man Schuhe macht. Das heißt, es gibt dieses Wissen, das ist vielleicht nicht unbedingt explizit, es ist der Beginn der Frage "welche Form von Wissen soll ich vorbringen?" - das ist in einer Form praktisches Wissen, aber seit es Berufsschulen gibt, gibt es auch diese Tendenz der Explikation, der Artikulation von Wissen, die man zusammenfassen kann in best-practice Modelle. Die besondere Frage, um die Gorgias und Sokrates streiten, ist die folgende: "Gesetzt es gibt also bestimmte Bereiche unseres Lebens, in denen wir wissen, was Wissen heißt. In denen wir uns gut auskennen mit den Standards des Wissens, so wie beim Schuhkauf. Hier ist Ihnen das Argument vertraut: "Naja, ich bin nicht sicher ob dieser Schuh sehr gut ist, er schaut zwar nett aus, aber als Schuh? Überleg einmal, wenn du im Schmutz damit gehst, oder so etwas ähnliches." Das beschreibt den Unterschied von Erscheinen und einem tatsächlichen Zustand - "es schaut aus, als wäre es ein guter Schuh, aber es ist nicht wirklich ein guter Schuh". Die strategische Bewegung des Sokrates besteht darin, diese Art von Kompetenz im politischen Bereich anzuwenden. Und so wie ich sage: "Jemand weiß, was ein guter Schuh ist", sage ich: "Was sind im politischen Bereich die Fertigkeiten, die Tüchtigkeiten, wie z.B. Gerechtigkeit - und wer weiß denn das und wo ist das zu sagen?". All das muss sich herauskristallisieren in einer Diskussion, die Sokrates beginnt.
Frage aus dem Auditorium: Inwiefern braucht der Schuster theoretisches Wissen?
Danke. Das ist eine Gelegenheit, einige Dinge zu sagen, die ich verschwiegen habe. Selbst in Zusammenhängen wie sie uns in der Berufsschule begegnen, die also sehr viel mit Verfertigung, mit Handwerk zu tun haben, sind wir im weitesten Sinne in einer Situation, wo auch das Handwerk eine gewisse Theorie mit sich bringt. Es kann umstritten sein, wie sehr man das braucht. Jemand, der gut mit Leder umgeht, wird sich vielleicht beschweren; wird sagen, meine Ledergestaltung, die kann ich so und so machen, da muss ich nicht wissen wo das Leder herkommt, und wie das Leder produziert wird und was die Ökonomie des Leders ist. Das ist umstritten, es gibt auch diejenigen die sagen, was ich mit Leder machen kann, bestimmt sich sehr daraus, was die neuen Technologien dafür sind, Leder zu bearbeiten. Und die Schuhe werden einfach auch anders aussehen, je nachdem wie das Leder, das ich dazu verwendet habe, verarbeitet worden ist und dazu muss ich wissen, welche Werkstoffe hier gewählt sind, deshalb muss ich relativ viel wissen.
Das ist aber sozusagen mittendrin, das ist eine Antwort, die ist fifty-fifty. Wenn ich jetzt aus dem Handwerksbereich, aus dem Verfertigungsbereich herausgehe - in die Politik. Dann habe ich eine Situation, die ein wenig anders ist als in der Berufsschule, weil dann nämlich in der Politik das Reden so etwas ist wie das Leder. Wenn ich eine Volksversammlung als die letzte Instanz der politischen Meinungsbildung habe, und wenn ich das nach dem Muster von Fertigkeiten versuche zu denken, dann stehe ich vor der Frage "Naja, was können wir eigentlich? Was können die, die da in der Volksversammlung auftreten und erfolgreich sind?" Analog dazu gilt: "Was können die, die gute Schuhe verkaufen? Die ihre Schuhe am besten verkaufen? Was können die?". Und da ist es geradezu zwingend zu sagen: die können am besten reden. Es sind diejenigen, die sich durchsetzen, das ist der Trick mit den Ärzten. Die Redner werden sich auch als Ärzte verkaufen können in einer Volksversammlung. Das ist das, was die am besten können und das ist genau der Anspruch von Gorgias. "Ich bin an dieser Stelle der Chef, weil das, was man braucht, das Reden, bei mir am besten aufgehoben ist." Nach Sokrates haben wir im Fall der Schuhe dann ein Prüfverfahren: Wir schauen uns diese Schuhe an, wir schauen wie belastbar die sind und ob sie halten, was sie versprechen und dann sagen wir: Ja, er ist ein sehr guter Schuster.
Plato und die Politik
Und wie kann das im politischen Bereich funktionieren?
Die analoge Frage von Sokrates in diesem Zusammenhang mit der politischen Situation ist jetzt die, überhaupt die Frage in den Raum zu stellen: "Woran wissen wir, dass jetzt derjenige der beste ist in der Politik?" Testen wir es - das ist eine von Gorgias' Ideen - daran, was seine Reden für einen Effekt haben, oder testen wir es daran, was seine Reden für einen Sachgehalt haben, wie belastbar das ist?" Und was heißt jetzt belastbar, wenn ich wieder bei den Schuhen bleiben kann? Man könnte durchaus sagen, der Belastungstest, den Sokrates praktiziert, ist das Leitgespräch. Der Härtetest der Schuhrobustheit besteht darin, dass man sie verwendet. Der Härtetest des Anspruchs, als Redner das am besten zu machen, besteht darin, in Hinblick auf solche Fragen wie "Was ist Gerechtigkeit?" eine Rede und Antwort stehen zu können. Nach dem selben Verfahren, das in der Volksversammlung durchgeführt wird, nämlich bei einem konfrontativen Gespräch sich durchsetzen zu können.
Jetzt sind wir soweit, ein wenig genauer zu sehen, in welche Richtung dieser Unterschied zwischen erfolgreich argumentieren und sich einem Härtetest, einem Argumentationstest, zu unterziehen, geht. Im platonischen Zusammenhang ergibt sich nämlich, dass Sokrates, der ein tiefes Misstrauen gegen diese Form des erfolgreichen Argumentierens der Sophisten hat, all seine kognitive Kraft, seine analytische Schärfe, einsetzt, um diese bezahlten Angebote der Sophisten zu entlarven und zu sagen "Sie sind vielleicht effektiv, im Sinn von publikumswirksam, aber nach dem Standard meiner Fragetechnik, dieser Vernunftstandards - also dem methodischen Auseinanderdröseln von Argumenten, schrittweisen Aneinanderfügen von Gedankengängen, Schlüsse Ziehen usw. - sind das alles theoretische Tests."
Im öffentlichen Bereich ist das zwar auch eine Praxis, in gewisser Weise ist auch das Argumentieren eine Praxis, aber da die Volksversammlung mit Rede und Argumenten operiert, ist quasi die Rednerausbildung die Berufsschule der Politiker. Das ist es, was die Sophisten sagen und Sokrates antwortet darauf, dass es keine Berufsschule für Politiker gibt, weil wir das alles selber in die Hand nehmen müssen und zwar so, dass wir sokratische Methoden verwenden, d.h. also dem auf den Zahn fühlen, diese Argumentationen checken. Ich möchte erstens darauf hinweisen, dass dieses kritisch-prüfende Geschäft von Sokrates - "Was Gerechtigkeit ist, das lasse ich mir nicht anbieten, das prüfe ich selbst" - damit verbunden ist, dass er zwar eine hohe Fähigkeit hat, Angebote sophistischer Art auseinander zu nehmen, dass er aber niemals selber zu einem Vorschlag kommt, das heißt, er ist an dieser Stelle destruktiv, dekonstruktiv (so wie wir das letztes Mal gesagt haben).
Die Sokrates–Platon-Konstellation besteht darin, dass Platon in diesem von Sokrates freigespielten Raum dann eine positive philosophische Systematik entwickelt und diese Systematik, die etwas Prägendes für die gesamte Philosophie ist, ist Sachkompetenz im nicht-ökonomischen, ideellen Bereich des Sprechens über Menschheitsfragen. In Orientierung auf Bildungsideale, Ideen, was immer damit zusammenhängt, das ist die platonische Lösung dazu und da schließe ich wieder zurück auf das, was ich Ihnen zuvor schon angedeutet habe.
Mit dieser Form von zwei Welten leben wir in einer Weise noch immer, und die Frage, die zurückprojiziert in die athenische Sokrates-Situation ist die: "Angenommen, es hätte damals schon Möglichkeiten gegeben, dass nicht einfach die Volksversammlung auftritt und ad hoc demokratische Mehrheitsentscheidungen trifft; Sondern wenn man zu einem Verfahren gekommen wäre, wo diese Gruppe von Leuten so etwas entscheidet, und ständig intern und vernetzt in einem Entwicklungsprozess, einem kostenlosen Erkenntnisprozess wäre, der nicht durch das Durchsetzungsvermögen bestimmt ist, sondern in einem Diskussionszusammenhang, in dem sich die verschiedenen Beiträge gemeinsam abstimmen, korrigieren und weiterentwickeln, weil es wichtige Beiträge sind. Kurz um: Wie es möglich ist im Internet. Wenn das so stattgefunden hätte, dann hätten wir jetzt schlicht eine andere Philosophie, als die, die wir haben.
Warum ist Platons Philosophie antidemokratisch?
Die Philosophie, die wir haben, ist bei Platon geprägt von einem ganz antidemokratischen Moment. Diese von mir genannte Aussicht in den Ideenhimmel, als ein Ausweg gegen das Verklagen des Arztes durch die Köche vor den Kindern, diese Idee ist ja eine ganz eindeutige antidemokratische Sentenz - angesichts der Dummheit der Leute, die den Sokrates zum Tode verurteilt haben. Die Ideenlehre von Platon, die ebenfalls eine Konsequenz daraus ist, ist eine Intervention - die Kinder sollen sich besser damit anfreunden, dass sie erzogen werden sollen. Kinder brauchen also Erziehungsprozesse und das ist im "Staat" auch entsprechend rigoros durchgeführt.
Solche Erziehungsprozesse erhalten sie in unserer gesamten Tradition durch den Vernunftbegriff - durch die Orientierung an der Vernunft, durch den Austritt aus der Höhle - alle diese Dinge beginnen an dieser Stelle. Diese Form von Erziehung, um es vorsichtig zu sagen, hat aber ein schwieriges Verhältnis zur Demokratisierung. Denn wenn jemand das Angebot bekommt, dass er Athener ist und zu dem kleinen Kreis der Athener zählt: "Wenn deine Mutter nicht Athenerin gewesen wäre, dann wärst du nicht Athener, aber du gehörst zu den Athenern. Ich gebe dir jetzt noch Geld, mit welchem Du überleben kannst, dafür, dass du richtig abstimmst." Darin ist noch nicht wirklich ein Motiv vorhanden, warum er das gut machen soll: "Was ist ein guter Schuh, was ist ein guter politischer Prozess?" Die Anstrengung, der 'drive', diesen politischen Prozess qualitativ zu gestalten; so weiterzuführen, dass man da von Gutem reden kann, steckt nicht direkt in diesen nominellen demokratischen Zuständen - und darum ist letztlich meine Frage zwischen Open Source und Philosophie, ob der von Platon ererbte Wahrheitsbegriff nicht zu revidieren ist, angesichts von Prozessen und Erfahrungen des Umgangs mit Wissen, die wir aus Internetzusammenhängen beziehen.
Wie sieht die Auseinandersetzung zwischen Gorgias und Sokrates nun konkret aus?
Hier ein Zitat des Gorgias: "Welches unter allen Dingen ist doch dasjenige eigentlich, worauf die Reden sich beziehen, deren die Redekunst sich bedient - sind die wichtigsten und herrlichsten Dinge im menschlichen Zusammenhang." Die Redekunst, wird an der Stelle deutlich, hat diese Doppeltheit zwischen Rhetorik und der inhaltlichen Vermittlung von Kenntnissen, die man unabhängig vom Reden schon hat. Sie ist
- einerseits ein pädagogisch-politischer Prozess -
- oder aber man sagt: "In der Redekunst geht es ums Reden überhaupt, prinzipiell ums Reden."
Gorgias schwankt zwischen diesen beiden. Er antwortet auf die Frage, warum jetzt nun das Reden das höchste Gut sei - und nicht zum Beispiel ein Festschmaus mit Kollegen oder die Suche nach Ausgeglichenheit: "Wenn man durch Worte zu überzeugen imstande ist, sowohl an der Gerichtsstätte die Richter, als in der Ratsversammlung die Ratmänner und in der Gemeinde die Gemeindemänner und so in jeder anderen Versammlung, die eine Staatsversammlung ist." "Denn hast du dies in der Gewalt, so wird der Arzt dein Knecht sein, der Turmmeister dein Knecht sein und von diesem Erwerbsstand wird sich zeigen, dass er andere erwirbt und nicht sich selbst, sondern dir, der du verstehst zu versprechen und die Menge zu überreden."
Was hat Kallikles damit zu tun?
"Jede Überredung, also so sage ich Sokrates, welche an den Gerichtsstätten vorkommt und bei den anderen Volksversammlungen, wie ich auch schon vor ihm sagte, und in Beziehung auf das was gerecht ist und ungerecht." Hier gibt Gorgias erneut zu, dass das eine Fertigkeit über Meinungen ist und nicht über Wissen. In einer späteren Textzeile von Gorgias gibt es eine Stelle, wo jemand Gorgias verteidigt. Kallikles sagt, da ist dem Gorgias der Mut ausgegangen, da ist er zu Kompromissen bereit, weil in dem Moment in dem ein Rhetor zugibt, dass er nur für Meinungen zuständig ist und für die Techniken des Überzeugens und nicht die stärkere Position hat, dass er nämlich der bessere Arzt ist, weil er sich selber zum Arzt machen kann, dann hat er von vornherein eine Rolle eingenommen, die ihn nicht zum wirklichen Konkurrenten mit dem Philosophen im Bereich der Feststellung politischer Kompetenz macht. Die Sprechtechnik besser zu beherrschen, das wird vergleichsweise unproblematisch akzeptiert werden als eine Hilfe, auch im öffentlichen Bereich, aber nicht als eine Konkurrenz zu dem Typus von Fragestellungen, mit dem wir uns beschäftigen. "Besser reden" hat hier also den höheren Anspruch.
Frage aus dem Auditorium: Gibt es Ähnlichkeiten zwischen Gorgias und Sokrates?
’’Eigentlich machen ja die Sophisten oder Gorgias dasselbe wie Platon, weil Platon sagt ja von sich selbst, er bringt die Leute in die a priori, er dekonstruiert jetzt quasi beide Meinungen, die man haben kann, und die Sophisten machen das Gegenteil, indem sie versuchen, beide Meinungen gleich gut verteidigen zu können. Also im Endeffekt ist das Geschäft nicht so weit weg voneinander, oder?’’
Ihre Frage kann ich mit dieser Skizze gut beantworten. Was ich Ihnen da vorgeführt habe, ist, dass der Markt gekennzeichnet ist durch eine Disjunktion zwischen Fachleuten und Laien. In der Volksversammlung als politische Instanz für das Gemeinwesen gibt es etwas, was ich den Laienrichter - oder Laienexperten - genannt habe. Man kann nun natürlich nicht ganz übersehen, dass diese Laienrichter auch Hilfe brauchen und dass es damit noch einen Anspruch an Experten in dieser Volksversammlung gibt. Das heißt, der Unterschied zwischen Experten und Laien, die aus dem Markt bekannt sind, taucht hier wieder auf.
Wer instruiert die Laienrichter also über Sachen, um die es in der Volksversammlung geht? Das ist einmal ein gemeinsamer Boden von Sophisten und Philosophen. Sie treten beide auf in der Diskussion darüber: "Was ist gut?" So ähnlich wie: "Was ist ein Schuh?" Sie haben also denselben Typus von Fragen, von Auseinandersetzung, von Fragestellung. Der Unterschied besteht darin, dass die Sophisten mit der Frage nach Expertise so umgehen, dass sie das zurückkoppeln an Marktmechanismen (siehe Skizze). Das heißt, es gibt eine Schleife und die Sophisten sagen, dann nehmen wir dieselbe Gesetzlichkeit, die wir schon beim Schuster, Schneider und Schiffebauer gehabt haben, nämlich dass wir bereit sind, den Leuten etwas zu bezahlen, die sich ausweisen, dass sie etwas gut können und das sind eben die Experten für die Laienrichter.
Wie stehen die Philosophen zum Expertentum?
Die Philosophen, die denselben Typus von Problem haben, reagieren darauf in anderer Weise. Sie binden das nicht zurück auf eine "Expertenkultur für Fragen", die über alle Expertenkulturen darüber geht. Sondern wir binden es zurück an dieselben Leute, die in der Volksversammlung sind. Wir wollen nicht diese Marktmechanismen, sondern wir wollen nach wie vor Laienrichter als die Beurteilenden. Sokrates sagt das nicht direkt, sondern er meint, dass das, was die Sophisten hier als Zirkel anbieten, nichts taugt. Der einsichtige Grund dafür ist folgender: "In dem Moment, in dem sie etwas zu verkaufen haben, sage ich dir genau, was passiert. Sie werden versuchen, die Sachen, die sie verkaufen können, als "die besten" zu präsentieren." Das ist auch ganz klar, weil jeder Kaufmann, jede Kauffrau, in die Auslage stellen wird, was sie glauben am besten an die Kundschaft zu bringen. Damit werden sie gewissen Erfolg haben. Die nun folgende Antwort des Sokrates kann man wiederum mit dem Bereich der gegenwärtigen Wissensdiskussion und Wissensgesellschaft in Verbindung bringen.
Die Eigenschaft von Wissen
Welche Gefahr sieht Sokrates für die Seele?
Hier gibt es eine Stelle, die Sie auch finden, wenn sie die Unterlagen ansehen, wo er sagt: "Also einerseits ist es nicht verwunderlich, die werden dir genauso wie jede andere Kauffrau, etwas verkaufen, aber das ist noch gefährlicher als im Zusammenhang damit, dass du eine Speise kaufst. Denn wenn du eine Speise kaufst," - und das ist unfassbar genial - "dann nimmst du sie mit nach Hause und du hast zumindest die Chance, noch mal zu riechen, ob sie verdorben ist. Bei der Speise hast du ein Verhältnis dazu, du kannst in der Regel checken, ob das auch in Ordnung ist - ob es dir bekommt. Die Seele aber - so sein Ausdruck - nährt sich von Kenntnissen, von Wissen, von Fertigkeiten kognitiver Art. Platon macht darauf aufmerksam, dass du nicht die Chance hast, dass du riechst, ob die Speise verdorben ist oder nicht, weil du die Kenntnisse in dich aufnehmen musst, damit sie wirken und das heißt, du hast sie schon geschluckt, bevor du all das aufnimmst, und siehst erst dann, dass sie dich verdorben haben."
Das ist deswegen so atemberaubend, weil das eine Charakterisierung der Besonderheit von Wissen ist, im Zusammenhang mit ökonomischen Zusammenhängen, die heutzutage auch durchaus diskutiert werden in der Ökonomie. Wissen ist eine besondere Art von Gut, und das hat gerade im Open-Source-Diskussionszusammenhang eine große Wichtigkeit - darauf kommen wir noch zu sprechen.
Man kann jemandem einen Liter Milch wegnehmen, wenn er das nicht bezahlt hat. Man kann beispielsweise jemanden vom Haus delegieren. Wenn jemand aber Wissen hat, kann man es ihm nicht mehr nehmen. (Außer man ist im Science-Fiction, wo man Brainwashing machen kann.) Das Wissen kann man nicht mehr zurückkommandieren. Es hat eine Qualität der Ausbreitung, die es ganz einzigartig macht. Das ist einer der Gründe von Sokrates, den Sophisten gegenüber extra Vorsicht zu empfehlen.
Frage aus dem Auditorium: Unterscheidet Platon zwischen "Geist" und "Seele"?
Ich würde meinen, dass Platon dort wo er von der "Seele" schreibt, in dem von mir avancierten Zitat "Psyché" sagt. "Geist" ist genereller bei Platon, etwas Abstraktes. "Seele" hat etwas mit der Einzelperson zu tun, mit Bewusstsein, mit der Verfasstheit von einzelnen Personen. "Geist" ist mehr ein Terminus von "allgemeinem Geist". Es ist natürlich ein langes Gebiet, aber Geist hat mehr zu tun mit der Dimension, innerhalb derer sich die Menschen verständigen - also Bedingungen der vernünftigen Verständigung.
Ich wollte fragen: Ist die Seele für Platon emotional oder intellektuell?
Bei Platon – das ist bekannt - gibt es die Dreiteilung der Seele.
- Eine Befindlichkeit, eine Begierdeseele,
- eine Reizreaktionsseele, wie Hunger, Durst, Sexualbedürfnisse etc.,
- und die Seele, die noetos, die ausgerichtet ist auf den Ideenbereich, die ausgerichtet ist auf geistige und kognitive Werte.
Und dann gibt es diesen Kampf zwischen den dreien.
Es gibt dazu eine berühmte Analogie, die von ungestümen Pferden handelt, die durchgehen wollen. Außerdem gibt es ein Ziel und dazwischen eine vermittelnde Instanz, die diese Dynamik der ungestümen Pferde in Richtung dieses Ziels organisieren soll. Aber das ist nun tatsächlich im engeren Sinn platonische Geschichte, die an dieser Stelle nicht wichtig für mich ist. Ihre Frage nach den Gleichartigkeiten zwischen Philosophen und Sophisten hat mich dazu gebracht.
Was ich Ihnen nun gesagt habe, finden Sie in den signifikanten Zitaten im Wiki. Und ich mache jetzt den großen Sprung - eine arge Konstruktion - um zu einer Verbindung zu Open Source gelangen zu können.
Der große Sprung - Von der Antike zur Jahrtausendwende
Ich gebe Ihnen eine Zusammenfassung in einem Satz von dem, was ich Ihnen bis jetzt zu den platonischen Schriften vorgetragen habe: "Ist Philosophie als eine Konsequenz einer marktwirtschaftlichen verfassten Demokratie zu fassen?" Dann ist viel dazwischen gekommen. Der Untergang des klassischen Alt-Athen, Christentum, Völkerwanderung, Mittelalter. Die Frage heute ist: "Wie verhält sich diese Form des Wissens zu einer neoliberalen Weltordnung?" Wenn man die Sache so aufzieht, wie ich vorschlage, dann fällt die besondere Denkform (antisophistisch etc.) ins Auge.
Wie stehen Plato und das Christentum zueinander?
Die antisophistische Haltung ist im 4./5. Jh. vor Christus in einer ganz bestimmten Blase entstanden, war aber von der gesellschaftlichen Unterstützung her nicht aufrecht zu erhalten - mit Alexander dem Großen, mit dem Zerfall der ganzen athenischen Macht, mit dem Übergang nach Rom. Den damaligen globalisierten Herrschaften sind all diese Verhältnisse verloren gegangen. Was stattdessen stattgefunden hat, ist ein Aufstieg des Christentums, der mit griechischer Philosophie überhaupt nichts zu tun hat. Ein randständiges kleines Wüstenvolk hat einen Propheten produziert, der unglaubliche Effektivität erzeugt hat. Das führte dazu, dass diese ganze christliche Transzendenzvorstellung hereingebrochen ist in das geistige Klima, das aus der athenischen, platonischen Situation noch immer dagewesen ist. So konnte die Philosophiestruktur und die Frage nach der Wahrheit, im Gegensatz zu den anderen im Christentum umgedeutet werden zu einem Kontrast zwischen der hiesigen Welt und dem himmlischen Jenseits. Platon hat das nicht gewusst, aber nicht umsonst ist er von den Kirchenvätern als "der göttliche Platon" angesprochen worden, weil die gedankliche Bewegung zu einem hochgepriesenen Ideen- und Abstraktionsbereich sich geradezu glänzend geeignet hat für das Christentum, um dort den christlichen Gott hinzusetzen.
Und wie sieht es seit der Neuzeit aus?
Das ist eine lange Geschichte und hat Sozialformen gänzlich anderer Art gehabt. Es ist natürlich nicht umsonst, dass die Renaissance - die Wiederbesinnung, die Wiederneubewertung der griechischen klassischen Schriften - stattfindet und ausgeht von den Stadtstaaten Italiens zu Beginn der Neuzeit, wo sich ähnliche verfassungsrechtliche Situationen ergeben haben: Eine Stadt verwaltet sich selbst mit gedanklichen Fundamenten, mit denen wir jetzt sehr viel anfangen könnten. Wir gehen jetzt weiter in den Bereich, in dem wir heute mir dieser Disjunktion zwischen Grundlagenforschung und fachbezogener finanzierter Forschung stehen. Es gibt also Wissen, das wir produzieren, um bestimmte geschäftliche Erfolge zu haben, und auf der anderen Seite steht die Grundlagenforschung, also Wissen von der Art, dass wir es schätzen und haben wollen, weil es uns, abgesehen wie viel es kostet, Aufschlüsse gibt über Wahrheiten. Ich habe mir die kleine Bosheit nicht verkniffen, Ihnen hier ein Anschauungsbeispiel für gegenwärtige Sophistik im Universitätsbereich zu zeigen.
Gibt es die Sophisten heute noch?
Die Donauuniversität Krems ist dadurch charakterisiert, dass sie ein geradezu überwältigendes Angebot von Kursen anbietet, die alle möglichen Kenntnisse, die Sie im öffentlichen Bereich brauchen können, bündelt. Eine Sache, die mich besonders amüsiert hat: ``Sie profitieren von der Kampfkunst "Aikido" für einen neuen Umgang mit Konflikten. Da Konfliktgespräche häufiger als Kampfsituation wahrgenommen werden, entfaltet sich leicht ein einen innere Konfliktdynamik, die eine konstruktive und effiziente Konfliktregelung nicht mehr möglich machen. Aikido ist eine Kampfkunst aus Japan deren Basis eine über 2000 Jahre alte Entwicklung bildet. Aikido setzt den Wunsch voraus, das psychische und physische Gleichgewicht, die eigentliche Identität zu wahren.``
Das Folgende ist ein bisschen gemein, aber Sie lächeln und damit habe ich quasi ein gewisses Einverständnis hergestellt, aber dieses Einverständnis ist natürlich jetzt nicht so zu verstehen, dass wir uns an dieser Stelle amüsieren darüber, dass es die Sophisten irgendwo anders gibt, die diese Art von "kleinen Tricks" unterrichten. Sondern ich wollte Ihnen deutlich machen, dass wir noch immer damit konfrontiert sind - und uns, so sehr ich eben auch darüber lächle, die Frage stellen müssen "Woher kommt diese Superiorität?" Eine Wissenssoziologin würde sich über unsere jetzige Reaktion nicht wundern und sie als nicht besonders respektabel sehen. Ich will das als Beitrag zum allgemeinem Problem nehmen. Um das von der Seite der Universität ein bisschen zu erschüttern und diese gewisse Selbstzufriedenheit in Frage zu stellen, habe ich Ihnen ein Exzerpt aus einem Artikel von Robin Cowan zu Verfügung gestellt.
"Universities and the Knowledge Economy" - was will Robin Cowan sagen?
Der ganze Artikel findet sich hier. Sinngemäß sagt Cowan, dass Universitäten zumindest durch die Geschichte der Neuzeit hindurch in etwa die Funktion einer nationalen Fluglinie hatten. Diese steht nicht nur dafür, dass ein paar Leute per Flugzeug wohin transportiert werden, sondern sie steht für die Identität der Nation. Das ist eine wichtige Sache, so ähnlich wie urtümliche Gründergestalten oder das Parlament oder Nationalmuseum - und so ähnlich ist die Universität Wien. Sie müssen sie nur anschauen wie sie da steht auf der Ringstraße, ein Garant der Nationalidentifikation, gleich neben dem Burgtheater - und funktional eben so ähnlich wie die AUA. Wir sollten uns angesichts des AUA-Verkaufs nicht vor der Tatsache verschließen, dass wir auch die Universitäten verkaufen können und dass diese Funktion der Universitäten als kultureller Fokuspunkt von intellektueller Leistung einer Nation nicht mehr in dieser Art und Weise existiert in einer Zeit der Rankings aus Shanghai. Wir können also nicht mehr sagen: "Wir haben es jetzt geschafft - wir sind in der Institution, die die beste Qualifikation und Qualität der Ausbildung garantiert."
Frage aus dem Auditorium: Was wollten Sie mit dem Aikido-Beispiel aussagen?
Der Hintergrund ist, dass die Sophisten charakterisiert werden als Wanderlehrer, die Fertigkeiten und Techniken, die sie von anderswo gehabt haben, nach Athen gebracht und dort angeboten haben. Und zwar durchaus im Zusammenhang mit Konfliktbewältigung in der politischen Situation. Dieses Feature sehen wir immer wieder, etwa bei kostenpflichtigen Aikido-Kursen, die angeboten werden, um bestimmte Unternehmensstrategieziele zu erreichen, was für mich ein Beispiel der modernen Sophistik ist.
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