Zwei Gruppen von Anfangszeiten des BP: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 29. November 2006, 11:26 Uhr
Textgrundlage
Benjamin Libet: Wie das Gehirn Bewusstsein produziert. Frankfurt 2005. S. 159ff
Inhaltsverzeichnis
Auszug
Unser experimentelles Ziel bestand darin, frei gewählte Willenshandlungen zu untersuchen, die ohne äußere Beschränkungen bezüglich des Handlungszeitpunkts vollzogen wurden. Bei den meisten Versuchsdurchgängen in unserer Reihe von vierzig Versuchen gab es keine Berichte über eine Vorausplanung seitens der Versuchspersonen. Diese Willenshandlungen wurden völlig zwanglos und spontan vollzogen, ohne dass im Voraus geplant wurde, wann die Handlung stattfinden sollte. Die Art der Handlung, nämlich eine plötzliche Beugung des Handgelenks, wurde natürlich den Versuchspersonen von uns vorgeschrieben. Das ermöglichte es uns, Messelektroden an dem zu aktivierenden Muskel anzubringen; das gemessene Elektromyogramm gab uns den Handlungszeitpunkt an und diente auch als Auslöser für den Computer, das Potential an der Kopfhaut zu messen, das während der 2 bis 3 Sekunden vor der Muskelaktivierung aufgetreten war. Der Zeitpunkt der Handlung war jedoch im Hinblick auf den eigenen Willen der Versuchspersonen völlig frei. Unsere Experimentalfrage war: Geht der bewusste Wille der Aktion des Gehirns voraus oder folgt er ihr nach? Die Prüfung dieser Frage verlangte nur, dass der Zeitpunkt der Handlung der Versuchsperson frei anheim gestellt war. Die Art der Handlung hatte für diese Frage keine Bedeutung.
- Terminologie: Was nennt man "Handlung"? Es gibt Nicht-Handlungen (Vorfälle) und erzwungene Handlungen, z.B. unter Drohung. Handlungen sind also nicht unbedingt freie Handlungen (Befehlserfüllung). Zwanglos heißt: die erwähnten Einschränkungen finden nicht statt. Heißt das auch "frei"? Das ist (siehe oben) die Doppelfunktion der Negation. "Niemand zwingt Dich, zum Fenster hinauszuschauen."
Bei einigen Versuchsdurchgängen berichteten die Versuchspersonen, dass sie einen Bereich der Uhrzeit vorausgeplant hatten, in dem sie handeln würden, und zwar trotz unserer Aufforderung, das nicht zu tun. Diese Reihen führten zu BPs (#I) mit früheren Anfangszeiten, die im Durchschnitt bei etwa -800 bis -1000 ms (vor der motorischen Handlung) lagen (Abb. 4.2). Diese Werte waren denen ähnlich, die von Kornhuber und Deecke und von anderen über ihre »von sich aus eingeleiteten« Bewegungen berichtet wurden. Aus diesen und anderen Gründen schien es, dass »von sich aus eingeleitete« Handlungen, die unter gewissen, vom Versuchsleiter festgelegten Beschränkungen vollzogen wurden, wahrscheinlich eine gewisse Vorausplanung seitens der Versuchsperson bezüglich des Handlungszeitpunkts beinhalteten. Ihre Versuchspersonen wussten, dass sie die Handlung innerhalb von 6 sec vollziehen sollten, und dieses Wissen könnte eine gewisse Vorausplanung des Handlungszeitpunkts begünstigt haben. Unsere Versuchspersonen unterlagen keinen solchen Beschränkungen.
- Geplante Handlungen werden eigens von ungeplanten Handlungen unterschieden. Der freie Wille wird als Spontan-Handlung definiert. Man soll "die Handlung kommen lassen", "sich spontan entscheiden". Im Begriff einer solchen spontanen Entscheidung ist tatsächlich ein unwillkürlicher Auslöser enthalten. ("Die Gelegenheit war günstig ...") Es ist allerdings eine spezifische Teilbedeutung von "frei", solchen Impulsen folgen zu können. ("Ich bin frei, die Beine übereinanderschlagen zu können.)
In denjenigen Reihen von vierzig Handlungen, in denen die Versuchsperson über keine Vorausplanung des Handlungszeitpunkts berichtete, lag der Beginn der BPs (#II) bei -550 ms (vor der Muskelaktivierung). Man sollte beachten, dass der wirkliche Einleitungsprozess im Gehirn wahrscheinlich vor unserem gemessenen Bereitschaftspotential beginnt, und zwar in einem unbekannten Areal, das dann das supplementäre motorische Areal in der Hirnrinde aktiviert. Das supplementäre motorische Areal liegt auf der Mittellinie in der Nähe des Scheitels und gilt als Quelle unseres gemessenen BPs.
- Dazu ist anzumerken, daß die bei diesen Experimenten eingesetzte EEG-Technik nur die elektrische Aktivität in den oberen Schichten des cerebralen Cortex erfaßt. Gerade für das Starten einer Bewegung spielen aber subcortikale Kerne wie der Nucleus caudatus und die Substantia nigra eine bedeutende Rolle. Bei der Parkinson'schen Krankheit degeneriert die dopaminerge Bahn von der Substantia nigra zum Nucleus caudatus; ein diagnostisches Symptom dieser Krankheit ist der Verlust der Fähigkeit, eine Bewegung zu starten (Akinese). Die Vermutung liegt nahe, daß beim Starten einer Willkürbewegung Aktivität in der nigrostriatalen Bahn der Aktivität im motorischen Cortex vorausgeht. Bisher ist es meines Wissens nicht gelungen, eine solche zeitliche Abfolge mit tiefer reichenden Meßtechniken (MEG, fMRI) zu demonstrieren, wegen Problemen mit der räumlichen (MEG) bzw. zeitlichen (fMRI) Auflösung dieser Verfahren.--Bergerml 18:55, 15. Nov 2006 (CET)
Abb.4.2. Bereitschaftspotentiale (BP), die selbst eingeleiteten Willenshandlungen vorausgehen. Jede horizontale Reihe ist der von einem Computer berechnete Durchschnitt des elektrischen Potentials, gemessen mit einer aktiven Elektrode auf der Kopfhaut, entweder auf der Kopfspitze in der Mitte bei den Versuchspersonen G. L. und S. B. oder auf der linken Seite (kontralateral zur ausführenden rechten Hand) über dem motorischen/prämotorischen Rindengebiet, das die Hand steuert, bei der Versuchsperson S.S.
Wenn jede Handlung (schnelle Beugung des Handgelenks) in der Reihe von 40 Versuchen subjektiv so erlebt wurde, dass sie spontan und ohne vorherige Planung durch die Versuchsperson auftrat (bzw. wenn die Versuchspersonen über ein solches Erleben berichteten), wurden BPs vom Typ II festgestellt. Wenn über ein Vorausplanen der Handlung irgendwann innerhalb der nächsten Sekunde berichtet wurde, wurden BPs vom Typ I gemessen.
In der Spalte, die mit S bezeichnet ist, wurde ein nahe am Schwellenwert liegen-der Hautreiz bei jedem der 40 Versuche verabreicht, und zwar zu einer zufälligen Zeit, die die Versuchsperson nicht kannte. Die Versuchsperson wurde gebeten, die Zeit ihres Bewusstwerdens jedes Reizes zu erinnern und nach jedem Versuch zu berichten. Das hatte Ähnlichkeit mit dem Bericht über das Bewusstwerden der Bewegungsabsicht. Das große positive EBP (ereignisbezogene Potential), das eine Spitze bei 300 ms nach dem Reiz erreicht, wird gewöhnlich dann beobachtet, wenn Unsicherheit über den Reiz herrscht (in diesem Fall über den Zeitpunkt).
Die dicke vertikale Linie in jeder Aufzeichnung stellt den Nullzeitpunkt dar, zu dem die Aktivierung des Muskels in den BP-Reihen begonnen hat (angezeigt durch ein Elektromyogramm, EMG) oder zu dem der Reiz im Fall der S-Reihe verabreicht wurde. Aus Libet et al., 1982.
W-Werte für Zeitpunkte des ersten Bewusstseins eines Handlungswunsches lagen bei allen Versuchsreihen im Durchschnitt um -200 ms. (Dieser Wert könnte auf -150 ms durch den beim Berichten auftretenden Fehler von -50 ms, der bei den S-Reihen (Hautreize) gefunden wurde, korrigiert werden.)
- Das ist nicht nur ein Zeitfehler. Die Versuchspersonen scheinen die Reizung vor der faktischen Reizung zu berichten. Das ist erklärungsbedürftig.
Die W-Zeiten waren dieselben, ob sie mit BP I oder BP II assoziiert waren. Die W-Zeiten waren also dieselben, gleichgültig ob der Zeitpunkt der Handlung vorausgeplant wurde oder nicht! Das wies darauf hin, dass der am Ende stattfindende Willensprozess (»jetzt zu handeln«) bei etwa -550 ms beginnt; er ist derselbe, gleichgültig ob er völlig spontan ist oder ob ihm Überlegungen oder eine Vorausplanung vorhergeht. Dieser Prozess könnte das Merkmal des »Jetzt-Handelns« innerhalb eines Willensprozesses sein, und die Ereignisse, die dieses Merkmal betreffen, sind ähnlich, und zwar unabhängig von der Vorausplanung.
- Libet operiert mit einem Willensprozess, der in zwei Varianten auftreten kann, geplant und spontan. In beiden gibt es eine Phase des Übergangs zur "Handlung". Was macht den Unterschied bei geplanten Aktionen? Wie lange vorher kann man das messen? Wenn die Planung Teil einer Handlung ist entsteht die Frage, ob das die Funktion der Phase des Handlungsübergangs verändert.
Der Prozess des »Jetzt-Handelns« sollte von Überlegungen und einer im Voraus getroffenen Entscheidung bezüglich des Vollzugs einer Handlung unterschieden werden. Man kann schließlich den ganzen Tag nachdenken und doch nicht handeln. Wir haben die Phase des Nachdenkens beim Willensprozess nicht untersucht, außer was das gelegentliche Vorausplanen des Handlungszeitpunkts durch unsere Versuchspersonen angeht.
Über die Bedeutung unserer W-Zeiten wurden verschiedene Fragen aufgeworfen. Da wir Belege für eine Verzögerung (bis zu 500 ms) der Entwicklung einer bewussten sensorischen Erfahrung präsentiert haben, könnte das Bewusstsein der Uhrzeit weit vor dem berichteten bewussten W angefangen haben. Unsere Versuchspersonen wurden jedoch gebeten, sich die Uhrzeit zu merken, die mit ihrem ersten Bewusstwerden der Handlungsabsicht verbunden war; sie wurden nicht gebeten, die Zeit zu berichten, zu der sie sich dieser Verbindung bewusst wurden. Wahrscheinlich gab es eine Verzögerung von bis zu 500 ms, bevor dieser Zeitpunkt bewusst wurde; aber die automatische Rückdatierung auf das ursprüngliche sensorische Signal der assoziierten Uhrzeit würde es der Versuchsperson gestatten, den Eindruck zu haben, sie wäre sich des Zeitpunkts der Assoziation bewusst gewesen. Auf jeden Fall haben wir keine Schwierigkeit damit, eine Uhrzeit ziemlich korrekt abzulesen, wie man an unseren Tests der berichteten Zeiten einer Hautreizung sieht.
Robert Doty (persönliche Mitteilung) brachte eine andere mögliche Fehlerquelle bei der Interpretation unserer W-Werte zur Sprache. Diese bezieht sich auf den »Bedarf« an zusätzlicher Zeit, die man braucht, um die Aufmerksamkeit auf eine andere Aufgabe zu lenken. Die zusätzliche Zeit, die für den Übergang von einer Aufgabe zu einer anderen nötig ist, kann bis zu l00 ms oder in einigen Fällen viel länger sein. Bezogen auf unseren Fall »kann man nicht gleichzeitig auf die introspektive Welt der Entscheidung (zu handeln) und auf die Stellung des Punktes (Uhrzeit) auf dem KSO (Kathodenstrahloszilloskop) achten.« Doty schlug dann vor, dass der freie Wille der Versuchsperson das BP in Gang setzt; wenn die Aufmerksamkeit auf die Oszilloskopuhr gerichtet wird, entsteht eine Verzögerung beim Übergang zu dieser Aufgabe. Das könnte zu einem verspäteten Bericht von W für ein Ereignis führen, das tatsächlich beim Beginn des BP beobachtet wurde.
Meine Antwort auf das Argument mit dem Übergang von einer Aufgabe zur anderen ist folgende: (1) Die Verzögerung von W gerechnet von BP II war, unter Berücksichtigung der Korrektur, 400 ms. Das ist länger als der gewöhnliche Zeitbedarf für das Wechseln zwischen Aufgaben, selbst wenn es hierbei eine solche Verzögerung geben sollte. (2) Die Bedingungen bei unseren Versuchen waren ganz verschieden von denen, die man von Berichten über eine Verzögerung beim Aufgabenwechsel kennt. Bei letzteren Berichten fand der Aufgabenwechsel bei völlig separaten Versuchsdurchgängen statt. In unserem Fall hatte die Versuchsperson schon eine vollständige Anweisung vor dem Versuch. Unsere Aufgabe, die im Voraus gestellt wurde, bestand darin, die Aufmerksamkeit auf das früheste Erlebnis des Handlungsdrangs oder -wunsches zu richten (W), während man ständig die »Uhr« betrachtet, so dass das Auftreten von W mit der Uhrposition verbunden wird. Das geschah alles in ein und demselben Versuch bei solchen Anforderungen, die sich von denen unterschieden, die dafür bekannt sind, dass sie eine Verzögerung beim Wechsel verursachen. (3) BP I (d. h., wenn der Handlungszeitpunkt vorausgeplant wurde) fing bei etwa -800 bis -1000 ms an; BP II (d. h. spontane ungeplante Handlungen) begann bei etwa -550 ms. Die W-Werte waren jedoch in beiden Fällen dieselben und lagen ohne Fehlerkorrektur bei -200 ms. Das bedeutet, dass die Ws auf den Beginn von BP I nach 600 bis 800 ms folgen, während sie auf BP II nach 350 ms folgen. Beide Arten von Versuchen beinhalten ähnliche Aufgaben und einen ähnlichen Zeitbedarf beim Aufgabenwechsel, wenn das hier der Fall sein sollte. Dann aber kann man den Unterschied in den BP-W Intervallen nicht so erklären, wie Doty es vorschlägt. Es kann also nicht so sein, dass W das BP tatsächlich in Gang setzt, aber viel später nach dem Beginn von BP I als nach dem Beginn von BP II erscheint, wenn der Zeitbedarf für den Aufgabenwechsel in beiden Fällen derselbe ist. (4) Schließlich scheinen die Versuche mit Hautreizen (statt Bewegungen) die Hypothese der Verzögerung beim Aufgabenwechsel auszuschließen. Die Aufgaben bei den Versuchsreihen mit den Reizen waren im Wesentlichen dieselben wie die bei den Versuchsreihen mit den Willenshandlungen. Die Versuchspersonen sollten den sich bewegenden Fleck auf der »Uhr« beobachten und sich die Stellung dieses Flecks merken, wenn sie die schwache Hautempfindung spürten, die von dem Reiz zu unregelmäßig verschiedenen Zeiten bei verschiedenen Versuchen erzeugt wurde. Die Versuchspersonen gaben tatsächlich Uhrzeiten an, die sehr nahe bei dem tatsächlichen Zeitpunkt der Verabreichung des Reizes lagen; die Angaben lagen im Durchschnitt bei -50 ms, bezogen auf den tatsächlichen Zeitpunkt des Reizes. Dieser Grad von Korrektheit gestattet keine Verzögerung für den Aufgabenwechsel, die im Bereich von hunderten von Millisekunden liegt.
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