Virtualisierung personaler Identität. Möglichkeiten und vorläufige Grenzen der Vermittlung von personalem Orientierungswissen über das Internet

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Mario Spassov Matrikelnr: 0309830 Studienkennz: A 297 / 296

Einleitung

In dieser Arbeit wenden wir uns der Frage nach Vorteilen und Nachteilen der Vermittlung von personalem Orientierungswissen über das Medium Internet zu. Wir werden zeigen, dass Bildung - in Anschluss an Marotzki gefasst als verändertes Verhältnis zu Selbst-, Welt-, und Anderen - in Form personalen Orientierungswissens vorliegt. Generierung und Artikulation derartigen Wissens ist somit bildungsrelevant und die neu eröffneten Potentiale für die Vermittlung von Orientierungswissen über das Internet sind auch Bildungspotentiale. Um den dieser Arbeit zugrunde liegenden Bildungsbegriff zu klären, beginnen mit einer Diskussion unseres Identitätsbegriffes und orientieren uns dabei primär and den Arbeiten von Searle und Taylor.

An den Vorarbeiten von Turkle und Marotzki zeigen wir zwei Vorteile für die Vermittlung von personalem Orientierungswissen, und damit bildungsfördernde Aspekte des Internet auf: es ist ein unverbindlicher, allgemein zugänglicher Artikulationsraum personaler Identität. Bildungsfördernd ist dies insofern, als in der Artikulation ihrer Selbst, Identität sich selbst zum Thema macht, in ein reflexives Verhältnis tritt. Weiters kann das Internet erleichtern, Einzelaspekte von Identität, die Pluralität verschiedener Selbstentwürfe - Artikuliert in partikulären Stellungnahmen - zu organisieren und damit die Kohärenz der Identität zu virtualisieren. Partikuläre Stellungnahmen können dabei ständig revidiert werden und dadurch auf die Kohärenz der Identität hermeneutisch zurückwirken. Diese beiden bildungsfördernden Potentiale des Internet konstitutieren dessen personal orientierende Funktion und ermöglichen, dass sich Identitäten an den eigenen Selbstentwürfen als auch Entwürfen anderer Identitäten bilden und orientieren.

Mit Dreyfus wenden wir kritisch ein, dass ein wesentliches Moment von Bildungsarbeit - commitment - über das Internet meist verloren geht. Diesem Einwand kann jedoch auf Softwareebene begegnet werden. Zudem wäre die Frage zu stellen, ob sich die Struktur des Mediums Internet eignet, um der “Tiefe” bestimmter Selbstentwürfe gerecht zu werden. Gegen diesen Einwand finden wir kein Gegenargument, wodurch die Funktion des Internet als Raum für personaler Orientierung nicht negiert, jedoch stark relativiert wird. Im Appendix fügen wir heuristische Vorschläge zum basalen Funktionsumfang einer universitären Lernplattform, die als bildungsfördernd und personal orientierend konzipiert wurde, an.

Methodisch nähern wir uns dem Phänomen der Identität phänomenologisch, werden also unseren Blick auf das Phänomen richten, insofern es sich dem beobachtenden Bewusstsein zeigt. M.a.W. versuchen wir zu skizzieren, wie es für das Bewusstsein ist, eine Identität zu haben und inwiefern sich Identität durch Selbstthematisierung zu bilden vermag.

Identität und Bildung

Subjektivität

Sofern wir ein Ich oder eine Person sind, sind wir als Bewusstsein oder Subjektivität. Dieses kommt uns nicht zu wie andere Eigenschaften zu denen wir eine possesive Beziehung eingehen können, d.h. wir “haben” Bewusstsein nicht in der Weise, wie wir Haare haben oder eine Leber. [1] Bewusstsein beginnt, wenn man aus einem traumlosen Tiefschlaf aufwacht; es ist unsere “Innenwelt” im weitesten Sinne, umfassend alles von Gefühlen, über Sinneserfahrungen, Erwartungen, Erinnerungen und Gedanken. [2] Im Schlafzustand “verdunkelt” sich unser Bewusstseinszustand, Erfahrungen stehen nicht in völliger Konsistenz miteinander - plötzlich können wir fliegen oder durch Wände gehen -, bis das "Licht im Tiefschlaf wieder erlischt. Wir finden Bewusstsein nicht vor, als eigenes Phänomen unter anderen, sondern sichtbar wird es nur an den Bewusstseinsinhalten, auch genannt “qualia.” [3] Qualia sind Erfahrungen der Süße des Weins, der Röte der Erdbeere, des Brennens des Schmerzes. Wovon hier die Rede ist, lässt sich gut an einem Beispiel demonstrieren.

Angenommen eine Gehirnwissenschaftlerin lebte in einer Zukunft, in der alle Hinrprozesse entschlüsselt wurden. Ihr stünde somit alles potentielle Wissen über Farbsehen zur Verfügung. Es ist jedoch denkbar, dass sie eines über Farbsehen immernoch nicht “wüsste:” wie es ist, Farbe zu sehen (“what it is like to see”) - denn sie könnte farbenblind sein. Das “quale” des Farbsehens ist insofern nicht identisch mit den wissbaren neuronalen Vorgängen im Gehirn, als es keinen Standpunkt eines “wie es ist (what it is like), ein Neuron zu sein” braucht, dagegen aber Farbsehen unmöglich ist, ohne ein “wie es ist, Farbe zu sehen.” Dies soll nicht bedeuten, dass die Erfahrung des Farbsehens möglich ist ohne ein Gehirn, sondern lediglich darauf hinweisen, dass die Gegebenheitsweise des Farbsehens oder generell aller qualia, nicht jene der neuronalen Hirnprozesse ist. [4]

Das Beispiel illustriert den Unterschied zwischen erstpersonalen Phänomenen (Bewusstseinsphänomenen) und drittpersonalen Phänomenen, wie z.B. die Funktionsweise des Gehirns, an der zentralen Differenz, dass erstpersonale Phänomene stets begleitet sind von einem “wie es ist” dieses Phänomen zu sein. [5] Denken wir z.B. an eine Fledermaus und ihre Weise, sich in der Welt mittels Sonar zu orientieren, können wir die Funktionsweise ihrer Orientierung durchaus erklären, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, “wie es ist” tatsächlich als Fledermaus ein Sonar zur Orientierung zu verwenden, d.h. sie zu verstehen. [6] Genauso können wir uns nicht vorstellen, wie es für Tauben ist, sich am Magnetfeld der Erde zu orientieren. [7] Während wir durchaus Sonar oder Magnetfelder in unsere Bewustseinsmodalitäten übersetzen können - d.h. diese sichtbar, hörbar, lesbar machen können -, ist die Bewusstseinserfahrung der Sonar verwendenden Fledermaus oder sich am Magnetfeld orientierenden Taube in keiner Weise für uns nachvollziehbar. Wie es ist, eine Fledermaus zu sein, oder eine sich am Magnetfeld der Erde orientierende Taube, bleibt uns völlig unzugänglich. Damit bleiben uns die “qualia” dieser Wesen, deren Bewusstseinsinhalte, solange ein Rätsel, bis wir sie selbst vollziehen können.

Angenommen ein Gerät kombinierte alle uns bekannten Vorteile von biologischen Sehapparten und ermöglichte “Sehen” bis in größte Entfernungen, in reichstem Farbspektrum und größte Detailvielfalt, es wäre in der Lage das Sichtbare in Information zu übersetzen. Einziger Nachteil jedoch wäre, dass es die Sehinformation nicht direkt ans Gehirn weiterträgt, sondern in eine andere Modalität übersetzen muss, z.B. in Sprachausgabe, vor welchen Objekten man sich gerade befindet, wie deren Oberfläche beschaffen ist oder welche Lichtfrequenz sie reflektieren. Würde jemand dieses Gerät gegen seinen eigenen Sehsinn eintauschen wollen, weil es diesen in rein informativer Hinsicht um ein Vielfaches übertrifft? Ist die bloße Information über die visuelle Beschaffenheit eines Objektes bereits schon Sehen? Die Antwort scheint allen bewusstseinsfähigen Wesen offensichtlich. Selbst ein noch so schwaches Sehorgan ist uns lieber, als ein Gerät, welches zwar “Sehinformation” liefert, nicht jedoch die Erfahrung des Sehens selbst. Ein Wesen dagegen, welches über keine Bewusstseinsinhalte verfügt und sich rein durch Information in der Welt Orientiert, würde die Entscheidung Augen statt Sensoren zu verwenden, als irrational einstufen. Ist sie das?

Subjektivität ist somit eine Qualität, ein Gefühl. Und während es durchaus Sinn macht zu fragen, wie es ist, sich anfühlt, zu sehen, hören, denken etc., scheint die Frage, wie es ist ein Stein, Mond oder Gehirn zu sein, schlichtweg sinnlos. Bewusstsein ist stets begleitet von einem “what it is like to be conscious.” [8]

Von der Subjektivität zum Subjekt, der Identität

Bisher sprachen wir von Subjektivität oder Bewusstseinsinhalten, nicht jedoch vom Subjekt oder Identität. Den Subjektbegriff benötigen wir, um einigen zentralen phänomenologischen Merkmalen der Subjektivität gerecht zu werden.

Z.B. identifizieren wir uns mit Bewusstseinsinhalten, diese fließen nicht einfach in unserem Bewusstseinsstrom [9] dahin, ohne für "etwas" von Relevanz zu sein. Nachdem Bewusstseinsinhalte immer in einer Bewertungsbeziehung stehen und es keinen Sinn macht zu sagen, ein Bewusstseinsinhalt "bewertete" sich selbst oder "identifiziere" sich mit sich selbst (z.B. ist "Schmerz" sich selbst nicht "schmerzvoll" oder "vermeidenswert"), sehen wir uns genötigt das Konzept eines "jemand" der Bewusstseinsinhalte, welchen wir Subjekt oder (personale)Identität nennen werden, einzuführen. Das Subjekt ist nicht ein bestimmter Bewusstseinsinhalt, für welchen andere Bewusstseinsinhalte von Bedeutung sind, sondern Bewusstseinsinhalte sind für das Subjekt von Bedeutung. Dieses Phänomen finden wir bereits bei Tieren. Ein Tier meidet den Bewusstseinsinhalt Schmerz, und dies ohne dabei einem sozialen moralischen Konstrukt wie etwa “Schmerz ist vermeidenswert” zu folgen. Ließen wir den Subjektbegriff fallen, könnten wir den Identifikationsprozess mit bestimmten Bewusstseinsinhalten, der allen Bewusstseinsinhalten inhärent ist, nicht artikulieren. Wir könnten nicht thematisieren, dass Urteile nicht einfach nur “dahinexistieren” - wie Steine oder Moleküle - sondern es immer “jemanden” (das Subjekt) gibt, welcher sich mit diesen Urteilen identifiziert, d.h. darauf besteht, dass diese auch wahr sind. M.a.W. liegen Meinungen nicht einfach vor, sondern sind stets begleitet von einem “Meinenden,” welcher u.U. auch die Fassung verlieren kann, wenn seine Meinungen von Meinungen anderer in Frage gestellt werden. Meinungen "geschehen" somit nicht, sondern werden "vollzogen," stehen in Beziehung zu einem Vollziehenden.

Das Subjekt ist selbst kein eigener Bewusstseinsinhalt, sondern (bildlich gesprochen) - die “Einheit” der Bewusstseinsinhalte im sie zusammenfassenden und umgrenzenden (Bewusstseins)Strom. Diese Perspektive impliziert, dass Bewusstseinsinhalte einander nicht als geschlossene Phänomene einander einzeln folgen, sondern was wir in einem Augenblick fühlen, hängt davon ab, was wir bisher fühlen konnten. Searle spricht in diesem Zusammenhang von “horizontaler” Einheit des Bewusstseins. [10] Bewusstseinsinahlte sind aufeinander verwiesen, in einer kohärenten Einheitserfahrung. Von Innen her fühlt sich diese “Einheit” unsere geschlossene Bewusstseinserfahrung an, welche nicht in Einzelphänomene zerteilt werden kann (die Aufgabe "teile dein Bewusstsein in zwei" schein sinnlos). D.h. wir erfahren nicht eine Vielzahl von Bewusstseinsinhalten aufeinander folgen, sondern ein geeintes Bewusstseinsfeld, welches ständig von Inhalten durchzogen wird. Wir erfahren uns als ein Bewusstsein, ein Subekt, welches durchzogen wird von diversen Bewusstseinsinhalten, vielfältiger Subjektvität. Ähnlich der Sehmodalität, in der wir nicht einzelne Gegenstände Wahrnehmen und diese zu einem Gesamtbild addieren, sondern im Augenglick des Hinsehens schon mit einem vollständigen Sehfeld konfrontiert sind, gilt dies auch für Erinnerungen oder Gedanken.

Das Subjekt oder die Identität, um zusammenzufassen, zeigt sich formal als die Einheit des Bewusstseins, die Verwiesenheit der Bewusstseinsinhalte aufeinander, phänomenologisch als das Gefühl, jemand zu sein. Nachdem das Subjekt selbst weder ein bestimmter Bewusstseinsinhalt, noch ein materieller Gegenstand ist, ist es in gewissem Sinne “nichts,” “transparent.” Wir bekommen das Subjekt als Subjekt nie zu fassen, zumindest nicht als Bewusstseinsinhalt, sondern die alle Bewusstseinsinhalte begleitende Seins- und Identifikationserfahrung.

Die Spezifik menschlicher Identität

Tiere und Menschen haben Bewusstseinsinhalte und Identität, d.h. identifizieren sich mit diesen. So haben Tiere Präferenzen. [11] Sie meiden bestimmte Bewusstseinsinhalte, ziehen andere vor. Insofern sind Tiere Subjekte. Jedoch können sie Präferenzen nicht ob ihrer “desirability” hinterfragen. [12] D.h. beim Menschen taucht neben der Fähigkeitkeit zu Präferenzen noch jene der Stellungnahme zu Präferenzen auf, die sogenannte “starke Wertung,” [13] wobei damit nicht eine rein “situativ pragmatische Überlegung” gemeint ist, in der man z.B. bestimmte Präferenzen für den Augenblick hintan stellt, um im Nachhinein dafür umso mehr von diesen befriedigen zu können. [14] Der Mensch findet sich in der Krise wieder, über die letztliche desirability von Präferenzen selbst entscheiden zu müssen. D.h. es fehlt ihm ein absoluter, außerhalb seiner Identität stehender Bezugsmaßstab, an dem er die letzte Wertigkeit und damit "desirability" von Haltungen messen könnte. In seinem Selbstbild bezieht der Mensch Stellung zu seiner Konzeption des “Guten.” [15] Kann er diesem nicht entsprechen, empfindet er Scham. [16] Tiere kennen diesen Konflikt, Präferenzen zu haben, diese aber nicht haben zu wollen, nicht. Gerade dieses Dilemma kennzeichnet jedoch die Menschliche Identität, das menschliche Subjektsein. Es macht keinen Sinn zu fragen, ob eine der Präferenzen mit sich selbst oder einer anderen in Konflikt steht. Es ist das Subjekt, in welchem Präferenzen überhaupt auftauchen, als in Konflikt stehend sichtbar werden, das Subjekt, die Identität leistet die Zusammenhangsbildung zwischen diversen Bewusstseinsinhalten. Derartige Konflikte des Selbstbildes sind für das Subjekt - so leer und nonexistent es scheint - konkret als existenzielle Krise erfahrbar, in der es regelrecht um seine Orientierung auf das Gute nicht weiß. [17] Der Begriff der Krise machte keinen Sinn, würden wir auf den Subjektbegriff verzichten wollen.

Synonym zum Identitätsbegriff werden wir auch von “Ich” sprechen. Das spezifisch menschliche Ich ist ein Problemraum, in dem bestimmte Fragen für dieses Ich von Relevanz sind und eine Orientierung auf das Gute, das Erstrebenswerte eingenommen wird. [18] Das Ich des Tieres oder Säuglings dagegen geht in seiner Sinnlichkeit auf. M.a.W. verletzt man die Identität des Kindes oder Tieres, wenn man sie in der Befriedigung ihrer Präferenzen verletzt. Wir werden in diesem Zush. von Identität erster Ordnung sprechen. Hat jedoch ein Wesen zudem Identität zweiter Ordnung, d.h. ein Selbtbild, verschiebt sich dessen Bewusstseinsschwerpunkt. Es ist nicht ausschließlich mit Präferenzen identifiziert sondern kann zwischen diesen navigieren. [19] Es gewinnt Autonomie gegenüber seinen Präferenzen, wird nicht mehr ausschließlich von diesen getrieben, sondern kann sich in “widernatürliche” Situationen manövrieren, welche der Realisation eines selbsterkannten Zwecks dienen: Übung oder Lernen sind derartige widernatürliche Lagen. Derartige Individuen sind in der Lage gezielt an der Erweiterung ihrer Identität zu arbeiten. M.a.W. können sie bewusst versuchen ihre eigene Identität zu thematisieren sowie herauszufordern, indem sie sich rivalisierenden Identitätsentwürfen stellen, sich mit diesen auseinandersetzen. Nachdem dieser Prozess durchaus schmerzvoll sein kann, damit gegen das Lustprinzip verstößt, können wir ihn als “widernatürlich” einstufen. Gerade derartige “widernatürliche” Erweiterungen der Identitäts“räume,” werden wir als Bildung bezeichnen.

Einerseits hat ein Bewusstsein mit Identität zweiter Ordnung etwas Zusätzliches, das es verlieren kann: sein Selbstbild. “Verletzbarkeit” ist Bezugspunkt von moralischem Handeln und ohne den Identitätsbegriff eine bloße Metapher. Wann immer Verletzung stattfindet, gibt es jemanden, ein Subjekt, eine Identität, welche verletzt wird, ihre Verletzung erfährt. Insofern Bildungsprozesse Identitätsbildungsprozesse sind, bewegt sich das bildende Bewusstsein auf dem schmalen Pfad zwischen Verletzbarkeit und Entwicklung, somit immer schon in einem moralischen Raum.

Iche konstruieren sich nicht streng rational aus dem nichts, sie fassen sich selbst in Kohärenz stiftenden reflexiven narrativen Entwürfen, welche hermeneutische Deutungsversuche der eigenen Identität darstellen. [20] Wann immer ein Bewusstsein seine eigenen Bewusstseinsinhalte thematisiert, vollzieht es Reflexivität. Wenn von Selbstbewusstsein die Rede ist, soll damit nicht gemeint sein, dass ein zunächst ein Selbst da ist, welches dann im reflexiven Schritt des Selbstbewusstseins als solches, als Ganzheit gefasst wird. Selbstbewusstsein bedeutet in unserem Kontext die Fähigkeit Aspekte des Ich, d.h. Bewusstseinsinhalte, zu thematisieren. Dementsprechend tritt man in eine reflexive Beziehung zu sich selbst, wenn man z.B. über seine eigenen Gefühle, Urteile oder Identifikationen zu sprechen beginnt. Das Selbst als Selbst, Subjekt als Subjekt, bekommen wir nie zu fassen. In der Vesprachlichung dieser Bewusstseinsinhalte, treten wir in eine bewusstere Beziehung zu den Artikulierten Inhalten und verändern diese auch. [21] Selbstbilder sind nicht geschlossene argumenatitive Bündel, sondern hermeneutische Entwürfe, welche selten widerspruchsfreie und saubere Selbstdarstellungen sind. Sie stellen eine narrative Annäherung an die eigene Konzpetion des Guten, Erstrebenswerten dar, sind eine Art hermeneutischer “best account” unserer Haltungen. Über den best account dieser Selbstentwürfe, können wir uns dem, was wir für Erstrebenswert erachten, annähern. [22] Stellen wir diesen best account, die Artikulation unseres Selbstentwurfes, in einen öffentlichen Raum, kann dieser als Ausgangspunkt hermeneutischer Bildungsarbeit dienen, die Anregung durch andere Identitätsentwürfe erfährt.

Bisher stellten wir fest, dass ein Selbstbild für spezifisch menschliche Identität konstitutiv ist. Dieses liegt vor in Form eines narrativen Entwurfs, in welchem das Ich versucht, möglichst viele Werthaltungen in Kohärenz zusammenzuhalten. Kein Selbstbild ist frei von Widersprüchen und Konflikten sowie völlig transparent, kann sich von einem Nullpunkt ausgehend selbst infallibel konstruieren. Doch kann an der Kohärenz des Selbstentwurfs hermeneutisch gearbeitet werden, indem man diesen artikuliert und in einen öffentlichen Raum stellt. Dieser Prozess der Arbeit am eigenen Selbstentwurf ist Bildungsarbeit.


Bildung als Identitätsarbeit

Marotzki fasst Bildung als ein verändertes Verhältnis zu Welt-, Selbst und Anderen. [23] Bildung ist eine reflexive Bezugnahme auf das eigene Selbstbild. [24] In Bildungsprozessen wird nicht bloß Wissen angehäuft, sondern Orientierunswissen generiert. [25] In der bisher ausgearbeiteten Bildungskonzeption, wäre es besser von personalem Orientierungswissen zu sprechen, um die Ausrichtung dieses Wissens in Richtung eines Ich zu betonen. Hierbei handelt es sich nicht um Wissen, welches vorhandene Wissensbestände zusammenfasst und kategorisiert, Überblick verschafft, sondern um ein personales Wissen, welches Wissensbestände in ein Selbstbild kontextualisiert. Nicht jedes Wissen eignet sich für derartige personale Orientierungen auf das "Gute" - somit ist nicht jedes Wissen bildungsrelevant.

Naturwissenschaftliches Wissen z.B. hat oft, wenn nicht meistens, keine Implikationen für das eigene Selbstbild, nachdem in diesem Bewusstseinsinhalte als Bewusstseinsinhalte prinzipiell nicht thematisiert werden. Das bedeutet nicht, dass derartiges Wissen überhaupt kein bildendes Potential hat. Alleine zu wissen, dass die Erde eine Kugel ist und eine Stratosphäre hat, die Kategorien von “oben” und “unten” von keinem beobachterinunabhängigen Standpunkt Sinn machen, kann z.B. einem Bewusstsein als Indiz dafür dienen, seine Orientierung auf das Gute, welche z.B. von einer wörtlichen Interpretation der Bibel ausgeht, und die Auferstehung als konkrete "Himmel-fahrt" auslegt, d.h. ein Abheben des Auferstehenden in die Stratosphäre und darüber hinaus in die Exosphäre, zu überdenken. Welche alternativen hermeneutischen Deutungsweisen sich jedoch anbieten, kann naturwissenschaftliches Wissen nicht erhellen und ist gerade an der Stelle tentativ-konstruktiver Identitätsbildung keine Hilfe, in der man einen hermeneutischen Deutungsentwurf erstellen muss.

Es ist v.a. geisteswissenschafltiches und philosophisches Wissen, welches sich für derartige Konstruktionen anbietet. Seit Platon fragt die Philosophie nicht nach willkürlich gewälten kausalen Zusammenhängen, [26] sondern ihre Kardinalfrage ist die Frage nach dem Selbst, der eigenen Identität. Ehe eine Identität danach greift den Lauf der Sterne zu fassen, steht sie schon in der Fragwürdigkeit ihrer selbst als Identität. Wie ist es, ein Ich zu sein, ein z.B. nach dem Lauf der Sterne fragendes Ich - das ist die Leitfrage allen personalen Orientierungswissens. Philosophieren - in dem hier gebrauchten Sinne - heißt, sich zu bilden, heißt, an der eigenen Identität zu arbeiten, durch das Zeichnen großer tenativ-narrativer Entwürfe. [27] Sollte dieses methodische Vorgehen aussterben, aufgrund der unüberschaubaren Menge an Sprachspielen, stirbt die “institutionell” geförderte Bildungsarbeit. Menschen hätten dann immernoch Bildung, d.h. Selbstbilder und Orientierung auf das "Gute” in tentativ-narrativer Form, doch existierte kein institutionalisierter öffentlicher Raum, in welchem man sich der Bildungsarbeit gemeinsam widmen könnte. Der Tod der Philosophie als große Erzählung wäre der Tod der Bildung.


Zusammenfassende Bemerkungen anhand der “postmodernen” Herausforderung des Identitätsdenkens

Die Postmoderne ist nicht eigenes Thema dieser Arbeit. Um aber die hier dargelegte Position zum Subjektbegriff zu verdeutlichen, folgt eine Kontrastierung mit einer Gegenposition, welche wir tenativ als “postmodern” kennzeichnen wollen. Wir erheben nicht den Anspruch, dass diese Position von führenden Vertreterinnen der Postmoderne tatsächlich in dieser Form vertreten wird. [28] Der Eindruck ist vielmehr der, dass unten genannte Gegenthesen zu unseren bisherigen Ausführungen häufig im vorwissenschaftlichen Diskurs als "postmodern" ausgegeben werden oder im wissenschaftlichen Diskurs eine häufige Rezeption der "Postmoderne" darstellen. In Kontrastierung zu dieser Pappfigur, genannt "Postmoderne," wollen wir die bisherigen Implikationen zusammenfassend skizzieren. Aus der Haltung einer Hermeneutik des Wohlwollens gehen wir wie gesagt davon aus, dass diese Thesen sich nicht notwendig mit der Komplexität der Eigendarstellung postmoderner Denkerinnen decken.

Bildungsprozesse sind nach dem bisher Gesagten Aufklärungs- und Konstruktionsprozesse. Ausgangspunkt ist die potentielle Möglichkeit, über identitätskonstitutive Bewusstseinsinhalte als Bewusstseinsinhalte zu verfügen, d.h. diese als solche in den Blick zu bekommen und ihrer bewusst zu werden. Die eigene Identität wird dabei mittels bewusstem Konstruieren narrativer Entwürfe (große Erzählungen) Thema und nicht nur transparenter, d.h. bereits entwickelte Werthaltungen rekonstruiert, sondern weiter konstruiert. In der dialogischen Konfrontation mit fremden bilden sich die eigenen Selbstentwürfe. Zudem kann das Bewusstsein als Bewusstsein neue Selbstkonzepte entwerfen und diese erproben, kann sich damit aktiv an der eigenen Identitätskonstruktion beteiligen, wenngleich auch nicht vollständig über diese verfügen. Ohne ein fragendes, aktives und Entwürfe schmiedendes Bewusstseinszentrum verharrt ein Ich in übernommenen Selbstentwürfen.

1. Potentieller Einwand: Diese Konzeption von Bildung (des Bewusstseins) geht von einem Cartesischen Ich aus, welches als unhaltbar ausgewiesen wurde. Antwort: Identität ist keine vom einem allmächtigen Ich, jeden Schritt bewusst setzenden, vollzogene Konstruktion. In Taylors Identitätskonzeption z.B. wurde schon deutlich, dass das Ich von Wert-Konflikten durchzogen ist und wir uns bestimmte Werthaltungen bewusst machen können, das Ziel aber keineswegs ein völlig transparentes ganzes Selbst ist. Wir konstruieren Identität nicht immer bewusst, oft wird uns Identität erst retrospektiv bewusst. Wovon wir aber ausgehen ist, wie es Schnädelbach formuliert, dass es durchaus möglich ist, zu sagen was man sagt, und nicht immer meinen muss, was man sagt. [29] Wir behaupten jedoch nicht, dass wir immer sagen, was wir meinen und brauchen somit kein Telos völliger Transparenz - realisiert im Göttlichen z.B. - sondern relative Bewusstseinszunahme, d.h. Bewusstseinszunahme in Relation zu bereits existierendem Bewusstsein.

2. Potentieller Einwand: Wir leben in einer Zeit, in der große Erzählungen aufgrund der Pluralität von Weltkonstruktionen und Sprachspielen keinen Geltungsanspruch mehr erheben können. Antwort: Während in den Fachdisziplinen große Erzählungen nicht haltbar sind sowie der Universalitätsanspruch derartiger Entwürfe auch auf vorwissenschaftlicher Ebene nicht ohne weiteres eingefordert werden kann, kommen Iche ohne derartige tentative narrative Entwürfe nicht aus. [30] Einen narrativen Entwurf zu haben bedeutet, irgendeine Form der Orientierung auf das Gute zu haben. Iche können auf große Entwürfe nicht verzichten wie auf eine Niere. Narrative Selbstentwürfe konstituieren das Ich. Die narrativen Selbstkonzepte sind Entwürfe und damit tentativ, unabgeschlossen als auch revidierbar. Diese selbst aus der Philosophie vertreiben zu wollen, bedeutete, dass im universitären Rahmen keine Disziplin übrig bliebe, die explizit einen Bildungsauftrag (im oben dargelegten Sinne) verfolgt. Dennoch haben wir immer schon sofern wir ein Ich sind einen narrativen Selbstentwurf, mag dieser auch darin bestehen, die Unhaltbarkeit aller Selbstentwürfe ausweisen zu wollen.

3. Potentieller Einwand: Aber gerade diese Iche sind Konstrukte, welche dekonstruiert werden können. Antwort: Identität ist kein Konstrukt, welches man dekonstruieren könnte. Falsche Identitäten können dekonstruiert werden, nicht jedoch Identität als solche. Wann immer man Identität dekonstruiert, ist es eine personale Identität, der es wichtig ist, Identität zu dekonstruieren. M.a.W. ist es das Ich, das als Ich versucht, sich selbst zu dekonstruieren. Im besten Fall baut man Identität zweiter Ordnung ab, indem man z.B. verweigert Werthaltungen gegeneinander abzuwiegen und alle für gleich “gut” erklärt. [31] Doch übrig bleibt immernoch Identität erster Ordnung. [32] Kein Ich zu haben bedeutete, in keiner Form zu Bewusstseinsinhalten Stellung zu nehmen. D.h. einem derartigen Bewusstsein wäre Schmerz nicht schmerzhaft, Wahrheit nicht wahr. Wer das konsequent leben kann, d.h. wer z.B. - wie Derek Parfit [33] - meint, in einem Zustand der Meditation überhaupt keine Werthaltungen mehr zu vollziehen, selbst nich die Werthaltung, nicht aus der Meditation gerissen werden zu wollen, der/die könnte von sich behaupten, kein Ich zu haben.

4. Potentieller Einwand: Identität ist ein abendländisches Konstrukt, es gibt Kulturen, in denen Identität gar nicht gedacht werden kann. Antwort: Identität ist universell ein “strongly valued good,” es handelt sich dabei nicht um ein bloß für das Abendland geltendes Konstrukt. [34] M.a.W. bedeutet das, dass alle Menschen um Richtigkeit ihrer personalen Orientierung kämpfen, wie auch immer dieses Konstrukt aussehen mag, selbst wenn sie sich nicht eigens bewusst sind, dass sie eine personale Orientierung haben. D.h. über Identität nicht zu sprechen bedeutet nicht zugleich, keine Identität zu haben. [35] Krisen werden oft ausgelöst durch einander gegenseitig negierende personale Orientierungen. Das Eigenrecht aller dieser “Lebensformen” kann nur dann geschützt werden, wenn man sich auf das universal geltende Postulat einigt, dass Lebensentwürfe als Lebensentwürfe für alle Menschen ohne Ausnahme ein Interesse, “strongly valued good” darstellen und damit auch universell deren Schutz oder Respektierung als Soll eingefordert wird. [36] Bei Kant wurde dies Formuliert als die Würde des Menschen. Allen Menschen steht zu, ihrem selbstgewählten Selbstentwurf zu folgen. Selbstentwürfe als Selbstentwürfe sind ein universaler Ur-Wert, d.h. gehen allen partikularen Werten voraus. Jeder Wert existiert nur in Zusammenhang mit einem Selbstentwurf oder Identität. D.h. man kann zwar spezifische Werte hinterfragen, nicht jedoch den Wert von Identität, weil damit die Bedingung der Möglichkeit aller Wertigkeit schlechthin, der Bezugsrahmen aller Werte, hinterfragt würde.

5. Potentieller Einwand: Identitäten sind inkommensurabel und damit eine Auseinandersetzung der eigenen Identität mit anderer Identität mit der Absicht des Verstehendens von vornherein verfehlt. Antwort: Inkommensurabilität zwischen personalen Orientierungen ist eine Setzung a priori, kein empirischer Schluss. Man kann auch vom Gegenteil ausgehen, dass Verstehen möglich ist und die Selbstkonzeptionen fremder Identitäten als auch fremder Kulturen als zur Artikulation und hermeneutischen Hinterfragung auffodernden Herausforderung und Bereicherung betrachten. Oberste ethische Maxime in diesem Sinne wäre davon auszugehen, dass prinzipiell alle Selbstentwürfe zu unserem eigenen Wertvolles beizutragen haben. [37] Aus der Unmöglichkeit zu zeigen, dass wir das Gegenüber tatsächlich verstanden haben, folgt nicht, dass wir notwendig immer missverstehen müssen. Es folgt lediglich, dass wir zwar nicht zwingend aufzeigen können verstanden zu haben, was aber nicht bedeutet, dass wir nicht gute Gründe haben können anzunehmen, dass wir verstanden haben. Mehr als das fordern wir nicht ein.

Bildungsfördernde Aspekte des Internet

Medien

Identitäten kommunizieren mit anderen Identitäten und sich selbst über Medien. Medien sind konstant bleibende geistige Konstrukte, welche mit bestimmten Bewusstseinsinhalten assoziiert werden. Diese geistigen Konstrukte bezeichnen wir als Zeichen. Zeichen sind somit im Bewusstsein und “stehen für” andere Bewusstseinsinhalte (Ideen, Wünsche, Erfahrungen etc.). D.h. wenn wir die Seherfahrung (das quale) eines roten Steines machen (d.h. in unserem Bewusstsein die Erfahrung von Härte, Kälte, Ausdehnung und andere Merkmale konstant wahrnehmen), können wir dieses konstant bleibende Konstrukt benutzen, um es mit anderen Bewusstseinsinhalten (z.B. “Gefahr”) zu assoziieren. Zeichen sind dabei nicht kontingent im Bewusstsein auftauchende Erscheinungen, sondern an physikalische Substrate gebunden, welche die Erscheinung erst bewirken. Die Substrate stehen außerhalb des beobachtenden Bewusstseins und können damit als Mittler zwischen Bewusstseinen dienen. Doch fungiert nicht das Substrat als Substrat schon als Zeichen, sondern erst nachdem das Substrat in einem anderen Bewusstsein ein konstantes Wahrnehmungskonstrukt verursacht, ensteht ein Zeichen: das Wahrnehmungskonstrukt selbst ist dabei das, was wir Zeichen nennen. Nicht das Substrat ist schon ein Zeichen. [38]

Konsequenz dieser Überlegung ist, dass nicht das Substrat als Substrat schon ein Bedeutungsträger ist, sondern nur insofern es eine bestimmte Bewussteinserfahrung auslöst. Substrate sind somit nur so lange auch Zeichen, als auch ein Bewusstsein existiert, welchem das Substrat als Zeichen für etwas anderes, nämlich Bedeutung, erscheint. Ohne den Vollzug der Erscheinens, d.h. ohne, dass jemandem etwas erscheint, vor das Bewusstsein tritt, gibt es keine Zeichen.

Aus der Dichotomie von Zeichen und Substrat folgt, dass der Inhalt eines Zeichens (nicht eines Substrats), eine Bedeutung ist und nicht ein weiteres Zeichen. [39] Die Bedeutungsebene, die Zeichenebene von Substraten ist diesen nicht intrinsisch, sondern wird ihnen von einem Bewusstsein zugewiesen. So wie eine Badewanne nur in einem bestimmten Verwendungszusammenhang eine Badewanne ist und ihr “Badewannesein” nicht unabhängig von einem Bewusstsein, welches sie als solche verwendet, intrinsisch, d.h. “von innen,” unabhängig von einem außenstehen Beobachter zukommt. [40] Im Folgenden werden wir diese Differenzierung von Substrat und Zeichen oder Substrat und Erscheinung nicht eigens artikulieren, sondern wann immer wir von “Bedeutungsträger” oder “Zeichen” oder “Medium” sprechen, ist damit die konstante Erscheinung im Bewusstsein gemeint, welche wir "Zeichen" nannten und nicht der Bedeutungsträger als solcher.


Medien als unvollkommene Bedeutungsträger

Medien sind Bedeutungsträger, die Bedeutung nicht eins zu eins repräsentieren. Die in einem Medium repräsentierte Bedeutung zu entziffern ist eine hermeneutische Herausforderung auf Seiten der Vermittlerinnen und des Leserinnen. Ehe wir Bedeutung festhalten können, müssen wir den Umgang mit einem Medium lernen. Als Vermittelnde müsen wir lernen zu schreiben, an unserem Ausdruck feilen, Tonleitern üben etc. Als Leserinnen müssen wir beim Lesen eines Textes gewisse heuristische Prinzipien lernen, wie Vorurteile die den Textinhalt verfälschen fallenlassen zu können oder uns auf das textimmanent Wesentliche zu konzentrieren. "Verstehen" findet dann statt, wenn sich ein Bewusstsein über Medien derart artikulieren kann, dass andere Bewusstseine das Vermittelte so verstehen, wie es von diesem Bewusstsein intendiert wurde. In weiterer Folge gehen wir davon aus, dass es einerseits “gute” Gründe gibt anzunehmen, dass Verstehen prinzipiell möglich ist, [41] sowie wir auch verstanden werden wollen, und zwar genau so, wie wir etwas meinen, d.h. wie es vor unser Bewusstsein tritt.

Das in unserer Konzeption spezifisch pädagogische Phänomen von dem wir ausgehen ist jedoch, dass Missverstehen stattfindet. [42] Verstünden wir alles, was uns in einem Lernzusammenhang präsentiert wird (wobei hier gemeint ist, dass wir von jemandem lernen) unmittelbar so, wie es gemeint ist, existierte kein pädagogisches Problem. Zwar stünde dann noch offen, ob das vemittelte Bewusstsein ein der Situation adäquates ist, doch ist dies nicht mehr ein mittels spezifisch pädagogischer Methodologie zu bearbeitendes Problem. D.h. es stünde noch offen, ob z.B. das von einer Lehrperson übernommene Wissen auch tatsächlich in einer Problemsituation weiterhilft oder nicht. Die Lehrperson zu verstehen ist das pädagogische Problem, nicht was verstanden wird. Freilich gibt es jedoch kein Verstehen ohne Inhalt, was zur Folge hat, dass man in diversen Kontexten der Inhaltsvermittlung pädagogische Situationen sieht: ob das Vermitteln des Klavierspiels, des Rechnens oder spezifisch bildungsfördernden Inhalten.

In der weiteren Diskussion wenden wir uns der Frage zu, inwiefern das Internet Verstehen fördern kann, im Kontext von Vermittlung personalen Orientierungswissens, d.h. inwiefern es hilfreich sein kann, einen "snapshot" des eigenen Bewusstseins anderen Bewusstseinen zugänglich zu machen, das eigene Ich abzubilden. Unterschiedliche Medien eröffnen für derartige snapshots unterschiedliche Möglichkeitsräume. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, doch sagt oft auch ein Wort mehr, als tausend Bilder etc. Je nach Beschaffenheitsstruktur eines Mediums eignet es sich unterschiedlich gut für Bedeutungsvermittlung. Uns interessiert an dieser Stelle, inwiefern das Internet als Medium zur Artikulation von Identität geeignet ist.


Erster bildungsfördernder Aspekt: Internet als Artikulationsraum

Das Internet eröffnet einen neuen Artikulationsraum für Identitäten, jedem Individuum, welches über elementare Computerkenntnisse verfügt, steht es damit frei, sich selbst zu artikulieren. [43] Erstmals in der Menschheitsgeschichte ist diesen Einzelbewusstseinen möglich, reale oder auch explorative Identitätsentwürfe in einem allgemein zugänglichen öffentlichen Raum zu präsentieren. Nicht mehr die Identität der Göttinnen steht nunmehr im Mittelpunkt, auch nicht die der Heldinnen oder des Nationalbewusstseins. Das je eigene Ich kommt zur Sprache.

Die eigene Identität wird in das Internet projiziert, durch Rollenübernahmen über Avatare oder durch Stellungnahmen in Foren und Blogs. Nachdem man dabei auch anonym bleiben kann, steht einem offen, mit diversen Identitäten zu spielen. [44] Turkle und Marotzki zufolge wird man dadurch der Forderung der Postmoderne zur Pluralisierung von Selbstentwürfen gerecht. [45] Verschiedene Aspekte des Selbst werden artikuliert, um mit Dennett zu sprechen, “multiple drafts” [46] des eigenen Bewusstseins erstellt - man kann in diveresen Kontexten unterschiedliche Positionen als auch Identitätsentwürfe “anprobieren.” Meinungsfreiheit deckt das Grundbedürfnis, ein Recht auf ein eigenes Ich zu haben, das Recht, eigene Lebensentwürfe zu schmieden. Die durch das Internet ermöglichte allgemeine Artikulationsfreiheit geht einen Schritt weiter und erlaubt zudem, diese Suche nach der eigenen Identität für andere Identitäten sichtbar zu machen, dass das eigene Ich in einem öffentlichen Raum anerkannt wird. [47] Diese Selbstdarstellung muss nicht notwendig aus dem Motiv der Selbstverherrlichung, sondern auch aus einem Pflichtgefühl gegenüber dem auf das eigene Selbst als auch der Selbste anderer resultierenden Bildungsauftrag entstehen. Ebenso wie man sich einer Profession gegenüber verpflichtet fühlen kann, d.h. ohne äußeren Zwang den Drang verspüren kann, die Kenntnisse dieser Profession zu vertiefen, kann man eine Verpflichtung der eigenen Selbstbildung gegenüber verspüren. Bei Kant wird eine ähnliche Form der Verpflichtung dem Du gegenüber als “Achtung” bezeichnet. [48]

Indem man sich als Identität artikuliert, tritt sie zu sich selbst in Beziehung. Identität wird nicht mehr bloß gelebt, sondern man wird explizit damit konfrontiert, die eigene Identität im Akt des Virtualisierens auch zu rekonstruieren, d.h. Rechenschaft abzulegen über die eigenen personale Orientierung, die eigenen Werthaltungen, die eigene “Selbst-” und “Weltaufordnung.” [49] Identität wird somit explizit zum Thema. In Beziehung zur eigenen Identität treten kann man auch, indem man ein Tagebuch schreibt oder Bücher veröffentlicht; doch ersterem fehlt der Öffentlichkeitsaspekt und letzteres bleibt meist nur wenigen Individuen vorbehalten. Die Identitätsübernahme im öffentlichen Raum bedeutet auch öffentlich Stellung zu nehmen. Damit steht generell ein Raum zur Verfügung, in dem auch die eigene Identität artikuliert werden kann, deren “best account” gegeben werden kann. Der eigene Identitätsentwurf wird kritisierbar, von Seiten anderer und einen Selbst. Und es ist Kritik, an der Identitätsentwürfe hermeneutisch wachsen, ebenso wie eine Textinterpretation daran nur gewinnen kann, wenn aufgezeigt wird, dass sie bestimmten Textpassagen noch nicht gerecht wird.


Zweiter bildungsfördernder Aspekt: Virtuelle Arbeit an der Kohärenz des Ich

Unser Bewusstsein ist uns unmittelbar auf einen Blick präsent. Wann immer wir Bewusstsein haben, ist in diesem Bewusstseinsaugenblick immer schon die Geschichte und narrative Selbstdeutung des eigenen Bewusstseins inhärent. Das bedeutet nicht, dass wir uns an jedes Detail unseres bewussten Lebens erinnern müssen, doch wirkt jedes Detail auf den gegenwärtigen Moment des Gewahrens. Angenommen man hat aus intrinsischer Motivation über Jahre ein Musikinstrument studiert, d.h. nicht nur Muskunterricht genossen sondern sowohl mit Präsenz Musik gehört als auch zu musizieren geübt. Wer dies vollzogen hat weiß, dass die eigene Musikerfahrung sich im Laufe der Zeit ändert, ohne dass man dazu bewusste Schritte unternimmt oder in Sprache heben könnte, was genau zu einem veränderten ästhetischen Empfinden geführt hat. Man wird selbiges Stück Musik völlig anders hören, als Jahre zuvor und der Sprung in die alte Erfahrungsstruktur scheint unmöglich.

In diesem Sinne entsteht unser momentanes Bewusstsein nicht aus dem nichts, sondern in ihm ist liegt seine eigene Vergangenheit nicht als gespeicherte, sondern erfahrene oder “durchfahrene.” M.a.W. könnte man die Erinnerung des letzten Konzertbesuchts einer musikalisch geschulten Person A nicht dem Bewusstsein eines musikalischen Laien B implantieren, mittels reinem Datentransfer. Denn der Konzertbesuch besteht nicht nur aus propositionaler Information, wie z.B. in welcher Tonart das Stück war, welcher Satz welches Tempo hatte oder welche Tonleitern in einer Improvisation als Grundlage verwendet wurden. Der Konzertbesuch für das erweiterte musikalische Bewusstsein besteht aus ästhetischer Erfarhrung, die sich als ästhetische Erfahrung nicht einfach in ein fremdes Bewusstsein transferieren lässt, weil sie als Erfahrung an der Kohärenz des Gesamtselbst hängt. Dem Laien würden somit konkrete Erfahrungsstukturen fehlen und nicht nur das propositionale Wissen über Tonsatz. Ähnlich kann man nach Jahren der Reflexion zu einem Problem nicht alle Perspektivenwandel welche man vollzogen hat einfach fallenlassen und bei null beginnen, denn das eigene Problembewusstsein wurde von der Reflexion beeinflusst und geändert.

Diese Kontinuität und vollständige Gegenwart des Bewusstseins in jeder Bewusstseinserfahrung, in jedem Augenblick des “Blickens” oder “Gewahrens,” ist besonders schwer kommunizierbar und z.B. in die lineare Struktur eines Textes übersetzbar. Gedanken liegen vor unserem Auge unmittelbar als Ganzheit vor, wir denken den Gedanken als ganzen, müssen ihn nicht wie in einem Text erst systematisch aufbauen. M.a.W. konstruieren wir unsere Gedanken nicht syllogistisch, klären zunächst die Prämissen und gelangen dann erst zur Conclusio. Im Gegenteil, unsere Gedanken liegen als Ganzes vor, als Einheit von Induktion, Deduktion und Abduktion, welches durch Syllogismen in eine besser kommunizierbare und kritisierbare Strukur gebracht werden. Darum liegt auch im Schritt von den Prämissen zur Konklusion kein Erkenntnisgewinn; jeder Schluss ist eine Tautologie, fügt kein neues Wissen den Prämissen hinzu sondern sagt in einem Schlussatz, was in den Prämissen schon enthalten ist. D.h. Das Schließverfahren geht dem Denken nicht voraus sondern umgekehrt. Die Versprachlichung von Gedanken hilft uns zwar einerseits diese klarer zu sehen und v.a. auch zu sichten, inwiefern man einander ausschließende Gedanken versucht zusammenzuhalten - mehr kann Logik nicht leisten, sie prüft unsere Urteile auf Kurzschlusse -, andererseits aber kommuniziert der produzierte Text nicht die Unmittelbarkeit, Kohärenz und Vollstänigkeit der eigenen Bewusstseinserfahrung als bewusste.

Das Internet ist ein Medium, welches sich dazu eignet andere Medien zu simulieren und zu organisieren. Während auch das Interent Bewusstsein in seiner Kohärenz nicht als solches von Ort zu Ort übertragen kann, sondern dieses in Symbolsprache sequenzieren und kodieren muss, bietet es den Vorteil die Kohärenz des Bewusstseins in Einzelaspekte aufzufächern und diskutierbar zu machen. In einem Blog z.B. kann man pointiert Stellung nehmen zu diversen Problemen und diese Stellungnahmen sind als kleine “Ganzheiten” revidierbar und diskutierbar. Eine Änderung einiger derartiger Einzelpositionierungen wirkt hermeneutisch auf die Kohärenz des Selbst als Ganzes. Im Falle eines Buches ist dies nicht so einfach möglich. Einzelne Blog-Einträge dagegen lassen sich leicht kommentieren und eventuelle Konsequenzen für die Autorinnen in den Ursprungstext einarbeiten. Dieser Prozess der ständigen Revidierung und Rejustierung kann - wenn eine entsprechende Software zugrunde liegt - schnell ablaufen, Kommentare, mit denen sich die meisten UserInnen identifizieren auch durch rankings sichtbar gemacht werden.

Social networks wie “facebook.com,” "lastfm.de" oder "citeulike.com" z.B. machen möglich, viele Aspekte der eigenen Identität zu gruppieren und für andere transparent zu machen. Welche Musik man hört oder Bücher und Artikel man gelesen hat etc., kann Hinweise auf die eigene personale Orientierung geben. Damit wird einerseits die Pluralität der Lebensentwürfe gewürdigt, andererseits aber auch der singuläre Ort, in dem diese zusammenlaufen: das Ich-Gefühl. [50] Auf einen Blick sehen zu könnnen, was jemand liest, oder wie die Person Stellung nimmt zu bestimmten Problemen, kann einer Beobachterin mehr über die Integrität und Kohärenz eines Ich - und damit über die potentielle Bedeutung dieses Ich für das eigene Ich - sagen, als die leibliche Begegnung mit dieser Person. [51]


Die personal orientierende Funktion des Internet

Wir konstruieren unsere Identität nicht aus dem nichts heraus, sondern in Auseinandersetzung mit den Identitäten anderer. Die meisten unserer Orientierungen sind wohl im Sozionalisationsprozess angenommen worden und Kontingenzen zu verdanken. Wir verfügen nicht vollständig über unsere Identität, Selbstbilder werden von uns nicht rein rational von bestimmten Prämissen ausgehend konstruiert. [52] Selbst wenn man als Wissenschaftlerin einen streng empirischen Standpunkt einnimmt, ist dieser nicht eins zu eins übertragbar auf das Selbstkonzept, die Identität dieser Person. Denn auch wenn diese Wissenschaftlerin noch nie so etwas wie Wissen oder Erkenntnis als empirisches Phänomen wahrgenommen hat, setzt sie in ihrer Forschung diese - für sie unbeobachtbaren Phänomene - als letzte und höchste Ideale voraus. M.a.W. setzt sie in dem Augenblick, in dem sie empirisch zu forschen beginnt, dass es sinnvoller ist zu Wissen, als im Nichtwissen zu verweilen. Es ist nicht selbstverständlich, sein Leben auf Wissen hin zu orientieren anstatt z.B. an der Suche nach ästhetischem Ausdruck. Es gibt keine allgemeinverbindliche Argumentation, welche eine empirisch orientierte Lebenshaltung als einzig sinnvollen Lebensvollzug ausweisen könnte. Zu einer derartigen Orietierung gelangen wir über Einverleibung der Identitätsentwürfe, welche uns von unserem Umfeld zur Verfügung gestellt, vorgelebt werden. Die wahl für einen Lebensentwurf geschieht insofern nicht auf völlig rationalem Boden, als es keine von den einzelnen Entwürfen unabhängig existierende Beobachtersprache gibt, mittels welcher wir diese thematisieren und über ihre “objektive” Wertigkeit entscheiden könnten. [53] Nur indem wir einen Lebensentwurf von “innen” her kennenlernen, d.h. uns auf die von diesem geforderte Praxis einlassen, bekommen wir eine Orientierung dafür, ob dieser eine zufriedenstellende Haltung darstellt oder ob uns doch etwas darin fehlt. Wohin wir jedoch gehen sollen, ein Sollen unabhängig von diesen Lebenspraxen, ist uns nicht zugänglich.

M.a.W. orientieren wir uns an den Identitätsentwürfen unserer nächsten Bezugspersonen, es fehlt uns ein absoluter Maßstab, an dem unsere Suche nach Lebenssinn orientieren könnten. Unser Ansrpruch liegt nicht darin einen derartigen kultur- und zeitunabhängigen Maßstab zu verteidigen, sondern im Sinne Taylors vorzuschlagen, dass wir gerade durch die Konfrontation mit den Lebensentwürfen anderer unsere eigenen hermeneutisch rejustieren können. Als Motto könnte somit statt “weniger Sozialisation” “so viel Sozialisation wie möglich” lauten. Wobei hier Sozialisation nicht das unhinterfragte Übernehmen von Haltungen meint, sondern ein Annehmen von Dargebotenem darstellt, mit dem Vorbehalt es auch zurückweisen zu können. Uns ist personale Orientierung wichtig, doch dafür müssen Orientierungen zunächst artikuliert werden. Ähnlich argumentiert Marotzki im Zusammenhang mit dem populären Computerspiel Lara Croft. Ihm zufolge lässt sich dessen Erfolg nicht auf die archaischen Konturen der Hauptfigur reduzieren. Spielerinnen scheinen auch Interesse an Laras Lebensgeschichte zu zeigen, sich stark an der Konstruktion von großen Mythen und Narrationen ihrer Identität zu beteiligen. Fehlen Menschen derartige Entwürfe und Mythen, argumentiert Marotzki, werden sie solche erschaffen. [54]


Kritik: Wegfallen von "commitment" sowie Oberflächlichkeit der Identitätsentwürfe

An dieser Stelle ist kritisch zu hinterfragen, inwiefern, mit Taylor gesprochen, die “Tiefe” der eigenen Identität im Kontext derartiger Identitätspräsentationen ergründet wird. Während wir feststellten, dass das Medium Internet gut geeignet ist Identität zu artikulieren, deren Kohärenz in einzelne Identitätsaspekte aufzufächern sowie sich an den Identitätsentwürfen anderer zu orientieren, bleibt die Frage offen, wie viel der eigenen Identität derartige “snapshots” des Bewusstseins festhalten.

Einerseits sind die Auswahlmöglichkeiten in diversen Rollenspielen vorgegeben. So kann man als Mann z.B. eine Frauenrolle wählen. [55] Doch wie tief wandelt oder artikuliert ein derartiger Zug unser Selbstverständnis? Erfährt man dadurch tatsälich den Identitätsaspekt des "Frau-Seins," indem man sich als Avatar durch eine virtuelle Welt bewegt und Kleider anprobiert, die man sich im realen Leben nicht leisten kann oder trauen würde zu tragen? Ist m.a.W. jedes Rollenspiel schon Identitätsarbeit? Wir verneinen dies, weil Identitätsarbeit bedeuten würde, eine Vielfalt struktural verschiedener Identitätsformen “anzuprobieren,” Kleiderwechsel jedoch ist keine Auseinandersetzung mit Identität sondern das Ausleben ein und der selben Identität: eine, welche über die virtuelle Präsentation des Körpers definiert wird. Auch könnte man der Frage nachgehen, ob ausführliche Identitätsentwürfe, welche notwendig in große Textmengen resultieren, am Bildschirm ebenso leicht nachvollzogen werden können, wie in einem Buch. Die Vorstellung, z.B. Taylors eigene große Erählung, “Quellen des Selbst,” als online-Text zu lesen oder deren Identitätsentwürfe auf andere Weise zu virtualisieren, fällt schwer.

Sumara z.B. hebt die besondere Bedeutung von “literary experience” für die Bewusstseinsbildung hervor. In der Leseerfahrung lernt das Bewusstsein andere Bewusstseine hermeneutisch zu verstehen, erweitert “mind-reading ability.” [56] Die damit gesteigerte Fähigkeit eigenes Bewusstsein zu thematisieren, sowie an dessen Kohärenz in narrativen Entwürfen zu arbeiten, [57] ist für Sumara Grund genug für eingehende Textlektüre an den Schulen zu plädieren. Deren Ziel ist dabei hermeneutischer Tiefgang, das Offenlegen alternativer Verständnisse eines Textes sowie das Aufweisen des hineinlegens eigenen Bewusstseins in einen Text. [58] Interessant dabei ist aber, dass sich nicht jeder Text für derartiges Vorgehen anbietet. Sumara zieht primär literarische Klassiker heran und in unserem Argumentationszusammenhang bleibt die Frage offen, ob die Identitätsentwürfe eines Dostojewski sich überhaupt in blog-Form, online-Text oder virtuellem Spiel fassen lassen.

Eine andere Frage ist ob die Unverbindlichkeit der Interaktion über Internet nicht ein wesentliches Moment für Tiefgang ausspart: commitment. Dreyfus argumentiert, dass virtueller Kommunikation im Gegensatz zur leiblichen Präsenz eine Form des commitment dem anderen gegenüber verloren geht. Commitment jedoch ist ihm zufolge notwendige Bedingung für Tiefgang - von ihm genannt “mastery” - in einer bestimmten Lebenspraxis. [59] Gilt das nicht auch für die Artikulation von Identität und die damit verbundene Bildungsarbeit? Bildungsarbeit ist anstrengend, ebenso wie jede Form des commitments an eine Lebenspraxis mit Verzicht und Anstrengung verbunden ist. Bildungsarbeit muss getan werden und überkommt ein passives Selbst genausowenig wie die Fähigkeit Kant zu verstehen. Bildung und Verstehen können zwar nicht erzwungen werden, entziehen sich ebenso wie das Lernen letztlich unserer Verfügung. [60] Nichtsdestotrotz jedoch sind es wir, die als Iche Rahmenbedingungen schaffen müssen, die derartige Prozesse erst möglich machen. Mehr können wir nicht tun. Wenn man sich nicht konsequenz hinsetzt und Kant studiert, “passiert” das Verstehen nicht von selbst. Ebenso Bildungsprozesse, ohne ein involviertes Ich, welches sich selbst thematisiert, kann Bildung in dem von uns gebrauchten Sinne nicht statthaben.


Implikationen der Kritik für die Entwicklung neuer bildungsfördernder Software

Bisher haben wir argumentiert, dass Internet einen unverbindlich betretbaren Raum zur Identitätsartikulation zur Verfügung stellt. Andererseits ermöglicht dessen Funktion als Meta-Medium, welches andere Medien simulieren sowie organisieren kann, Identität in diverse Mediensätze aufzufächern (wie am Beispiel von social software a la “facebook.com”). Identität wird dabei in “multiple-drafts” und kritisierbare Einzelpositionen zerlegt, die in einem kohärenten Rahmen zusammenlaufen.

Gerade die Unverbindlichkeit der Interaktionen über Internet hat sich auch als potenzieller Nachteil erwiesen. Im realen Leben ist uns nicht immer danach, in die Arbeit zu gehen, uns auf eine Prüfung vorzubereiten oder für ein Konzert zu üben. Dennoch, gerade über commitments machen wir Fortschritte. In bestimmten Rahmensituationen gibt es commitments auch über das Internet. Eine Prüfungsstiuation oder ein Kursbesuch können auch online abgewickelt werden. Eine commitment-Funktion bei blogs allerdings, die z.B. bei Nichteinhalten eines selbstgesetzten Zieles, weiteres blogging unmöglich macht, ist uns soweit nicht bekannt. Derartige freiwillige Selbstverpflichtungen, wie sie im alltäglichen Leben selbstverständlich sind - z.B. für einen Kurs zu bezahlen und diesen tatsächlich auch zu besuchen -, könnten auch auf das Internet übertragen werden und v.a. im Zusammenhang der Artikulation eigener Identität bildungsförderlich sein.

Weiters stellte sich uns die Frage, ob Software darauf strukturiert ist, Kernmomente der eigenen Identität zu fokussieren. D.h. wir haben überlegt, ob Identitätspiele in MUDs z.B. tatsächlich Identität in ein reflexives Verhältnis bringen oder nicht vielmehr eine bestimmte durch das Programm vorgegebene Form der Identität in verschiedenen Varianten durchgespielt wird. Kann man z.B. die tatsächliche Lebenspraxis des Mönchsdaseins interiorisieren, indem man einen Avatar im Mönchsgewand wählt? M.a.W. steht nicht Identitätsarbeit im Mittelpunkt derartiger uns bekannter Software, sondern das Spiel mit von der Software vorgegebenen Identitätskonzeption.

Hier könnte man z.B. Software entwickeln, welche z.B. in explizit in den Mittelpunkt stellt, die Angelpunkte eigener Identität zu Artikulieren. Unter einem Menüpunkt genannt z.B. “Kerninjunktionen” könnte Raum geschaffen werden dafür, in bündigen Injunktionen die eigene Selbst- und Weltaufordnung zu rekonstruieren. Injunktionen sind eine Art Experimente im weitesten Sinn. Eine Partitur z.B. kann eine Injunktion sein. Es handelt sich dabei um Kochrezepten ähnliche Handlungs- oder Denkanweisungen, die, werden sie befolgt, konkrete Bewusstseinserfahrung auslösen. Befolgt man die Anweisungen der Partitur, erhält z.B. eine musikalische Bewusstseinserfahrung. [61] Bekannte derartige kognitive Injunktionen sind z.B. das Cartesische cogito-Experiment (versuche an deinem cogitare selbst zu zweifeln…) oder Leibniz’ Mühlenmetapher (stelle dir das Gehirn ausgedehnt wie eine Mühle vor, so fändest du darin allerlei Hebel und Radwerk, jedoch keine Gedanken).

Identität hängt letztlich an Kerninjunktionen. Kerninjunktionen unterscheiden sich von Injunktionen allgemeiner Art, indem sie unmittelbar Konsequenzen für ein Selbstverständnis oder Selbstbild haben. Die beiden oben genannten Injunktionen sind derartiger Natur. Vollzieht man sie, haben sie Konsequenz darauf, wie man sich als Ich erfährt. Im Kontext von Descartes, erfährt man sich als Bewusstsein, welches sich selbst als Bewusstsein nicht leugnen kann. Bei Leibniz wird dem Ich bewusst, dass es sich - insofern es ein denkendes Ich ist - nicht im Gehirn wiederfinden kann, denn was auch immer wir im Gehirn finden, Gedanken als Gedanken sind es nicht. Kerninjunktionen stehen somit unmittelbar in Beziehung zu einem Ich als Bewusstsein. Ob es sich bei einer Injunktion um eine Kerninjunktion handelt, lässt sich nicht methodisch gesichert beantworten, sondern nur heuristisch-phänomenologisch, d.h. jedes die Injunktion nachvollziehende Bewusstsein ist selbst gezwungen für sich nachzuprüfen, ob es durch die Injunktion auf sein Selbstbild zurückgeführt wird oder nicht.


Schluss

Wir waren von der Frage nach der Struktur des Ich ausgegangen und hatten festgestellt, dass sich das Ich aus erster-Person-Perspektive als Bewusstseinsraum zeigt. Das Ich ist kein spezifischer Bewusstseinsinhalt, sondern die alle Bewusstseinsinhalte begleitende Seinserfahrung. M.a.W. sind Qualia oder Bewusstseinsinhalte nicht disparate, aufeinander folgende Phänomene, ähnlich einzelnen Strömungen in einem Fluss, sondern stets begleitet von einem singulären Gefühl der “Meinigkeit.” Singulär deshalb, weil es nur ein “Bewusstseinszentrum” gibt, wenn jemand Schmerz erfährt, ist es nur ein Bewusstseinszentrum, das den Schmerz erfährt, dieser ist kein gemeinsames Gut. Es gibt nur einen, sich mit diesem bestimmten Schmerz Identifizierenden. Wir können somit von Bewusstseinsinhalten nicht dinganalog reden. Denn materielle Substrate haben weder einen Modus der “Meinigkeit” - d.h. die Frage “wie es ist,” ein Stein zu sein scheint sinnlos -, sowie haben sie keinen intrinsisch singulären ontologischen Status. D.h. die “Einheit” oder Singularität ist nicht dem “Steinsein” intrinsisch, sondern wird von außen zugesprochen. Was einem Bewusstsein als “Einheit” erscheint, sieht eine Mineralologin als “Vielheit.” [62] Die “Einheit” des Ich dagegen ist intrinsich und fühlt sich für dieses partikuläre Ich als das Gefühl “jemand bestimmter” zu sein an, für Beobachter dagegen zeigt sich diese Einheit in der Kohärenz der Handlungen des Ich als auch vom Ich beschriebenen Bewusstseinsinhalte.

Mit Taylor stellten wir fest, dass das spezifisch menschliche Ich als Problemraum verstanden werden kann, d.h. als ein Raum von Problemen, zu denen man Stellung nimmt, sich mit diesen identifiziert. Somit macht es für das Ich einen Unterschied, ob es ein Problem lösen kann oder nicht. “Unterschied machen” ist hierbei nicht metaphorisch zu verstehen, wie im Kontext “es macht einen Unterschied für das Auto, ob es entsprechend gepflegt wird,” sondern soll darauf hinweisen, dass es ein Ich gibt, welches um seine eigene Existenz Sorge trägt, d.h. welches als Bewusstsein die Existenz der Auslöschung vorzieht. “Vorziehen” oder “einen Unterschied machen für jemanden” sind Vollzüge des Bewusstseins, welche kein Equivalent finden in einer reinen Substratwelt. Ein Ich zu sein, könnten wir mit Taylor sagen, bedeutet sich immer schon in einem Feld qualitativer Unterscheidungen zu befinden, in einer Ausrichtung auf das “Gute.” Im Falle tierischen Bewusstseins stellten wir fest, dass dieses “Gute” dem Tier als Präferenz gegeben ist. Menschliches Bewusstsein vollzieht zudem zu diesen Wertungen auch starke Wertungen, d.h. hinterfragt bestimmte Präferenzen ob ihrer “desirability.” Oft kommt es dabei vor, dass menschliches Bewusstsein in existenzielle Konflikte gerät, seine Ausrichtung auf das Gute sich in einander widersprechende Werthaltungen verliert, es verliert seine Kohärenz. In diesem Zusammenhang spricht man von existenziellen Krisen, in welchen das Ich sich selbst als auf ein Gutes Orientiertes verliert. Die Orientierung auf das Gute zu verlieren bedeutet, seine Identität zu verlieren. Dabei unterschieden wir zwischen Identität erster und zweiter Ordnung. Letzte muss als Selbstbild entworfen und konstruiert werden, die erste dagegen ist uns mit den Tieren gemeinsam und vorgegeben.

Die Orientierung auf das Gute, d.h. auch auf die letzten Ziele des Ichs, nannten wir personales Orientierungswissen. Dieses liegt nicht vor, in Form empirischen Wissens über Sachzusammenhänge, sondern als narrativer Entwurf dessen, wie es ist ein bestimmtes Ich - nämlich “Ich” - zu sein. Am eigenen personalen Orientierungswissen kann das Ich durch Artikulation arbeiten. Diese hermeneutische, d.h. selbstverstehende Versprachlichung des Ich sofern es Bewusstsein ist, nannten wir Bildung. Mit Marotzki könnte man auch von der Transformation von Weltaufordnung und Selbstaufordnung sprechen, oder verändertem Verhältnis zu Selbst, Anderen und Welt. Die Leitfrage unserer Arbeit war, inwiefern sich das Internet anbietet, um personales Orientierungswissen zu vermitteln und damit bildungsfördernd sein kann.

Wir stellten fest, dass das Internet mindestens zwei bildungsfördernde Potentiale in sich trägt: es kann artikulationsfördernd sowie kohärenzfördernd sein. Es eröffnet einen unverbindlich und leicht betretbaren Artikulationsraum für Identitäten. In der Artikulation seiner Werthaltungen tritt das Ich in Beziehung zu sich. Es bekommt sich nicht als Ich schlchthin zu fassen, wird sich reines Objekt, dennoch kann es Aspekte seiner selbst objektivieren, d.h. thematisieren. Weiters ermöglicht die Auffächerung der Identität in Einzelstellungnahmen an der Gesamtkohärenz des Ich zu arbeiten, durch Differenzierung einzelner Werthaltungen. In der öffentlichen Artikulation seines Selbstentwurfs kann das Ich somit anderen Ichen dienen, sich zu orientieren und konstruieren.

Diese zwei potentiell bildungsfördernen Funktionen des Internet wurden letzlich von uns jedoch stark relativiert. Einerseits sahen wir die Unverbindlichkeit der Artikulation über das Internet auch als Hindernis für Bildungsarbeit, welche auf commitment angewiesen ist. Andererseits stellten wir fest, dass die Tiefe der Identitätspräsentation im Internet bald auf struktural bedingte Grenzen stößt. Virtuelles Identitätsspiel richtet sich nach vorgegebenen Identitätsentwürfen, die meist recht “oberflächlich” bleiben, nachdem “tiefe” Identitätsentwürfe von Vornherein schwer in kurzen und prägnanten Symbolen artikulierbar und z.B. auf das Medium Buch angewiesen sind.

Bildungsarbeit kann somit über das Internet unterstützt werden, nicht aber das Medium Buch ersetzen. Die Orientierungsfunktion des Internet über die eigene Identitätskonzeption scheint von keinem anderen Medium übertroffen. Im Appendix wollen wir dies an einem Beispiel illustrieren. Wie man commitment virtuell simulieren könnte wäre von Softwareentwicklerinnen zu überlegen, sowie ob die Strukturierung persönlicher Artikulationsräume nach “Kerninjunktionen” nicht hilfreich sein könnte, den Fokus der Artikulation schon durch die Programmstruktur in Richtung eigener Identität auszurichten.


Appendix. Identitäts- und damit Bildungsarbeit am Beispiel der universitären Lehre

Über welche Funktionen eine Internetplattform im Zusammenhang universitärer Lehre, welche Bildungsarbeit im Sinne des oben ausgeführen Bildungsbegriffs zum Ziel hat, verfügen sollte, wird im Folgenden heuristisch umrissen. Es handelt sich dabei um konstruktive Handlunsvorschläge, deren tatsächliche Korrelation in Zusammenhang mit Bildungsarbeit gefasst als Transparentmachung des Selbstentwurfs, a posteriori hermeneutisch überprüft werden könnte. Die Vorschläge werden von dem oben dargelegten Identitätsbegriff abgeleitet.

Folgende Vorschläge drehen sich um den Mittepunkt, den Studentinnen einen möglichst weiten Artikulationsraum zur Verfügung zu stellen. Dabei wird individuelles und damit auch kollektives Problembewusstsein transparent gemacht. Die Vorschläge sind nicht auf personales Orientierungswissen eingeschränkt, sondern können auch dazu dienlich sein, innerdisziplinäres Orientierungswissen zu organisieren.

a. Ein eigener blogspace. Um Stellungnahmen zu Reaktionen auf partikuläre Haltungen zu ermöglichen, sollten blog-Einträge kommentierbar sein sowie einzelne Blog-Einträge leicht kategorisierbar sein mit Hilfe von tags. Studentinnen könnten die blogs nutzen um ein Forschungstagebuch zu erstellen, systematisch an ihrem Problembewusstsein arbeiten, sowie rhapsodische Einfälle und Fragen festhalten. Von Beginn ihres Studiums an, könnten sie dazu angeregt werden, ihr hermeneutisches Problemverständnis zu artikulieren und ständig daran zu arbeiten. Das Verfassen erster Seminararbeiten - welche auch als blog-Einträge veröffentlicht werden könnten wie am Beispiel des “philo.at/wiki” - wäre nicht der erste Sprung ins kalte Wasser der Reflexion und Artikulation, sondern diesem gingen Schreibphasen voraus, in denen Studentinnen die Möglichkeit haben, dumme Fragen zu stellen und unausgegorene Gedanken zu formulieren. Weder in den Vorlesungseinheiten ist dafür Raum - diese stehen immer schon unter dem Anspruch, dass etwas zu wissen besser ist, als es nicht zu wissen; eine öffentliche Stellungnahme zum eigenen Nichtwissen würde damit eine starke Identität fordern -, noch in den Seminararbeiten - diese sollen ja schließlich bereits möglichst sauber argumentiert sein und wissenschaftlichen Kriterien entsprechen, von Subjektivität gereinigt sein. Derartigen “sauberen” Endprodukten geht jedoch eine Phase der rhapsodischen experimentellen Entwürfe, großen spekulativen Narrationen voraus, werden diese nun artikuliert oder nicht. M.a.W. entsteht eine wissenschaftliche Positionierung nicht aus dem nichts, sondern aus einem Weltbild, welches bestimmte Fragen in den Vordergrund rückt. Schafft man keinen Artikulationsraum für derartige vorwissenschaftliche Haltungen, werden damit nicht große Erzählungen umgangen, sondern bleiben unausgewiesen und im Hintergrund. Endprodukte sind dann Arbeiten, die im Versuch sich zu fokussuieren die philosophische Rahmung nicht thematisieren und für Theoriemodelle vorgängige große Begriffe wie “Subjekt,” “Freiheit” oder “Wissen” überhaupt nicht explizit thematisieren. Nicht, weil die Verfasserinnen keinen Begriff von Freiheit oder Subjekt hätten, sondern weil sie - vor der Unmöglichkeit stehend, diese Begriffe befriedigend zu klären - vorziehen gar nichts, anstatt Weniges und Unausgegorenes dazu zu schreiben.

b. Eine Literaturdatenbank ähnlich “librarything.com.” Die Studentinnen könnten diese nutzen um ihre Literatur zu verwalten, man bräuchte den Umgang mit konstenpflichtigen Tools wie EndNote gar nicht erst zu lernen, sondern könnte die selbst verwendete Literatur organisieren und Bibliographien für Abschlussarbeiten erstellen. Was man bereits gelesen hat oder noch lesen will anderen einsichtig zu machen könnte Interessensorientierung vereinfachen. Studentinnen könnten sich auch zusammenschließen um schwere Brocken z.B. gemeinsam zu lesen und - virtuell oder leiblich - zu diskutieren. Man könnte einem biblioraphischen Eintrag eigene Abstracts oder Exzerpte anfügen oder auch Kernzitate. Ruft man einen Eintrag auf, wären somit auf einen Klick Abstracts, Notizen, weiterführende Literatur und Diskussionen diverser Studienkolleginnen und Professoreninnen oder gar Verweise auf Lehrveranstaltungen, Lehrmaterial oder aufgezeichnete Vorlesungen und Seminare verfügbar. Gehaltene Lehrveranstaltungen würden so weiterwirken auf zuküntige Lehrveranstaltungen zum Thema. Auf einen Klick wäre ersichtlich, welche Werke am Institut häufig diskutiert oder empfohlen werden. Damit könnte man den Diskursschwerpunkt einschätzen, ehe man zu Fachpublikationen gegriffen hat. Auch Lehrpersonen könnten ihre personale Orietierung artikulieren. Die Literaturdatenbank verwendend so z.B. ihre Lieblingswerke markieren, Erkenntnisinteressen ausweisen oder für Studentinnen wichtige Spuren zu Interpretation und Hauptaussagen dieser Werke hinterlassen, zu denen auch Kolleginnen oder auch interessierte Studentinnen Stellung nehmen könnten. Dadurch wird immer schon vorhandene Identität transparent und für Studentinnen leichter nachvollziehbar, ob die jeweilige Lehrperson in ihrer eigenen Identitätssuche Orientierung sein kann oder nicht. Wissen wird somit personalisiert, an Identitäten gebunden, welche zu diesem Stellung nehmen und für die es von bestimmtem Erkenntnisinteresse ist. Es würden damit nicht vorwissenschaftliche oder wissenschaftliche “Standards” kreiert, an denen sich Studentinnen orientieren müssen, sondern bereits vorhandene Standards ausgewiesen. Gerade die Geistes- und Kulturwissenschaften, wollen sie Geist als Geist, d.h. Bewusstsein als Bewusstsein thematisieren, können auf einen modus ad hominem nicht verzichten. Erkenntnisinteressen und große Erzählungen sind Identitätsgebunden, eine Lebenspraxis und werden somit nicht erst geschaffen sondern ans Tageslicht gebracht und damit öffentlich nachvollziehbar und kritisierbar. Erkenntnisinteressen ausuzuweisen, Stellung zu nehmen bezüglich der eigenen Identität, das ist Bildungsarbeit. Große Erzählungen zu konstruieren, in denen partikulare Erzählungen immer schon eingebettet sind, das ist Bildungsarbeit, ist Philosophieren.

c. Ein personalisiertes Lexikon und Wörterbuch. Diese könnten dazu dienen, Fachbegriffe zu recherieren und die Definitionen anderer Kolleginnen oder diverser Fachlexika einzusehen. Fachbegriffe würden anhand verschiedenster Quellen erschlossen sowie Kommentare zu bestimmten Definitionen anderer Kolleginnen wären ersichtlich. Um sich über einen Begriff zu orientieren würde ein kurzer Blick in die Datenbank genügen, detaillierte Ausarbeitungen von Fachterminini könnten als Bonuspunkt für Prüfungen angerechnet werden. Auch hier hätte man einen Überblick über besonders häufig recherchierte Stichworte, diese könnten einen ersten Einstieg in ein selbstgewählt vertieftes Verständnis zu einem Thema erlauben. Studienbeginnerinnen könnten sich mit Hilfe der Orientierung an fortgeschrittenen Studentinnen und Lehrpersonen orientieren. Noch in der ersten Studienwoche könnte man sich über zwar oberflächliche aber dennoch orientierende Definitionen zum Unterschied zwischen Heideggerscher und Husserlscher Phänomenologie informieren oder einsehen, welche Lehrpersonen zu welchen Themen viel geforscht haben und in welche Richtung ihre Auslegung geht.

d. Eine Injunktionsdatenbank. Diese würde am Institut häufig geäußerte Experimente (empirische wie geistige) organisieren. Zwar lässt sich jede Injunktion auch auf das Lexikon und Wörterbuch verlinken, doch nicht jeder Lexikoneintrag ist eine Injunktion. Bekannte mentale Injunktionen sind z.B. Searles “Chinese Room” Argument, das Cartesische cogito-sum, ein empirisches dagegen z.B. der “Rouge-Test.” Hierbei handelt es sich nicht nur um Kerninjunktionen, die ein disziplinäres Feld auf den Punkt bringen, sondern um personale Kerninjunktionen, an denen die eigene Selbst- und Weltaufordnung hängt. Kerninjunktionen würden einen Überblick über konstitutive Argumente oder empirische Befunde einer Fachrichtung geben, sowie personale Kerninjunktionen über die personale, d.h. philosophische Ausrichtung der einzelnen Wissenschafterinnen, sofern sie Identitäten sind.


Referenzen:

[1] Taylor 1996, 208 [2] Searle 1992, 83 [3] Searle 1992, 20 [4] Dies ist eine entstellte Version des “Mary Argument” von Frank Jackson. Siehe Jackson 1986 [5] Searle 1992, 95 [6] Nagel 1994 [7] Searle 1992, 72 [8] Um Missverständnissen vorzubeugen sei angemerkt, dass wir Bewusstsein in sehr weitem Sinne fassen. Diese Bewusstseinsdefinition umfasst alle qualitativen Bewusstseinsinhalte, seien es die selbstbezüglichen Gedanken eines Menschen, die frühe Symbolbildung bei Affen, das Schmerzempfinden eines Hundes oder die Seherfahrung einer Schlange. In all diesen Beispielen “geschieht” nicht einfach nur ein Feuern in einem Gehirn sondern zugleich “existiert” eine Seh-, Schmerz- und Denkerfahrung. Deshalb sprechen wir von erstperonaler Ontologie. [9] Ein Ausdruck geprägt von William James [10] Searle 1992, 130 [11] Joas 1999, 31 [12] Joas 1999, 204 [13] Laitinen 2003, 20f; Taylor 1985, 16 [14] Joas 1999, 202 [15] Taylor 1996, 68 [16] Taylor 1985, 53 [17] Taylor 1996, 56 [18] Taylor 1996, 68 [19] Wilber 1999, 466 [20] Taylor 1996, 103 [21] Taylor 1985, 71 [22] Rosa 1998, 63 [23] Marotzki 1990, 41 [24] Marotzki 1990, 50 [25] Marotzki 1990, 1f; Mitteltrass 1997, 45f [26] Z.B. “warum heilen Knochenbrüche?” - eine durchaus interessante, aber keine philosophische Frage. [27] Marotzki 1990, 154 [28] für eine Zusammenfassung der Kernmerkmale des Gespenstes “Postmoderne” siehe Marotzki 1993, 54. Marotzki selbst ist kein explizit postmoderner Denker, aus diesem Grund ist es nicht legitim, seine Darstellung der Postmoderne mit der Eigendarstellung der Postmoderne zu identifizieren. [29] Schnädelbach äußert dies im Zusammenhang mit der Frage, ob Sprachspiele unser Bewusstsein immer determinieren und diesem vorausgehen, oder das Bewusstsein nicht neue Sprachspiele kreieren kann. Siehe Schnädelbach 2000 [30] Taylor 1996, 97 [31] Wodurh aber ihr Selbstanspruch negiert wird, denn die Werthaltungen selbst behaupten ja gerade, dass sie nicht gleich gut sind, wie die Alternativen. [32] Und wie bereits angedeutet, stellt sich die Frage, ob die Haltung, Identität dekonstruieren zu wollen, nicht selbst eine Identität zweiter Ordnung darstellt. [33] Parfit 1986 [34] Joas 1999, 205 [35] Taylor 1995, 231 [36] Joas 1999, 249 [37] Taylor 1992, 66 [38] Diese Konstuktion mag umständlich scheinen, warum sprechen wir nicht von Zeichen oder materiellen Substraten, welchen Bedeutung zugeschrieben wird? Weil ein materielles Substrat nicht schon ein Zeichen ist. Die Gegenbenheitsweise eines Substrats im Bewusstsein dient als Bedeutungsträger, nicht das Substrat selbst. So hatten die Griechen sicher ein anderes Konzept des Substrates "Baum." Dennoch war deren "Baumerfahrung" - das Rauhegefühl, die Seherfahrung eines braunen “etwas,” die Erfahrung was hineinritzen zu können etc. - mit unserer großteils identisch. Diese Gegebenheitsweise des Substrates "Baum" diente ihnen als Zeichenträger, nicht das Substrat als Substrat. [39] siehe dagegen Swertz 2004, 68 [40] Searle 1992, 211 [41] Wie wäre sonst die Kohärenz unserer Erfahrungen zu erklären? Gerade an dieser graduellen Kohärenz zwischen unseren Erwartungen und den Erscheinungen machen wir ja auch Missverstehen fest. D.h. wenn der Ablauf der Erscheinungen vor unserem Bewusstsein nicht unseren Erwartungen entspricht, das Gegenüber z.B. nicht tut, was wir in der Situation erwarten würden, schließen wir daraus, dass entweder wir das Gegenüber missverstanden haben, oder das Gegenüber unsere Erwartungen. [42] Prange 2005, 92 [43] Marotzki 2004 [44] Turkle 1997, 72 [45] Turkle 1997, 78 [46] Turkle 1997, 78. [47] Für die Bedeutung der Anerkennung von Identität für Identitätsbildung, siehe Bauer 2003, 218 [48] Kant Kr.d.p.V., B15f [49] Marotzki 1990, 40 [50] Turkle 1997, 79 [51] Burbules 2002, 392 [52] Laitinen 2003, 128 [53] Taylor 1995, 61ff [54] Marotzki 2004, 377 [55] Turkle 1997, 72 [56] Sumara 2008, 229 [57] Sumara 2008, 231 [58] Sumara 2008, 238f [59] Dreyfus 2000, 20f [60] Prange 2005, 90 [61] Wilber 1999, 181ff [62] Taylor 1996, 99

Literaturliste

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